Leitsatz (amtlich)
Der RAM-Erl 1943-04-20 "betreffend Ausgleich von Beitragsausfällen zu Gunsten der Versicherten", der eine Beitragsfiktion für die vor Juli 1942 im Markenverfahren zu entrichtenden Beiträge begründete, ist jedenfalls seit dem 1957-01-01 nicht mehr geltendes Recht; das ArVNG und das AnVNG sehen eine Beitragsfiktion in den RVO §§ 1397 Abs 6, AVG 119 Abs 6 nur noch für die im sogenannten Lohnabzugsverfahren zu entrichtenden Beiträge vor.
Normenkette
RVO § 1397 Abs. 6 Fassung: 1957-02-23; AVG § 119 Abs. 6 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 48 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 46 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. August 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beklagte hat bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers für die Zeit von Mai 1930 bis November 1932 als Beiträge zur Angestelltenversicherung 27 Beiträge der Klasse A und 4 der Klasse B berücksichtigt. Der Kläger war damals bei einem später in Konkurs gegangenen Arbeitgeber beschäftigt, der keine Beiträge für ihn entrichtet hatte; die angerechneten Beiträge der Klassen A und B entsprechen dem Teil des Rückstandes, der noch hatte beigetrieben werden können.
Der Kläger begehrt die Anrechnung höherklassiger Beiträge, weil von seinem Gehalt Anteile zur Beitragsklasse E abgezogen worden seien. Seine Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) Berlin einen Teilerfolg (Urteil vom 23. November 1970): Die Beklagte wurde zur Anrechnung von 10 Beiträgen der Klasse C, 10 der Klasse D und 11 der Klasse E verurteilt. Nach der Auffassung des SG gelten die genannten Beiträge aufgrund des Erlasses des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 20. April 1943 (und des erläuternden Erlasses vom 14. Juli 1943) als entrichtet; der Erlaß sei auf im Markenverfahren zu entrichtende Beiträge weiterhin anzuwenden. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Berlin das Urteil auf und wies die Klage ab (Urteil vom 25. August 1971). Es ließ dahingestellt, ob der Erlaß vom 20. April 1943 rechtsgültig zustande gekommen und in seinen Voraussetzungen hier erfüllt sei; jedenfalls hätten die Neuregelungsgesetze von 1957 (ArVNG und AnVNG, Art. 3 § 2) den Erlaß mit Wirkung vom 1. Januar 1957 als den neuen Vorschriften entgegenstehendes Recht außer Kraft gesetzt; das neue Recht enthalte eine Beitragsfiktion nur noch für das Lohnabzugsverfahren (§ 119 Abs. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - § 1397 Abs. 6 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger könne auch nicht aufgrund einer 1937 erhaltenen Mitteilung über das Beitreibungsergebnis Vertrauensschutz beanspruchen.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Nach seiner Meinung haben die Neuregelungsgesetzes von 1957 die Frage der Beitragsfiktion im Markenverfahren nicht geregelt und darum den Erlaß vom 20. April 1943 nicht berührt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist unbegründet.
Der Senat kann ebenso wie das LSG das rechtsgültige Zustandekommen des Erlasses vom 20. April 1943 (bezweifelt von Koch/Hartmann, Kommentar zum AVG, I, 362 f) und die Erfüllung seiner Voraussetzungen im vorliegenden Falle dahingestellt lassen. Höhere Beiträge aufgrund des Erlasses vom 20. April 1943 können dem Kläger jedenfalls deshalb nicht angerechnet werden, weil der Erlaß aus den vom LSG angeführten Gründen spätestens seit dem Jahre 1957 nicht mehr anwendbar ist.
In dem Erlaß "betreffend Ausgleich von Beitragsausfällen zu Gunsten der Versicherten" (AN 1943 II Seite 175; abgedruckt auch in EuM 50, Seite 395 Nr. 201) hat der RAM aufgrund des § 110 des Ausbaugesetzes vom 21. Dezember 1937 bestimmt, "daß die vom Arbeitgeber nicht abgeführten Beiträge zur Rentenversicherung als entrichtet gelten, wenn die Beitreibung ergebnislos geblieben ist und wenn glaubhaft gemacht wird, daß dem Versicherten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung sein Beitragsanteil abgezogen worden ist". Dieser Erlaß bezog sich - trotz seines weiterreichenden Wortlautes - praktisch nur auf die im früheren Markenverfahren zu entrichtenden Beiträge; denn für das ab Juli 1942 eingeführte sogenannte Lohnabzugsverfahren galt bereits die einschlägige Regelung des § 11 Aus. 3 der Durchführungsverordnung (DVO) vom 15. Juni 1942 (RGBl I, 403) zur zweiten Lohnabzugsverordnung vom 24. April 1942; dort war für das Lohnabzugsverfahren bestimmt (vgl. § 13 Abs. 1 der 2. Lohnabzugsverordnung: "für Versicherungszeiten nach dem Inkrafttreten"), daß der Beitrag als entrichtet gilt, wenn glaubhaft gemacht wird, daß dem Versicherten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung sein Beitragsanteil abgezogen worden ist. Demzufolge hat der RAM in einem weiteren an den Reichsverband Deutscher Rentenversicherungsträger gerichteten Erlaß vom 14. Juli 1943 (EuM aaO Nr. 202) erläutert, daß der Erlaß vom 20. April 1943 "auch für die vor dem 1. Januar 1938 fällig gewesenen Beiträge", d. h. auch für die damals schon im Markenverfahren zu entrichtenden Beiträge gilt.
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß Art. 3 § 2 AnVNG (ArVNG) eine weitere Anwendung des Erlasses vom 20. April 1943 ausschließt. Nach dieser Vorschrift treten mit dem Inkrafttreten des AnVNG (ArVNG) alle diesem Gesetz entgegenstehenden (oder gleichlautenden) Vorschriften außer Kraft. Der Erlaß vom 20. April 1943 ist eine dem AnVNG (ArVNG) entgegenstehende Vorschrift.
Diese Frage, zu der das Bundessozialgericht (BSG) bisher noch nicht Stellung genommen hat (vgl. SozR Nr. 29 zu § 1259 RVO, letzter Absatz) ist allerdings auch im Schrifttum umstritten. Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, Seite 646 c) tritt für die Weiteranwendung des Erlasses ein, weil nicht davon auszugehen sei, daß der Versicherte schlechter als nach bisherigem Recht gestellt werden sollte; auch nach Eicher/Haase (Rentenversicherung, 4. Auflage Seite 336) sollte die Weitergeltung im Interesse der Versicherten bejaht werden. Demgegenüber wird die Weitergeltung verneint im Kommentar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (6. Auflage II, § 1397 RVO, Anmerkung 21), von Hoernigk/Jorks/(Rentenversicherung § 1397 Anm. 7) - wohl auch von Elsholz/Theile (Die gesetzliche Rentenversicherung, Randnr. 119, Anmerkung 8 und Ü 52) - und von Hanow/Lehmann/Bogs (Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Auflage, § 1397 RVO, IV 6), von letzteren mit der Erwägung, wenn der Gesetzgeber eine dem Erlaß entsprechende Regelung beabsichtigt habe, hätte er es auch zum Ausdruck gebracht; da das nicht geschehen und eine eindeutige Regelung nur für Zeiten des Lohnabzugsverfahrens getroffen worden sei, müsse daraus geschlossen werden, daß der Erlaß nicht mehr anzuwenden sei.
Diese Argumente zeigen ebenso wie das Vorbringen der Beteiligten und die Ausführungen der Vorinstanzen, daß es wesentlich auf die Feststellung ankommt, ob der Gesetzgeber des AnVNG (ArVNG) eine Beitragsfiktion auch für die vor Juli 1942 im Markenverfahren zu entrichtenden Beiträge zulassen wollte. Insoweit ist zwar kein Zweifel, daß das AnVNG (ArVNG) hierüber keine besondere Vorschrift enthält. Entgegenstehende Vorschriften i. S. des Art. 3 § 2 AnVNG können sich jedoch auch aus dem Zusammenhang dieses Gesetzes ergeben. Dieser spricht hier aber gegen die weitere Zulassung von Beitragsfiktionen im Markenverfahren.
Die Entstehungsgeschichte der neuen Vorschriften über das Beitragsverfahren (vgl. dazu SozR Nr. 1 zu § 1397 RVO und die dort zitierte BT-Drucks. II/2437 Seite 84 und 86 zu §§ 1396 bis 1401, 1422 und 1423 RVO) belegt die Absicht des Gesetzgebers des AnVNG (ArVNG), die Beitragsvorschriften des Einzugsverfahrens und des Markenverfahrens, soweit sie für die weitere Rechtsanwendung von Bedeutung sind, zusammenzufassen, abschließend zu regeln und nicht außerhalb des Gesetzes noch Sonderregelungen bestehen zu lassen. Hätte der Gesetzgeber das für den Erlaß vom 20. April 1943 dennoch beabsichtigt, wäre sein Schweigen daher kaum verständlich. Das gilt um so mehr, als sich ihm die Frage der Beitragsfiktion für die vor Juli 1942 im Markenverfahren zu entrichtenden Beiträge stellen mußte. Die neue Vorschrift des § 119 Abs. 6 AVG (§ 1397 Abs. 6 RVO), die § 11 Abs. 3 der Durchführungsverordnung zur zweiten Lohnabzugsverordnung entspricht, lautet nämlich: "Macht der Versicherte glaubhaft, daß der auf ihn entfallende Beitragsanteil vom Gehalt abgezogen worden ist, so gilt der Beitrag ohne Rücksicht auf die tatsächliche Abführung als entrichtet". Der Wortlaut dieser Vorschrift schloß nicht die Anwendung auf Fälle vor Juli 1942 aus, in denen während des damaligen Markenverfahrens der Beitragsanteil des Versicherten zwar einbehalten, der Beitrag aber vom Arbeitgeber nicht entrichtet worden war. In einer besonderen Übergangsvorschrift - Art. 2 § 46 AnVNG (Art. 2 § 48 ArVNG) - hat der Gesetzgeber demgegenüber jedoch bestimmt, daß § 119 Abs. 6 AVG " nur für Zeiten nach dem 30. Juni 1942 gilt". Welche Folgen diese Vorschrift - damals noch Art. 2 § 42 des Entwurfes eines Angestelltenversicherungsgesetzes - für vorhergehende Zeiten haben mußte, verdeutlicht das Protokoll über die 133. Sitzung des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik vom 20. Dezember 1956 (Seite 3); dort hat Prof. Dr. Schellenberg ausgeführt, "daß mit der darin getroffenen Regelung sich für die Versicherten die Gefahr ergibt, daß die Zeit vor 1942 nicht als Versicherungszeit angerechnet würde, falls der Arbeitgeber seinerzeit das Kleben von Beitragsmarken unterlassen habe"; hieran schloß sich eine Diskussion an, nach der die Vorschrift "unverändert mit Mehrheit angenommen" wurde. Diese Vorgänge aus der Entstehungsgeschichte und der Zusammenhang der Beitragsvorschriften bestätigen, daß der Gesetzgeber des AnVNG (ArVNG) Beitragsfiktionen nur für Zeiten des Lohnabzugsverfahrens ab Juli 1942 zulassen wollte. Dafür konnte er vernünftige Gründe haben, weil das Schutzbedürfnis des Versicherten im sogenannten Lohnabzugsverfahren, in dem er die Abführung des Beitrages an die Einzugsstelle kaum kontrollieren kann, wesentlich stärker ist als in dem früheren Markenverfahren, in dem er sich jederzeit von der tatsächlichen Entrichtung des Beitrages überzeugen konnte (SozR Nr. 1 zu § 1397 RVO); der Gesetzgeber konnte somit Anlaß haben, für das Markenverfahren zu dem Grundsatz der Rentenversicherung zurückzukehren, daß unbeschadet bestehender Beitragspflicht nur tatsächlich entrichtete Beiträge zu Leistungen aus der Versicherung berechtigen. Der Abbau entgegenstehender bisheriger Vergünstigungen bedeutete dabei keinen Verstoß gegen höherrangiges Recht (Grundgesetz); das macht auch der Kläger nicht geltend.
Die Revision des Klägers ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen