Leitsatz (amtlich)
Die 2. Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen vom 1973-04-27 (BGBl 1 1973, 362) gilt nicht für die Zeit vor dem 1965-07-01 (vergleiche auch BSG 1975-06-25 4 RJ 237/74).
Normenkette
RVO § 1249 Fassung: 1965-06-09, § 1250 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1413 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; FRG§15VÄndV 2 § 1 Fassung: 1973-04-27; FRG § 15 VÄndV 2 § 3 Fassung: 1973-04-27, § 15 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1973 teilweise aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 13. April 1972 wird insoweit zurückgewiesen, als das Landessozialgericht die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den auch die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis zum 30. Juni 1965 als Beitragszeit anerkannt wird.
Außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger vom 1. Dezember 1948 bis zum 30. Juni 1965 eine nach dem Fremdrentenrecht anrechenbare Versicherungszeit zurückgelegt hat.
Der aus Oberschlesien stammende Kläger war vom 1. Dezember 1948 bis zum 31. Dezember 1966 selbständiger Töpfermeister in K, Krs. K, Oberschlesien, das jetzt unter polnischer Verwaltung steht. Nach der Bescheinigung der Zunft für verschiedene Handwerksarten in K (K) vom 14. Januar 1969 gehörte der Kläger dieser Zunft an, entrichtete die vorgeschriebenen Gebühren für den Fonds der Altersrente und trat am 1. Juli 1965 der Handwerker-Sozialversicherung bei. Als Spätaussiedler nahm er am 6. Februar 1967 seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik; er besitzt einen Vertriebenenausweis.
In ihrem Bescheid vom 8. Oktober 1969 über die vom Kläger beantragte Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen stellte die Beklagte Beitragszeiten des Klägers fest, lehnte es aber ab, die genannten Beschäftigungszeiten des Klägers als selbständiger Handwerker gemäß § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) als Beitragszeiten in der deutschen Arbeiterrentenversicherung anzuerkennen. Sie begründete dies damit, die in Polen geltende Sozialversicherung für selbständige Handwerker sei kein System der sozialen Sicherheit für abhängig Beschäftigte i. S. von § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG, sondern ein Sondersystem. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. April 1970). Das Sozialgericht Lübeck hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. April 1972).
Mit der Berufung hat sich der Kläger auf die inzwischen erlassene zweite Verordnung (VO) zur Änderung der VO über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen vom 27. April 1973 (BGBl I 362) berufen, durch die das System der Handwerkerversicherung nach dem polnischen Gesetz über die Sozialversicherung für Handwerker vom 29. März 1965 als gesetzliche Rentenversicherung anerkannt worden ist. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis zum 31. Dezember 1966 als Beitragszeit nach § 15 FRG anerkannt wird. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 19. Dezember 1973).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 15 FRG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG insoweit aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen, als das LSG sie verurteilt habe, die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 30. Juni 1965 als Beitragszeit nach § 15 FRG anzuerkennen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er tritt der Auffassung der Beklagten entgegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das allein für die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis zum 30. Juni 1965 von der Beklagten angefochtene Berufungsurteil ist insoweit aufzuheben. Die früher ebenfalls streitige Zeit vom 1. Juli 1965 bis 31. Dezember 1966 hat die Beklagte auf Grund der zweiten VO i. V. m. § 15 Abs. 3 FRG und § 1 der VO über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen, geändert durch die Änderungs-VO vom 8. April 1963 (BGBl I 194), als Beitragszeit anerkannt. Insoweit hat das Berufungsurteil bereits Bestand.
Für die noch streitige Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 30. Juni 1965 hat der Kläger entgegen der Auffassung des LSG keinen Anspruch darauf, daß die Beklagte im Wiederherstellungsverfahren verlorener Versicherungskarten des Klägers (§ 1413 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) diese Zeit als Beitragszeit gemäß § 15 FRG anerkennt. Zutreffend haben die beiden Vorinstanzen, wie schon die Beklagte in ihrem angefochtenen Bescheid, es abgelehnt, den Anspruch des Klägers aus § 15 Abs. 1 und 2 FRG herzuleiten. Es ist allerdings zutreffend, daß das FRG auf den Kläger anzuwenden ist. Der Kläger ist Vertriebener i. S. des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) und als solcher im Geltungsbereich des FRG anerkannt (§ 1 a FRG). Er erfüllt aber nicht die besonderen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 und 2 FRG. Der Kläger war nicht bei einem Träger der allgemeinen Rentenversicherung in Polen versichert (§ 15 Abs. 2 FRG). Er war vielmehr in der streitigen Zeit als selbständiger Töpfermeister Mitglied der Zunft für verschiedene Handwerksarten in Kreuzburg/Oberschlesien (Kluczbork) und entrichtete die vorgeschriebenen Gebühren für den Fonds der Altersrente. Am 1. Juli 1965 trat er der Handwerker-Sozialversicherung bei. Diese polnische Handwerker-Sozialversicherung, die durch das polnische Gesetz vom 29. März 1965 (Gesetzblatt der Volksrepublik Polen Nr. 13 vom 6. April 1965, S. 101) geschaffen worden ist, ist ein Sondersystem für selbständige Handwerker. Dies geht aus einer Auskunft des Internationalen Arbeitsamtes in Genf an die Landesversicherungsanstalt Berlin vom 1. Februar 1968 hervor. Diese Auskunft lautet:
"Auf Ihre Anfrage vom 26.1.1968 - 009-10-6 - teilen wir Ihnen mit, daß es sich bei dem durch das polnische Gesetz vom 29.3.1965 über die Sozialversicherung für Handwerker errichteten System um ein Sondersystem (Pflichtversicherung) für selbständige Handwerker handelt. Dieser Personenkreis ist in der allgemeinen polnischen Rentenversicherung für Arbeitnehmer und Mitglieder handwerklicher Produktionsgenossenschaften nicht versichert."
Die während des Berufungsverfahrens auf Grund der Ermächtigung des § 15 Abs. 3 FRG ergangene zweite VO hat allerdings "das System der Handwerker-Versicherung nach dem polnischen Gesetz über die Sozialversicherung für Handwerker vom 29. März 1965" (Gesetzblatt der Volksrepublik Polen 1965, s. 101) ebenfalls als gesetzliche Rentenversicherung anerkannt (§ 1 der zweiten VO). Diese VO ist aber erst mit Wirkung vom 1. Juli 1965 in Kraft gesetzt worden (§ 3 a. a. O.). Dies hat zur Folge, daß - wie von der Beklagten inzwischen anerkannt - die Zeiten vom 1. Juli 1965 bis 31. Dezember 1966, in denen der Kläger Beiträge zur polnischen Handwerker-Sozialversicherung entrichtet hat, nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 FRG) bei der Wiederherstellung der Versicherungskarten des Klägers (§ 1413 RVO) sind diese Zeiten als Beitragszeiten zu berücksichtigen. Das gilt jedoch nicht für die streitige - davor liegende - Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 30. Juni 1965. Auf diese Zeit erstreckt sich nämlich die zweite VO nicht. Das ergibt sich eindeutig aus § 3 der zweiten VO: "Diese Verordnung tritt mit Wirkung vom 1. Juli 1965 in Kraft." Den Zeitpunkt der Inkraftsetzung der zweiten VO hat der Verordnungsgeber mit Bedacht gewählt. Das weist die Begründung des Entwurfs der zweiten VO (BR-Drucks. 185/73) aus. In der Volksrepublik Polen sind auf Grund des polnischen Gesetzes vom 29. März 1965 Handwerker und die mit ihnen zusammen arbeitenden Personen ab 1. Juli 1965 versicherungspflichtig (Begründung zu § 1 des Entwurfs). Die zum 1. Juli 1965 rückwirkend verfügte Inkraftsetzung der zweiten VO "soll gewährleisten, daß die in der polnischen Handwerkerversicherung zurückgelegten Beitragszeiten bei allen Versicherungsfällen zu berücksichtigen sind" (Begründung zu § 3).
Das LSG hat diesen entscheidenden Gesichtspunkt der zeitlichen Verknüpfung des Inkrafttretens der polnischen Handwerkerversicherung und der zweiten VO zu Unrecht außer Betracht gelassen. Es hat sich demgegenüber dafür ausgesprochen, auch vor dem 1. Juli 1965 liegende Zeiten der Gebührenzahlung des Klägers an den Fonds der Altersrente bei der Zunft für verschiedene Handwerksarten in Kreuzburg/Oberschlesien (Kluczbork) nach § 15 FRG i. V. m. der zweiten VO deutschen Beitragszeiten gleichzusetzen. Aus Art. 7 und 8 des polnischen Gesetzes vom 29. März 1965 folge, so hat das LSG ausgeführt, daß nicht nur die nach diesem polnischen Gesetz zurückgelegten Beitragszeiten, sondern auch die vor seinem Inkrafttreten zurückgelegten Zeiten der selbständigen Ausübung des Handwerks für die Feststellung einer Rente erheblich seien. Das sei deshalb berechtigt, weil die selbständigen Handwerker in Polen auch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 29. März 1965 bereits einer sozialversicherungsähnlichen Einrichtung angehört hätten, wenn sie auch ihre Beiträge nicht an eine Versicherungsanstalt, sondern an einen Fonds bei den Innungen (Zünften) hätten abführen müssen. Im übrigen wirkten sich auch nach polnischem Recht zurückgelegte Beschäftigungsjahre rentensteigernd aus.
Der erkennende Senat teilt diese Auffassung des LSG nicht. Es kann offenbleiben, wie das polnische Sozialversicherungsrecht die vor dem 1. Juli 1965 zurückgelegten Zeiten der Beschäftigung als selbständiger Handwerker beitrags- und leistungsrechtlich behandelt. Das LSG verkennt, daß die zum 1. Juli 1965 durch §§ 1 und 3 der zweiten VO verfügte Anerkennung der polnischen Handwerker-Sozialversicherung als gesetzliche Rentenversicherung und die damit eröffnete Gleichbehandlung der polnischen Beitrags- mit deutschen Beitragszeiten (§ 15 Abs. 1 und 2 FRG) der Rechtsanwendung im Einzelfall eine einfache und sichere Grundlage bieten soll (vgl. Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts vom 25. Juni 1975 - 4 RJ 237/74 - zur Veröffentlichung bestimmt). Der Rechtsanwender soll nicht prüfen und entscheiden, ob und für welche Zeit die polnische Handwerker-Sozialversicherung als gesetzliche Rentenversicherung anzuerkennen war und ist. Diese Entscheidung hat der Verordnungsgeber getroffen. Er hat damit aus der Kenntnis des fremden Rechts und der fremden Lebensverhältnisse eine sachliche Entscheidung mit einer eindeutigen Zeitbestimmung getroffen. Jede Rechtsanwendung hat sie zu berücksichtigen.
Selbst wenn es wünschenswert gewesen wäre, auch die vor dem 1. Juli 1965 liegenden Zeiten der Entrichtung von Gebühren an den für den Kläger zuständigen Fonds mit in die Regelung nach §§ 1 und 3 der zweiten VO einzubeziehen, hat ein derartiger Wunsch bei der Rechtsanwendung kein Gewicht, weil der Verordnungsgeber, wie bereits hervorgehoben, anders entschieden hat. Angesichts der bündigen und ganz auf Praktikabilität angelegten Regelungen der §§ 1 und 3 der zweiten VO erübrigen sich Erwägungen über die Art der polnischen Versicherungseinrichtung und den Zeitpunkt des Inkrafttretens - so freilich das LSG - oder - so der Kläger - über eine mögliche Rechtsnachfolge der polnischen Handwerker-Sozialversicherung für die verschiedenen bei den polnischen Zünften bestehenden Fonds.
Schließlich scheidet § 16 FRG als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers aus. Diese Vorschrift bezieht sich nämlich nur auf Zeiten einer nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten ausländischen Gebieten oder nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verrichteten unselbständigen (abhängigen) Beschäftigung. Der Kläger war aber in dem unter polnischer Verwaltung stehenden Oberschlesien in der streitigen Zeit ausschließlich selbständig tätig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen