Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterhaltsanspruch. Hinterbliebenenrente. Scheidung
Orientierungssatz
Es liegt kein Verzicht auf weitergehenden Unterhalt vor, wenn eine Ehefrau bei der Scheidung der einseitig vom Ehemann übernommene Verpflichtung, Unterhalt in bestimmter Höhe zu zahlen, nicht widerspricht und die Geldbeträge in der versprochenen Höhe annimmt.
Der über diesen titulierten Anspruch hinausgehende Unterhaltsanspruch ist bei der Feststellung der Hinterbliebenenrente zu berücksichtigen.
Normenkette
AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 25.05.1971) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. Mai 1971 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Die Ehe der im Jahre 1900 geborenen Klägerin mit dem Versicherten Max M wurde am 29. Juli 1950 durch das Landgericht (LG) Wiesbaden rechtskräftig aus alleinigem Verschulden des Ehemannes geschieden. Vor dem Amtsgericht (AG) Königstein verpflichtete er sich am 29. September 1950 in einem Verfahren, welches das Sorgerecht für die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder betraf, an die Klägerin monatlich 45,- DM und an die gemeinsame eheliche Tochter L 35,- DM für die Dauer ihrer Lehrzeit zu zahlen; zugleich unterwarf er sich hinsichtlich dieser Verpflichtungen der sofortigen Zwangsvollstreckung (§ 794 Abs. 1 Nr. 5 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Der Versicherte, der im Mai 1951 die Beigeladene geheiratet hat, starb am 9. Oktober 1968. Die Klägerin erhielt 1968 außer den 45,- DM, die der Versicherte bis zu seinem Tode an sie zahlte, Altersruhegeld in Höhe von 149,30 DM und Sozialhilfe zunächst in Höhe von 95,60 DM, später in Höhe von 102,60 DM. Der Versicherte bezog seit 1963 Altersruhegeld, das zuletzt 1.019,60 DM betrug. Die Beigeladene hatte kein Einkommen.
Die Beklagte gewährte der Beigeladenen mit Bescheid vom 14. März 1969 die volle Witwenrente und lehnte den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 9. April 1969 ab. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 25. Mai 1971 die Berufungen der Beklagten und der Beigeladenen zurückgewiesen. Nach der Ansicht des LSG steht der Klägerin ein Anspruch auf Rente nach § 42 AVG 1. Alternative zu. Diese Vorschrift sei auch dann anwendbar, wenn die geschiedene Frau während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten berechtigt gewesen wäre, gegen den früheren Ehemann eine über den Unterhaltsvergleich hinausgehende Unterhaltsforderung geltend zu machen. Die Klägerin habe in dem Unterhaltsvergleich nicht auf einen Teil ihres Unterhaltsanspruchs nach den §§ 58 und 59 des Ehegesetzes (EheG) verzichtet, da lediglich der Betrag als Unterhaltsleistung des Versicherten genannt worden sei, den sie nach dem Eherecht habe fordern können. Deshalb sei die Klägerin berechtigt gewesen, bei Änderung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse oder der Verhältnisse des Versicherten eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO zu erheben. Nicht nur der Unterhaltsverpflichtete könne die Wirkung eines Unterhaltsvergleichs oder -titels nach den §§ 323, 767 ZPO beseitigen, sondern auch die Unterhaltsberechtigte. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Versicherte in den letzten vier Jahren vor seinem Tode fast ständig pflegebedürftig gewesen sei, müsse der Klägerin während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes, der für sie mit der Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit, für den Versicherten mit der letzten Rentenanpassung am 1. Januar 1968 begonnen habe, nach §§ 58, 59 EheG 20 bis 25 v. H. seines Einkommens als Unterhalt zugestanden werden, also etwa 210,- DM bis 250,- DM. Nach Abzug ihres Altersruhegeldes ergebe sich ein Betrag, der 25 v. H. des örtlich und zeitlich für die Klägerin maßgeblichen Sozialhilferegelsatzes von 257,80 DM, also rund 64,- DM, überstiegen habe. Zu demselben Ergebnis führe die Angleichung des vereinbarten Unterhaltsbetrages von 45,- DM an die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Einer geschiedenen Frau, die das 65. Lebensjahr vollendet habe, könne regelmäßig eine weitere Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte und die Beigeladene haben Revision eingelegt mit dem Antrag, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 42 AVG; sie meint, das LSG habe verkannt, daß der Unterhaltsvergleich den Rückgriff auf den gesetzlichen Unterhaltsanspruch grundsätzlich ausschließe, weil die gesetzliche Regelung des Unterhaltsrechts nach der Scheidung nachgiebiges Recht enthalte; sie beruft sich hierbei auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. November 1970 - 12 RJ 446/68 - in SozR Nr. 56 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= Breithaupt 1971, 746). Grundlage des Unterhaltsanspruchs bleibe auch bei einer Abänderung nach § 323 ZPO der ursprüngliche Unterhaltstitel. Deshalb sei der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ausschließlich nach der 2. Alternative des § 42 AVG zu beurteilen. Die in dem Vergleich vereinbarten 45,- DM erreichten aber nicht 25 v. H. des maßgeblichen Mindestbedarfs. Eine bis zum Tode des Versicherten nicht geltend gemachte Abänderbarkeit des Titels sei im Rahmen des § 42 AVG nicht zugunsten der Unterhaltsberechtigten zu berücksichtigen. Ein Unterhaltsanspruch aus sonstigen Gründen könne nur ein bereits tatsächlich bestehender materiell-rechtlicher Anspruch sein; ein lediglich prozessual durchsetzbarer höherer Anspruch genüge nicht, weil bis zur Abänderung des Titels nur ein Anspruch in der bereits titulierten Höhe bestehe. § 323 Abs. 4 ZPO habe rein prozessuale Bedeutung; nach § 323 Abs. 3 ZPO dürfe ein Titel nur für Zeiten nach Klageerhebung abgeändert werden. Hilfsweise rügt die Beklagte eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), da das LSG vorab habe prüfen müssen, inwieweit der Vergleich nach dem ursprünglichen Willen der Beteiligten überhaupt abänderbar gewesen sei; das LSG habe insoweit keine Feststellungen getroffen.
Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 9. November 1971 der Klägerin das Armenrecht gewährt und ihr einen Rechtsanwalt zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte beigeordnet.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und meint, sie dürfe nicht deshalb benachteiligt werden, weil sie über ihren Unterhaltsanspruch eine vollstreckbare Vereinbarung getroffen habe.
Der Senat hat die Revision der Beigeladenen durch Beschluß vom 31. August 1972 als unzulässig verworfen, weil sie weder innerhalb der Revisionsfrist (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG) noch durch einen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 SGG) eingelegt worden ist.
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß.
Nach § 42 Satz 1 AVG wird einer früheren Ehefrau des Versicherten nach dessen Tod Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Der Klägerin steht die begehrte Rente nicht schon deshalb zu, weil sie von dem Versicherten im Jahr vor seinem Tode 45,- DM als Unterhaltsleistung erhalten hat (vgl. § 42 AVG 3. Alternative). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine Zahlung nur dann eine Gewährung von Unterhalt im Sinne des § 42 AVG, wenn der Betrag ein Viertel des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs erreicht (BSG 22, 44; 22, 130, 131; SozR Nrn. 41 und 49 zu § 1265 RVO; Urteil vom 17. Mai 1972 - 12 RJ 118/71). Das LSG hat den erforderlichen Mindestbedarf von 1968 mit 257,80 DM festgestellt, so daß die 45,- DM, welche die Klägerin von dem Versicherten in demselben Zeitraum erhalten hat, nicht wenigstens ein Viertel des notwendigen Bedarfs (= 64,45 DM) ausmachen. Es fragt sich jedoch, ob der Klägerin nicht ein Unterhaltsanspruch nach der 1. Alternative des § 42 AVG zusteht. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Erklärung des Versicherten in der gerichtlichen Urkunde vom 29. September 1950 die Anwendung dieser Alternative nicht ausschließt. Dem LSG kann allerdings nicht zugestimmt werden, wenn es in dieser Erklärung eine vergleichsweise Vereinbarung über den Unterhaltsanspruch der Klägerin im Sinne des § 72 EheG erblickt. Die Annahme des LSG, die Klägerin und der Versicherte hätten den Unterhaltsbetrag von 45,- DM in einem Vergleich festgelegt, enthält keine das BSG nach § 163 SGG bindende tatsächliche Feststellung, sondern lediglich eine rechtliche Bewertung der Erklärungen in der gerichtlichen Urkunde vom 29. September 1950. Der Senat mißt dem Inhalt dieser Urkunde eine andere rechtliche Bedeutung bei. In ihr verpflichtete sich der Versicherte lediglich einseitig, an die Klägerin Unterhalt in Höhe von 45,- DM zu zahlen; zugleich unterwarf er sich der sofortigen Zwangsvollstreckung. Eine Äußerung der Klägerin hierzu fehlt; sie hat nach den Feststellungen des LSG weder ausdrücklich noch stillschweigend auf weitergehende Ansprüche verzichtet. Die Zahlungsverpflichtung des Versicherten wirkt sich daher nicht zu Lasten der Klägerin auf ihren gesetzlichen Unterhaltsanspruch nach § 58 Abs. 1 EheG aus. Bei der Anwendung des § 42 AVG sind somit die Sozialgerichte nicht gehindert, die Unterhaltsverhältnisse im Zeitpunkt des Todes des Versicherten anhand des Ehegesetzes zu untersuchen. Dem widerspricht auch nicht die Rechtsprechung des BSG zur Bedeutung von Schuldtiteln im Rahmen des § 1265 RVO und § 42 AVG. Das BSG hat zwar einen Vollstreckungstitel als sonstigen Grund im Sinne des § 42 AVG 2. Alternative angesehen (BSG 20, 1 ff), aber ausdrücklich erklärt, daß ein solcher Titel einen von dem materiell-rechtlichen Anspruch verschiedenen Vollstreckungsanspruch begründet (BSG 20, 3); es hat einen nach den Vorschriften des EheG über den titulierten Anspruch hinausgehenden Unterhaltsanspruch für berücksichtigungsfähig gehalten (Urteil vom 17. Mai 1972 - 12 RJ 118/71 -). Diese Ansicht liegt auch dem Urteil des 12. Senats vom 25. November 1970 (Breithaupt 1971, 746) zugrunde, auf das sich die Beklagte beruft.
Im übrigen käme, selbst wenn mit dem LSG von einer Vereinbarung der früheren Eheleute auszugehen wäre, ein Rentenanspruch der Klägerin nach § 42 AVG 2. Alternative in Betracht. Nach den Feststellungen des LSG entsprach der Betrag von 45,- DM 1950 dem Unterhaltsanspruch der Klägerin. Eine etwaige Vereinbarung über die Zahlung dieses Betrages hätte folglich nur bewirkt, daß die Klägerin für ihren "unstreitigen" gesetzlichen Anspruch aus § 58 Abs. 1 EheG zusätzlich einen Vollstreckungstitel erhielt. Die zugrunde liegende Vereinbarung hätte jedoch unter dem Vorbehalt der gleichbleibenden Verhältnisse gestanden (vgl. Hoffmann-Stephan, EheG, 2. Aufl. 1968, § 72 Rdnr.: 43, 82 je mit weiteren Nachweisen), so daß Änderungen in der Unterhaltssituation der Beteiligten wie beim gesetzlichen Unterhaltsanspruch auf den vertraglichen Anspruch eingewirkt hätten. Es käme auch nicht darauf an, ob bei vollstreckbaren Vereinbarungen neben diesen noch die 1. Alternative des § 42 AVG Grundlage des Rentenanspruchs sein könnte (so der 5. Senat in seinem Urteil vom 26. Mai 1972 - 5 RKn 37/70); denn eine vollstreckbare Vereinbarung wie z. B. ein gerichtlicher Vergleich hätte in keinem Falle vorgelegen. Vollstreckungstitel im Sinne des § 794 Abs. 1 ZPO hätte immer nur die einseitige Zahlungsverpflichtung sein können; er hätte die Klägerin nicht gehindert, eine höhere Unterhaltsforderung einzuklagen, ohne Abänderungsklage gegen den Vollstreckungstitel erheben zu müssen (Wieczorek, ZPO, 1957, § 323 Anm. G I a).
Da also die Erklärung des Versicherten in der gerichtlichen Urkunde vom 29. September 1950 die Prüfung eines über 45,- DM hinausgehenden Unterhaltsanspruchs nicht ausschließt, bleibt zu klären, ob der Klägerin Unterhalt in Höhe von mindestens 64,45 DM (ein Viertel des in Betracht kommenden Mindestbedarfs) zustand. Das LSG hat das bejaht; die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen aber nicht aus, um beurteilen zu können, ob ein Unterhaltsanspruch der Klägerin in dieser Mindesthöhe gegeben ist. Das LSG hätte zunächst feststellen müssen, welcher Unterhalt für die Klägerin - gemessen an den Lebensverhältnissen der Ehegatten zur Zeit der Scheidung - während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten angemessen war (§ 58 Abs. 1, 1. Halbsatz EheG). Ein in dieser Weise früher als angemessen festgestellter Betrag konnte mit Hilfe des Lebenshaltungsindexes auf die Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes "projiziert" werden (BSG 28, 267, 271). Der für die Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes als angemessen festgestellte Betrag durfte allerdings nicht den notwendigen Mindestbedarf der Klägerin in diesem Zeitraum unterschreiten (vgl. BSG, Urteil vom 10. August 1972 - 4 RJ 439/71). In Anwendung des § 58 Abs. 1, 2. Halbsatz EheG war dann von dem zunächst ermittelten Betrag das Altersruhegeld abzuziehen. Weitere Abzüge - Sozialhilfe und Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit - hat das LSG zutreffend abgelehnt. Eine Erwerbstätigkeit ist insbesondere Frauen, die das 65. Lebensjahr überschritten haben, regelmäßig allein schon im Hinblick auf ihr Alter nicht zuzumuten (BSG, Urteil vom 15. Juli 1969 - 1 RA 245/68). Für die Nichtanrechnung der Sozialhilfe ist § 2 des Bundessozialhilfegesetzes idF vom 18. September 1969 maßgebend. Erst nach Errechnung des Unterhaltsbetrages im Sinne von § 58 Abs. 1 EheG war festzustellen, ob der Versicherte in Anwendung des § 59 EheG weniger zu leisten hatte. Sofern er aber auch bei Berücksichtigung des § 59 EheG zur Leistung von mindestens 64,65 DM verpflichtet blieb, war die 1. Alternative des § 42 Satz 1 AVG zu bejahen.
Da das Revisionsgericht die notwendigen Feststellungen nicht selbst treffen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen