Leitsatz (amtlich)
Wer einem widerrechtlich angegriffenen Bediensteten eines öffentlichen Verkehrsunternehmens Hilfe leistet (RVO § 537 Nr 5 Buchst c), ist nicht auch nach RVO § 537 Nr 10 versichert, wenn die Hilfeleistung keine Tätigkeit darstellt, die ihrer Art nach üblicherweise sonst im Rahmen eines versicherten Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des RVO § 537 Nr 1 verrichtet wird.
Normenkette
RVO § 537 Nr. 5 Buchst. c Fassung: 1942-08-20, Nr. 10 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Dezember 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
In der Nacht zum 22. September 1957 wurde der Straßenbahnschaffner eines rangierenden Straßenbahnzuges in F... tätlich angegriffen. Der Schaffner hatte die Vorbeifahrt des Straßenbahnzuges an parkenden Kraftwagen zu sichern und dabei einen PKW-Fahrer gebeten, die offen stehende Türe seines Kraftwagens zu schließen. Hierüber erregte sich der PKW-Fahrer, folgte schimpfend dem Schaffner auf den Straßenbahnwagen und würgte ihn dort am Halse. Der Führer des Straßenbahnzuges versuchte vergeblich, den Angreifer abzuwehren. Diesen Vorgang beobachtete im zufälligen Vorbeigehen der Beigeladene S.... Er eilte dem bedrängten Schaffner zu Hilfe und überwältigte den Angreifer. Dabei versetzte ihm dieser einen Fußtritt gegen das linke Knie und verletzte ihn dadurch schwer.
Die wegen der Entschädigungsleistung in Anspruch genommene Berufsgenossenschaft für Straßen-, Privat- und Kleinbahnen wendet dem Verletzten gemäß § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorläufige Fürsorge durch die Gewährung einer Rente zu. Sie ist der Ansicht, daß der Unfall bei einer Hilfeleistung im Sinne des § 537 Nr. 5 c RVO eingetreten und daher das Land als der nach § 627 Abs. 1 RVO zuständige Versicherungsträger zur Entschädigungsleistung verpflichtet sei. Demzufolge hat sie der Hessischen Ausführungsbehörde für Unfallversicherung die Unterlagen mit der Aufforderung zur Anerkennung der Entschädigungspflicht übersandt. Die Hessische Ausführungsbehörde lehnte mit Schreiben vom 28. Januar 1958 die Übernahme der Entschädigungspflicht mit der Begründung ab, durch die zum Unfall führende Hilfeleistung sei zwar der Tatbestand des § 537 Nr. 5 c RVO erfüllt, ebenso aber auch der Versicherungsschutz durch Nr. 10 dieser Vorschrift gegeben, weil der Verletzte sich wie ein Bediensteter der Straßenbahn verhalten habe.
Die Klägerin hat daraufhin gegen das Land Hessen Klage erhoben und beantragt, festzustellen, daß der Beklagte für die Entschädigung des Beigeladenen zuständig sei. Sie hält für ausschlaggebend, daß der Verletzte lediglich einem bedrängten Menschen habe helfen wollen. Das Sozialgericht (SG). Hamburg hat durch Urteil vom 30. Januar 1959 festgestellt, daß der Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls zuständige Versicherungsträger sei. Es ist der Ansicht, der Verletzte sei aus menschlichen Gründen einem plötzlich in Not Geratenen zu Hilfe geeilt und habe deshalb keine Tätigkeit verrichtet, die üblicherweise bezahlten und rechtlich verpflichteten Arbeitskräften zufalle; Ordnung und Funktionsmöglichkeit des Straßenbahnbetriebes hätten erst durch polizeiliches Eingreifen wiederhergestellt werden können.
Die hiergegen fristgerecht eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) nach Beiladung des Verletzten S... zum Verfahren durch Urteil vom 22. Dezember 1959 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Beigeladene habe bei seiner Hilfeleistung für den Straßenbahnschaffner unter Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 5 c RVO gestanden. Daraus ergebe sich die Entschädigungspflicht des Beklagten. Sie sei gegeben, ohne daß es der Prüfung bedürfe, ob der Versicherungsschutz des Verletzten auch aus § 537 Nr. 10 begründet ist; denn diese Vorschrift greife nur Platz, wenn nicht schon Versicherungsschutz auf Grund der Nr. 1 bis 9 des § 537 RVO bestehe. § 537 Nr. 5c RVO habe nicht nur ergänzende Bedeutung gegenüber Nr. 10 dieser Vorschrift. Überdies sei aber überhaupt kein Anwendungsfall der Nr. 10 gegeben, da das Verhalten des Verletzten nicht geeignet sei, den inneren Zusammenhang mit dem Unternehmen der Straßenbahn zu begründen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 28. Januar 1960 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. Februar 1960 Revision eingelegt und sie gleichzeitig wie folgt begründet: Das LSG habe verkannt, daß § 537 Nr. 5 c RVO auf den vorliegenden Fall nur zum Zuge komme, wenn sich der Versicherungsschutz des Verletzten nicht auch aus Nr. 10 dieser Vorschrift ergebe. Nach dem Unfallgeschehen sei der Versicherungsschutz des Verletzten jedoch entgegen der Auffassung des LSG auch aus § 537 Nr. 10 RVO herzuleiten. Deshalb sei die Klägerin für die Entschädigungspflicht aus Anlaß des Unfalls zuständig.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Der Senat hatte zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Klage zulässig war. Wäre sie unzulässig gewesen, müßte dies ohne Prüfung des sachlich-rechtlichen Klagevorbringens zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Abweisung der Klage führen, da sonst das Revisionsverfahren einer entscheidenden Grundlage entbehrt (BSG 2, 225). Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen indessen keine rechtlichen Bedenken. Die auf Grund des § 55 Abs. 1 SGG erhobene Klage ist im Anschluß an das nach § 1735 RVO durchgeführte Verfahren auf die Feststellung gerichtet, welcher der beiden in Frage kommenden Versicherungsträger für die Entschädigungsleistungen an den Beigeladenen zuständig sei. Bei einem solchen Verfahren ist das für die Zulässigkeit der Feststellungsklage erforderliche berechtigte Interesse ohne weiteres gegeben; denn der Klageweg nach § 55 SGG ist mit der Aufhebung der §§ 1736 ff RVO durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG an die Stelle des früheren Spruchverfahrens getreten.
Der Auffassung des LSG, der Beklagte sei aus Anlaß des Unfalls, der den Beigeladenen am 22. September 1957 betroffen hat, entschädigungspflichtig, ist der erkennende Senat im Ergebnis beigetreten. Der Beigeladene hat dem von dem PKW-Fahrer widerrechtlich angegriffenen Straßenbahnschaffner Beistand geleistet. Bei dieser zum Unfall führenden Tätigkeit stand er, wie auch die Revision nicht in Zweifel zieht, unter Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 5 c RVO. Dies hat zur Folge, daß nach § 627 Abs. 1 RVO für den Unfall des Verletzten vom 22. September 1957 Träger der Versicherung das beklagte Land ist. Die abweichende Meinung der Revision, daß für den Unfall die Klägerin einzustehen habe, weil der Beigeladene bei der Hilfeleistung gleichzeitig wie ein Bediensteter des Straßenbahnbetriebes tätig geworden und daher nicht nur nach § 537 Nr. 5 c RVO, sondern auch nach Nr. 10 dieser Vorschrift versichert gewesen sei, hält der erkennende Senat nicht für zutreffend. Er ist der Auffassung, daß die Voraussetzungen des Versicherungsschutzes nach § 537 Nr. 10 RVO nicht gegeben sind. Die Frage, ob diese Vorschrift im vorliegenden Fall anwendbar ist, hat das LSG mit Recht unter dem Gesichtspunkt der Verbindung von Nr. 10 mit Nr. 1 des § 537 RVO geprüft. Nach § 537 Nr. 10 RVO in Verbindung mit Nr. 1 dieser Vorschrift ist gegen Arbeitsunfall versichert, wer zwar nicht auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses beschäftigt ist, aber wie ein solcher Beschäftigter, sei es auch nur vorübergehend, tätig wird. Hierbei kommt es nach den in BSG 5, 168 ff und SozR RVO § 537 Bl. Aa 15 Nr. 16 veröffentlichten Urteilen des erkennenden Senats vom 28. Mai 1957 und 22. April 1959 darauf an, daß es sich um eine ernstliche, dem betreffenden Unternehmen dienende Tätigkeit handelt, die zum mindesten dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht, und daß durch diese Tätigkeit ein innerer Zusammenhang mit dem Unternehmen hergestellt wird; ein persönliches oder wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis des Tätigwerdenden zum Unternehmen braucht dagegen nicht vorzuliegen; auch sind die Beweggründe des Handelns für den Versicherungsschutz unerheblich.
Nach diesen Grundsätzen ist, wie in den angeführten Entscheidungen ausgesprochen ist, nach § 537 Nr. 10 RVO nicht jede Tätigkeit versichert, die dem Unternehmen dient und dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entspricht. Nach der Ansicht des erkennenden Senats ist im vorliegenden Fall entscheidend, daß das unfallbringende Verhalten des Beigeladenen keine Tätigkeit war, die ihrer Art nach üblicherweise sonst im Rahmen des versicherten Beschäftigungsverhältnisses (§ 537 Nr. 1 RVO) eines Straßenbahnbediensteten verrichtet wird. Nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) ist der am Geschehensort zufällig vorüberkommende Beigeladene dem bedrängten Straßenbahnschaffner beigesprungen, um ihn vor bedrohlicher körperlicher Mißhandlung durch den tätlichen Angriff eines Dritten zu schützen. Diese Abwehrhilfe war zwar geeignet, die durch das Verhalten des Angreifers veranlaßte Behinderung des Straßenbahnzuges mit zu beheben und hatte infolgedessen auch eine gewisse Auswirkung auf den Betrieb der Straßenbahn. Dies reicht jedoch unter den gegebenen Umständen nicht aus, um den Versicherungsschutz des Verletzten auch aus § 537 Nr. 10 RVO herzuleiten. Denn im Vordergrund des Geschehens stand die Bedrohung von Gesundheit und Leben des angegriffenen Schaffners und die dadurch verursachte Störung der öffentlichen Ordnung. Das Einschreiten gegen eine solche Störung gehört aber zum polizeilichen Aufgabenbereich und nicht zu den Aufgaben, die den Bediensteten der Straßenbahn üblicherweise auf Grund ihres Beschäftigungsverhältnisses (§ 537 Nr. 1 RVO) obliegen; deshalb ist das Eingreifen des Beigeladenen nach der natürlichen Auffassung des Lebens nicht der dienstlichen Tätigkeit eines Straßenbahnbediensteten, sondern der Verrichtung einer Tätigkeit des polizeilichen Aufgabenbereichs vergleichbar. Hiernach fehlt es nach den in Rechtsprechung und Schrifttum - soweit ersichtlich - unwidersprochen gebliebenen, vorstehend wiedergegebenen Auslegungsgrundsätzen des erkennenden Senats zu § 537 Nr. 10 RVO an einer wesentlichen Voraussetzung für den Versicherungsschutz des Beigeladenen nach dieser Vorschrift. Da somit der Entschädigungsanspruch des Verletzten ausschließlich aus § 537 Nr. 5 c RVO begründet ist, bedurfte es keiner Entscheidung darüber, ob Nr. 5 und Nr. 10 des § 537 RVO zueinander im Verhältnis der Subsidiarität stehen; insbesondere bedurfte es keiner Prüfung der Frage, welche der angeführten Nummern im Falle des Zusammentreffens des Versicherungsschutzes aus beiden Vorschriften etwa vorrangig ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 474; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl. S. 46 Anm. 43 zu § 537 RVO mit den dort angeführten Nachweisen, insbesondere der Entscheidung der Schiedsstelle in BG 1951, 231). Die Leistungspflicht für den Unfall des Beigeladenen trifft nach alledem gemäß § 627 Abs. 1 RVO das beklagte Land.
Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen