Leitsatz (amtlich)
Auf die nach 2. RVÄndG Art 2 § 2 Abs 1 bindend ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht kann nicht rechtswirksam verzichtet werden.
Normenkette
RVÄndG 2 Art. 2 § 1 Abs. 1 Fassung: 1966-12-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Bremen und des Sozialgerichts Bremen vom 26. Februar 1971 und vom 21. August 1969 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob eine nach Art. 2 § 1 des Zweiten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (2. RVÄndG) vom 23. Dezember 1966 (BGBl I 745) bindend ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht zu widerrufen ist.
Die 1942 geborene Klägerin ist seit August 1966 als Friseuse im Damen- und Herrensalon ihres Ehemannes beschäftigt. Auf ihren Antrag wurde sie für die Dauer dieser Beschäftigung mit Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 1967 nach der genannten Vorschrift zum 1. Januar 1967 von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter befreit. Im September 1968 teilte der Ehemann der Klägerin der Beklagten mit, daß seine Ehefrau auf die Befreiung von der Versicherungspflicht zum nächstmöglichen Zeitpunkt verzichten wolle. Die Klägerin beantragte sodann die "Zurücknahme" der Befreiung. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 28. Oktober 1968). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Vor dem Sozialgericht (SG) beantragte die Klägerin die Feststellung, daß sie von Oktober 1968 an der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Arbeiter unterliege. Das SG gab der Klage statt (Urteil vom 21. August 1969). Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurück, "daß die Beklagte verpflichtet wird, die Klägerin vom 1. Oktober 1968 an in der Rentenversicherung der Arbeiter zu versichern". Das LSG wertete das Begehren der Klägerin als Antrag, den bindend gewordenen Verwaltungsakt der Befreiung zu widerrufen. An einem solchen Widerruf sei die Beklagte nicht gehindert, nachdem die Klägerin auf die durch die Befreiung eingeräumte günstige Rechtsposition verzichtet habe. Der Verzicht sei in entsprechender Anwendung des § 1230 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zulässig. Das Begehren der Klägerin sei um so mehr gerechtfertigt, als dem von Art. 2 § 1 des 2. RVÄndG betroffenen Personenkreis eine Dispositionsbefugnis bis zum 31. Dezember 1969 eingeräumt worden sei (Urteil vom 26. Februar 1971).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des Art. 2 § 1 Abs. 1 des 2. RVÄndG iVm § 1230 Abs. 5 RVO durch das Berufungsgericht: Ein Verzicht auf die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht sei nur in den vom Gesetz ausdrücklich geregelten Fällen möglich; hierzu gehöre nicht die Befreiung nach Art. 2 § 1 des 2. RVÄndG.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG Bremen und des SG Bremen vom 26. Februar 1971 und vom 21. August 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten im Sinne des § 166 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist begründet.
Der Auffassung des LSG, die Befreiung von der Versicherungspflicht müsse mangels entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften wegfallen, nachdem die Klägerin auf die ihr durch den Befreiungsbescheid vom 20. Mai 1967 eingeräumte Rechtsposition verzichtet habe, kann schon deswegen nicht gefolgt werden, weil der Befreiungsbescheid als begünstigender rechtsgestaltender Verwaltungsakt (vgl. BSG 23, 244) gemäß § 77 SGG für die Beteiligten in der Sache bindend geworden ist. Dies hat zur Folge, daß die am 1. Januar 1967 bestehende Beschäftigung der Klägerin bei ihrem Ehemann über diesen Zeitpunkt hinaus versicherungsfrei geblieben ist. Hieran ist die Klägerin ebenso gebunden wie die Beklagte (vgl. Haueisen in NJW 1960, 1497, 1500). Die Klägerin kann demnach die Versicherungsfreiheit nicht schon deshalb beseitigen, weil sie an ihr nicht mehr festhalten will. Vielmehr muß der Wegfall der Versicherungsfreiheit durch Verzicht auf die antragsgemäß bereits ausgesprochene Befreiung nach § 77 SGG im Gesetz bestimmt sein.
Das 2. RVÄndG sieht indes den Verzicht auf die nach Art. 2 § 1 Abs. 1 des Gesetzes erfolgte Befreiung nicht vor. Zwar sind gesetzliche) Bestimmungen, die im Sinne von § 77 SGG die Bindungswirkung von Verwaltungsakten beseitigen können, nicht nur geschriebene Rechtssätze. Hierzu gehören auch solche, die unter Anwendung vorhandener Vorschriften für vergleichbare Tatbestände ermittelt werden, wenn im Gesetz bestimmte Sachverhalte nicht bedacht und deshalb nicht abschließend geregelt sind (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 26.5.1970 - Az.: 12 RJ 4/66 und BSG 20, 293, 296). Hinsichtlich des von der Klägerin erklärten Verzichts kann aber eine zu ergänzender Rechtsfindung Anlaß gebende "planwidrige Unvollständigkeit" der Befreiungsvorschrift des Art. 2 § 1 des 2. RVÄndG (vgl. Engisch, Einführung in das juristische. Denken, 4. Aufl., S. 138 und BSG 20, 282, 286) nicht angenommen werden.
Wie die Regelungen in § 1230 Abs. 5 RVO, § 7 Abs. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), § 5 a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG), § 7 Abs. 1 und 2 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) zeigen, läßt das Gesetz bei verschiedenen, durch bindenden Verwaltungsakt ausgesprochenen Befreiungen von der Versicherungspflicht den Verzicht auf die Befreiungen zu. Demgegenüber fehlt eine entsprechende Vorschrift nicht nur bei der hier vorliegenden Befreiung nach Art. 2 § 1 Abs. 1 des 2. RVÄndG, sondern auch für die Befreiungen nach Art. 2 § 1 AnVNG idF des Finanzänderungsgesetzes 1967, § 73 des Gesetzes zur Art. 131 Grundgesetz, § 3 des Gesetzes zur Förderung sozialer Hilfsdienste vom 17. April 1972 (EGBl I 609), § 94 des Gesetzes zur Weiterentwicklung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vom 10. August 1972 (BGBl I 1433). Diese unterschiedliche Regelung macht deutlich, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit des Verzichts bewußt individuell von der Ausgestaltung der jeweiligen Befreiungsvoraussetzungen und von dem rechtspolitischen Zweck der Befreiung abhängig macht und demzufolge den Verzicht auch nur durch jeweils ausdrückliche Vorschriften zuläßt. Bestätigt wird dies durch den Regierungsentwurf eines Rentenreformgesetzes -RRG- (BT-Drucksache VI, 2916, hier S. 25), der für Angestellte, die nach einzelnen, im Gesetz aufgeführten Vorschriften von der Versicherungspflicht befreit worden sind, erstmals bestimmt, daß die Befreiungen durch entsprechende, gegenüber der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bis zum 31. Dezember 1973 abzugebende Erklärungen beendet werden können.
Dementsprechend hat bereits das Reichsversicherungsamt die Zulässigkeit eines Verzichts auf die Folgen der ausgesprochenen Befreiung davon abhängig gemacht, ob das Gesetz einen positiven (Verzichts-) Vorbehalt enthält oder nicht (vgl. AN 1900, 698; 1936, 236). Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich dieser Auffassung für den Fall der Befreiung von der Beitragspflicht nach Art. 2 § 9 des Gesetzes zur Neuregelung der Altershilfe für Landwirte vom 3. Juli 1961 (AHNG 1961) angeschlossen (Urteil vom 8. Dezember 1970 - Az.: 11/7 RLw 5/68, teilweise abgedruckt in SozR Nr. 1 zu Art. 2 § 7 AHNG). Es hat im Falle einer nach Art. 2 § 1 AnVNG idF vom 23. Februar 1957 (BGBl I 88) beantragten Befreiung von der Versicherungspflicht ebenfalls bereits entschieden, daß nach Erlaß des Befreiungsbescheides rechtlich keine Möglichkeit besteht, den Befreiten wieder in den Schutz der Rentenversicherung einzubeziehen, sei es dadurch, daß er auf die Befreiung verzichtet, sei es dadurch, daß der Versicherungsträger die Befreiung widerruft (vgl. BSG 23, 241, 244). Der Senat ist der Auffassung, daß für die nach Art. 2 § 1 Abs. 2 des 2. RVÄndG ausgesprochenen Befreiungen von der Versicherungspflicht nichts anderes gelten kann.
Ein abweichendes Ergebnis kann nicht - wie das LSG meint - daraus hergeleitet werden, daß die Verzichtserklärung von der Klägerin innerhalb der in Art. 2 § 1 Abs. 2 des 2. RVÄndG für den Befreiungsantrag festgelegten dreijährigen Frist (bis 31. Dezember 1969) abgegeben worden ist. Mangels einer positiven Verzichtsregelung im Gesetz kann es auf diesen Umstand nicht maßgeblich ankommen. Mit den Ausführungen des LSG wäre es zwar womöglich erstrebenswert gewesen, während der Dreijahresfrist auch einen Verzicht auf die bereits erfolgte Befreiung zuzulassen. Eine solche Lösung hätte aber - unter Berücksichtigung der aufgezeigten, jeweils abschließenden positiven Regelungen des Verzichts - dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben müssen.
Entgegen der Auffassung des LSG ist auch eine entsprechende Anwendung der Verzichtsregelung des § 1230 Abs. 5 RVO auf die nach Art. 2 § 1 Abs. 1 des 2. RVÄndG ausgesprochenen Befreiungen von der Versicherungspflicht nicht möglich. Eine analoge Anwendung von § 1230 Abs. 5 RVO würde voraussetzen, daß in den beiden Befreiungstatbeständen des § 1230 Abs. 1 RVO und des Art. 2 § 1 Abs. 1 des 2. RVÄndG Personengruppen mit im wesentlichen gleicher Interessenlage angesprochen sind. Gerade daran fehlt es. § 1230 Abs. 1 betrifft insbesondere frühere Beamte und Berufssoldaten, die nach der Versetzung in den Ruhestand noch eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Im Hinblick auf die diesen Personen zustehenden öffentlich-rechtlichen Versorgungsansprüche sicht das Gesetz hier für sämtliche Beschäftigungen und Tätigkeiten zeitlich unbegrenzt sowohl eine (wiederholbare) Befreiung von der Versicherungspflicht; als auch einen (wiederholbaren) Verzicht auf die durchgeführte Befreiung vor. Gegenüber dieser uneingeschränkten Dauerregelung gestattet die Übergangsvorschrift des Art. 2 § 1 Abs. 1 des 2. RVÄndG die Befreiung von der Versicherungspflicht für Ehegatten, die am 31. Dezember 1966 bei ihrem Ehegatten in Beschäftigung standen und am 1. Januar 1967 versicherungspflichtig wurden, lediglich für die Dauer dieser Beschäftigung. Wie das LSG zutreffend erkannt hat, läßt diese Übergangsbestimmung eine Befreiung von der Versicherungspflicht für alle künftig beginnenden Beschäftigungsverhältnisse - und zwar auch beim bisherigen Arbeitgeber - nicht mehr zu. Darin muß aber der eine analoge Rechtsanwendung ausschließende Unterschied zu der Regelung in § 1230 Abs. 1 und 5 RVO gesehen werden: Während die von der Versicherungspflicht befreiten Ehegatten ohne Verzichtserklärung bei Beginn einer neuen Beschäftigung wieder versicherungspflichtig werden, wäre dies dem von § 1230 Abs. 1 RVO erfaßten Personenkreis ohne die ausdrückliche Verzichtsregelung des § 1230 Abs. 5 RVO verwehrt.
Da somit keine Rechtsgrundlage für einen wirksamen Verzicht auf die mit dem Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 1967 ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht besteht, mußten die Urteile des LSG und des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen