Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. Zusammenhangsbeurteilung. Sachverständigenanhörung. bestimmter Arzt. freie Beweiswürdigung. wesentlicher Verfahrensmangel
Orientierungssatz
1. Ein wesentlicher Verfahrensmangel durch Verletzung von SGG § 109 ist gegeben, wenn das Gericht einen Antrag des Klägers, einen bestimmten Arzt zur Frage des Zusammenhangs zwischen einer Hirnschädigung und einem Kriegsereignis zu hören, nicht Folge leistet, obwohl hiervon neue wesentliche Aufschlüsse für die Zusammenhangsbegutachtung zu erwarten sind.
2. Das Gericht verletzt sein Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es die Folgen einer im Krieg erlittenen Hirnschädigung während der Dauer des Verfahrens unterschiedlich bewertet und dies bei der Urteilsfindung nicht gebührend berücksichtigt.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, §§ 109, 128; BVG § 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 31.01.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 31. Januar 1967 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
Der 1909 geborene Kläger, von Beruf Angestellter im öffentlichen Dienst, erhält ua wegen Hirnquetschung (contusio cerebri) Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H.. Nach der dem Versorgungsbescheid vom 7. Oktober 1953 vorausgegangenen versorgungsärztlichen Untersuchung durch den Neurologen Dr. W vom 9. April 1952 war der Kläger psychisch ohne Befund, hatte aber sonst mittelschwere leistungsbeeinträchtigende Ausfallserscheinungen. Er beantragte im Februar 1959 Neufeststellung der Versorgungsrente wegen Leidensverschlimmerung. Das Versorgungsamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. November 1960 ab, weil sich der neurologische Befund nicht geändert habe. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Im Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts B vom 6. Juli 1962 lehnte die Verwaltungsbehörde eine Erweiterung der Leidensbezeichnung ab, da "vorwiegend zentrale Regulierungsstörungen vorhanden sind und eine mäßige Hirnleistungsschwäche bereits berücksichtigt wurde". Der Leidenszustand habe sich durch den zentralen Gefäßprozeß unabhängig von der Hirnverletzung entwickelt.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die vom Kläger bezeichnete Fachärztin für Nervenkrankheiten, Frau Dr. R (Gutachten vom 27. Februar 1964) gehört, welche das Hinzutreten einer 1952 noch nicht vorhandenen Hirnleistungsschwäche festgestellt und die MdE auf 70 v. H. geschätzt hat. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. Mai 1964 hat der Neurologe und Psychiater Dr. W die Verschlimmerung des Leidenszustands des Klägers auf eine nichtwehrdienstbedingte bereits von dem Internisten Dr. K im versorgungsärztlichen Gutachten vom 17. Mai 1960 festgestellte Herzmangeldurchblutung mit mäßigem Bluthochdruck zurückgeführt. Frau Dr. R hat demgegenüber in einem Ergänzungsgutachten vom 20. August 1964 diese Ansicht abgelehnt. Das SG hat mit Urteil vom 4. April 1966 die Klage abgewiesen; es ist dem Sachverständigen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W gefolgt, der mit Gutachten vom 3. Dezember 1965 die neu aufgetretenen Beschwerden dem psychischen Bereich zugeordnet hat; er hat eine Fettleibigkeit, Lungenemphysem und eine deutlich entwickelte Herz-Kreislaufstörung festgestellt und die Hirnleistungsschwäche nicht auf das Hirntrauma bezogen; gegen einen progredienten, traumatisch ausgelösten Hirnprozeß sprächen der eindeutig unveränderte neurologische Befund und die Besserung im Elektroencephalogramm. Das SG hat im Ergebnis eine wesentliche Verschlimmerung der Schädigungsfolgen verneint, weil die (hinzugetretene) Hirnleistungsschwäche nicht mit der Hirnverletzung zusammenhänge.
Im Berufungsverfahren hat der Kläger mit Schriftsatz vom 9. Dezember 1966 beantragt, über den streitigen medizinischen Fragenkomplex nach § 109 SGG ein Gutachten des Chefarztes Dr. B (U des Stadtkrankenhauses M) einzuholen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 31. Januar 1967 die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Die viele Jahre nach der Schädigung aufgetretenen psychischen Veränderungen könnten sich nicht mehr auf die Hirnverletzung beziehen, sondern seien auf die sehr viel später entstandene mangelnde Leistungsfähigkeit des Herzkreislaufsystems zurückzuführen. Da schon ein vom Kläger benannter Arzt nach § 109 SGG im ersten Rechtszug gehört worden sei, sei das Berufungsgericht nicht verpflichtet, zur selben Beweisfrage einen weiteren Arzt zu hören.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger mit näherer Begründung Fehler in der Sachaufklärung (§§ 103, 106 SGG), in der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) sowie einen Verstoß gegen § 109 SGG. Zu dieser Rüge führt er aus:
Das LSG hätte dem Antrag nach § 109 SGG stattgeben müssen, weil im vorliegenden Fall psychische Gesundheitsstörungen (Hirnleistungsschwäche) im Vordergrund ständen und der bezeichnete Arzt Dr. B vorwiegend auf psychiatrischem Gebiet tätig sei. Dr. W, dem das LSG gefolgt sei, habe Fragen aufgeworfen, welche nie zuvor erörtert worden seien. Außerdem habe das vorausgegangene Gutachten nach § 109 SGG schon drei Jahre zurückgelegen.
Der Kläger beantragt,
die Verwaltungsbescheide aufzuheben und die Urteile der Vorinstanzen dahin abzuändern, daß der Beklagte verurteilt wird, vegetative zentrale Regulationsstörungen und Hirnleistungsschwäche als Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger eine Rente nach einer MdE um 80 v. H. vom 1. Februar 1959 an zu gewähren,
hilfsweise,
das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und verneint die geltend gemachten wesentlichen Verfahrensmängel.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist daher nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg rügt, das Verfahren leide an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), da der Kläger eine Rüge im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht erhoben hat.
Die Rüge des Klägers, daß das LSG eine von der Verwaltung schon anerkannte Hirnleistungsschwäche unberücksichtigt gelassen habe, legt dem Gericht zur Last, daß es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht berücksichtigt, vielmehr übersehen habe, daß es an ein von der Verwaltung schon gemachtes Zugeständnis im Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1962 gebunden sei. Diese auf eine Verletzung des Beweiswürdigungsrechts (§ 128 SGG) hinzielende Rüge greift nicht durch. Denn im Widerspruchsbescheid hatte das Landesversorgungsamt Berlin den Widerspruch des Klägers uneingeschränkt zurückgewiesen. In dem Hinweis, daß eine mäßige Hirnleistungsschwäche bereits berücksichtigt worden sei, ist entgegen der Auffassung der Revision kein "Anerkenntnis" zu sehen. Der in den Gründen gegebene Hinweis auf eine Berücksichtigung wird nicht von der Entscheidung getragen.
Auch dadurch, daß das LSG die Aufgabe des Gewerbebetriebes, einer Handelsvertretung für Textilien (Abmeldung 12. März 1957) auf wirtschaftliche Schwierigkeiten zurückgeführt hat, hat es die Beweise nicht fehlerhaft gewürdigt, weil es sich auf die Erklärung des Klägers selbst in seinem Schreiben an das Versorgungsamt vom 12. März 1957 beziehen konnte, in welchem er keine Leidensverschlimmerung als Ursache für die Geschäftsaufgabe angegeben hat, sondern einen starken Rückgang seiner Einkünfte und die Pfändung der Außenstände durch das Finanzamt. Dem Gericht kann nicht verwehrt werden, den eigenen Angaben des Klägers Glauben zu schenken. Dadurch, daß sich das LSG die Angaben des Klägers zu eigen gemacht hat, hat es nicht die Grenzen des Beweiswürdigungsrechts (§ 128 SGG) überschritten. Was schließlich die Rüge der mangelnden Sachaufklärung (§§ 103, 106, 109 SGG) des LSG betrifft, so hatte es mehrere Gutachten im Verwaltungsverfahren und zwei ausführliche nervenfachärztliche Gutachten im Sozialgerichtsverfahren zur Verfügung, um zu beurteilen, ob sich die mit der Hirnverletzung anerkannten Schädigungsfolgen verschlimmert haben. Das Gericht war auch nicht genötigt, die Schwerbeschädigtenakte, die Personalakte und die Krankengeschichten während der Badekuren des Klägers beizuziehen, weil diese Beweismittel nichts über die Ursache (Ätiologie) der Krankheit aussagen. Abgesehen davon hat sich zu den Badekuren der Sachverständige Dr. W, dem das LSG gefolgt ist, geäußert. Zu prüfen bleibt noch, ob das LSG gegen seine besondere in § 109 SGG umschriebene Sachaufklärungspflicht verstoßen hat und ob in der Rüge eines Verstoßes gegen § 128 SGG nicht auch der Vorwurf zu sehen ist, daß sowohl Dr. W wie das LSG von falschen Voraussetzungen hinsichtlich der Frage des Umfanges des anerkannten Schädigungsleidens ausgegangen seien.
Nach § 109 SGG muß das Gericht auf Antrag des Beschädigten einen (namentlich) bestimmten Arzt gutachtlich hören. Das SG hat zwar von der vom Kläger als Sachverständigen bezeichneten Neurologin Dr. R ein ausführliches Gutachten vom 27. Februar 1964 und ein Ergänzungsgutachten vom 20. August 1964 beigezogen. Das LSG ist jedoch dem Hilfsantrag des Klägers, noch ein Gutachten des Chefarztes Dr. B nach § 109 SGG einzuholen, nicht gerecht geworden. Das Gericht braucht zwar, wenn keine besonderen Umstände erkennbar sind, zur selben Beweisfrage einen zweiten Sachverständigen nach § 109 SGG nicht zu hören. Da das im ersten Rechtszug nach § 109 SGG eingeholte Gutachten noch in der zweiten Instanz fortwirkt, war das LSG grundsätzlich nicht verpflichtet, einen weiteren Sachverständigen nach § 109 SGG zu hören (SozR SGG § 109 Nr. 14 und 18).
Das Berufungsgericht hat aber nicht beachtet, daß die im 1. Rechtszug nach § 109 SGG gehörte Sachverständige Frau Dr. R als Neurologin sich enthalten hat, zu den Befunden auf internfachärztlichem Gebiet Stellung zu nehmen. Auf diesem internfachärztlichen Teilgebiet ist also das Recht des Klägers, daß ein von ihm benannter Sachverständiger gemäß § 109 SGG gehört wird, noch nicht verbraucht. Die Zusammenhangsfrage auf diesem Teilgebiet ist aber für die Entscheidung beweiserheblich; denn, wenn die Hirnleistungsschwäche nicht auf eine Erkrankung auf internistischem Fachgebiet, insbesondere auf Arteriosklerose, zurückgeführt werden sollte, kann sie Folge des neuropathologischen Zustandes sein. Zur Widerlegung der bisherigen Beweisführung hätte ... also das LSG den Antrag nach § 109 SGG als beweiserheblich zulassen müssen, zumal die Untersuchung in einer Klinik durch einen auf psychiatrischem Gebiet erfahrenen Arzt nicht ausschließt, daß die Zusammenhangsfrage weiter aufgehellt wird. Dazu kommt, daß das LSG mit dem noch am 10. November 1966 ausgelaufenen Schreiben vom 10. November 1966 dem Kläger aufgegeben hat, binnen eines Monats einen etwaigen Antrag nach § 109 SGG zu stellen. Der Kläger hat mit dem am 13. Dezember 1966 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz den Sachverständigen Chefarzt Dr. B bezeichnet. Wegen der Aufforderung des Gerichts entsprechend dem § 109 SGG durfte der Kläger damit rechnen, daß sein Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG, dessen Rechtzeitigkeit das Gericht nicht bemängelt hat, nicht abgelehnt wird. Durch die Ablehnung des Antrags auf Anhören des Sachverständigen Dr. B hat daher das LSG seine besondere Sachaufklärungspflicht nach § 109 SGG verletzt.
Da sonach ein vom Kläger gerügter Verfahrensmangel durchgreift, ist die Revision statthaft und begründet. Denn der Verfahrensmangel ist wesentlich, weil nicht auszuschließen ist, daß das vom Kläger nach § 109 SGG beantragte Gutachten die Überzeugungsbildung des Gerichts beeinflußt hätte.
Wegen des festgestellten Verfahrensmangels - Verstoß gegen § 109 SGG - war das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das Berufungsgericht wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung auch zu prüfen haben, ob in der Rüge eines Verstoßes gegen § 128 SGG - das LSG habe nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt - nicht auch der Vorwurf zu sehen sei, daß die Vorinstanz nicht festgestellt habe, was im Jahre 1953 aufgrund des Gutachtens des Dr. W mit der Bezeichnung "Hirnquetschung" umfaßt worden sei. Das LSG verneint zunächst einen ursächlichen Zusammenhang einer mäßigen Hirnleistungsschwäche mit der Hirnschädigung, geht aber auf Seite 12 des Urteils davon aus, daß es sich - wie zur Zeit der Begutachtung durch Dr. W - noch um eine Hirnbeschädigung mit mittelschweren leistungsbeeinträchtigenden Ausfallserscheinungen handelt. Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen getroffen, ob hierbei ein gleicher oder zwei verschiedene Befunde vorliegen. Hinzu kommt, daß Dr. W davon ausgegangen ist, daß 1953 auch ein Bluthochdruck anerkannt worden ist (LSG Bl. 107 unten).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen