Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage, inwieweit die Überzeugungsbildung des Unfallversicherungsträgers im Rahmen des RVO § 627 durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nachprüfbar ist. Die gesetzliche Voraussetzung des Überzeugtseins ist nicht wörtlich, dh im subjektiven Sinne, zu verstehen. Das Gericht muß vielmehr in der Lage sein, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Merkmalen die Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als überzeugt zu gelten habe. Andererseits darf das Gericht nicht ohne weiteres seine eigene Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen.
Orientierungssatz
1. Der Versicherungsträger hat dann als von der Unrechtmäßigkeit der früheren Ablehnung überzeugt zu gelten, wenn diese so offensichtlich ist, daß er sie bei erneuter Prüfung - sei es aufgrund tatsächlicher Feststellungen, sei es aufgrund einer gesicherten Rechtsprechung - hätte erkennen müssen (vgl BSG vom 1963-03-29 2 RU 234/59 = BSGE 19, 38; BSG vom 1973-08-23 8/2 RU 220/72 = SozR Nr 4 zu § 627 RVO). Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die gegenteilige Überzeugung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu halten ist; aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen muß die Unrichtigkeit des früheren Bescheides außer Zweifel stehen (vgl BSG vom 1974-05-15 8/2 RU 62/72 = Praxis 1975, 29; BSG vom 1970-08-20 1 RA 153/69 = SozR Nr 12 zu § 1300 RVO).
2. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes bei Instandsetzung des für die Zurücklegung des Arbeitsweges benutzten Kraftfahrzeuges, wenn die Reparatur nur einen ganz geringen Zeitaufwand erforderte, zu dem die zurückgelegte Fahrstrecke zur Werkstatt und zurück von insgesamt mindestens 8 km in keinem angemessenen Verhältnis stand.
3. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes auf dem Wege zum Einkauf von Nahrungsmitteln in geringer Menge zum alsbaldigen Verzehr während der Dienstzeit oder in einer Arbeitspause.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01, § 627 Fassung: 1965-04-30
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 08.06.1977; Aktenzeichen L 3 U 816/76) |
SG Kassel (Entscheidung vom 05.08.1976; Aktenzeichen S 3 UG 52/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Juni 1977 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger mit einem Neufeststellungsbescheid Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Der Kläger hatte am 23. Februar 1970 gegen 12,20 Uhr mit Zustimmung seines Dienstvorgesetzten seine Arbeitsstelle in K verlassen und war mit seinem Pkw zu seiner Reparaturwerkstatt gefahren. Als er am Morgen seine Dienststelle erreicht hatte, hatte er bemerkt, daß sich die rechte vordere Wagentür nicht mehr öffnen ließ, während bei Antritt der Fahrt die Tür sich noch hatte öffnen lassen. Die Reparatur wurde sogleich ausgeführt. Der Kläger fuhr anschließend 3 bis 4 km zu seiner Dienststelle zurück, stellte das Fahrzeug auf einem etwa 150 m vor der Dienststelle entfernten Parkplatz ab und ging zu Fuß weiter. Als er die F Straße erreicht hatte, schlug er den Weg zum nächsten E Laden ein, den er jeden Montag benutzte, um Nahrungsmittel zum Mittagessen - diesmal Brötchen und Hackfleisch - zum alsbaldigen Verzehr einzukaufen. Auf einem Fußgängerüberweg wurde er von einer Straßenbahn erfaßt und erlitt dabei gegen 13,15 Uhr eine Trümmerfraktur der linken Schädelseite und eine Hirnquetschung.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsleistungen aus der Unfallversicherung ab (Bescheid vom 23. Juni 1970). Die hiergegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 27. Januar 1972 ab. Die Berufung des Klägers wurde als unzulässig verworfen (Urteil vom 4. September 1973); seine Revision nahm der Kläger zurück.
Der Kläger beantragte am 7. September 1974 die Neufeststellung seines Entschädigungsanspruchs gemäß § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe er während einer versicherten Tätigkeit einen Arbeitsunfall erlitten. Die Beklagte berief sich auf das bindend gewordene Urteil des SG vom 27. Januar 1972, das nicht im Widerspruch zu der vom Kläger zitierten Rechtsprechung stehe und lehnte es ab, in ein neues Verwaltungsverfahren einzutreten (Bescheid vom 8. Oktober 1974). Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1975). Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, der Schaden an seinem Pkw sei erst am Morgen des 23. Februar 1970 während der Fahrt zu seiner Dienststelle aufgetreten. Die Vorschriften über die Betriebssicherheit der Kraftfahrzeuge hätten es erforderlich gemacht, die Reparatur noch in der Mittagspause durchführen zu lassen, da nach Dienstschluß auch seine Vertragswerkstatt schon geschlossen gewesen wäre. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. August 1976). Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 8. Juni 1977).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er hält die auf die Entscheidung des BSG in BSGE 16, 245 gestützte Auffassung des LSG für zu eng. Sein Fahrzeug habe nicht mehr den öffentlich-rechtlichen Zulassungsvorschriften entsprochen, denn gemäß § 35e Abs 3 letzter Satz der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung müßten Türen bei Gefahr von jedem erwachsenen Fahrgast geöffnet werden können. Deshalb sei er verpflichtet gewesen, den Mangel vor Antritt der Heimfahrt zu beseitigen. Die Fahrt zur Reparaturwerkstatt sei daher eine Tätigkeit gewesen, die mit dem später zurückzulegenden Heimweg und also auch mit der versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden habe. Zutreffend habe das LSG festgestellt, der am Ende des zur Dienststelle zurückführenden Weges eingeschobene Gang zum EDEKA-Laden sei unerheblich gewesen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 8. Juni 1977 aufzuheben, das Urteil des SG Kassel vom 5. August 1976 abzuändern, den Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 1975 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 1970 das Ereignis am 23. Februar 1970 als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, der Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, mit einem Neufeststellungsbescheid das Unfallereignis vom 23. Februar 1970 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen. Der Beklagte mußte nicht von der Unrichtigkeit seines ablehnenden Bescheids vom 23. Juni 1970 überzeugt sein.
Nachdem Entschädigungsansprüche des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung von dem Beklagten mit Bescheid vom 23. Juni 1970 abgelehnt worden waren und die dagegen gerichtete Klage von dem SG mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 27. Januar 1972 abgewiesen worden war, wäre der Beklagte nur dann zur Neufeststellung verpflichtet (BSGE 19, 38, 43), wenn er sich bei erneuter Prüfung überzeugt hätte, daß die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden war (§ 627 RVO). Der Verpflichtung zur Neufeststellung steht nicht entgegen, daß der frühere, die Leistung ablehnende Bescheid des Versicherungsträgers im gerichtlichen Verfahren rechtskräftig bestätigt worden ist (BSGE 13, 181, 186; 19, 164 zu § 619 RVO aF; SozR Nr 1 zu § 93 RKG; BSGE 26, 89, 90 zu § 627 RVO). Die gesetzliche Voraussetzung des "Überzeugtseins" kann nicht wörtlich, dh im subjektiven Sinne verstanden werden. Das Gericht muß vielmehr in der Lage sein, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Merkmalen die Folgerung zu ziehen, daß der Versicherungsträger als überzeugt zu gelten hat. Es darf jedoch nicht ohne weiteres seine eigene Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen. Als von der Unrechtmäßigkeit der früheren Ablehnung überzeugt zu gelten hat der Versicherungsträger jedoch dann, wenn diese so offensichtlich ist, daß er sie bei erneuter Prüfung - sei es aufgrund tatsächlicher Feststellungen, sei es aufgrund einer gesicherten Rechtsprechung - hätte erkennen müssen (BSGE 19, 38, 44; SozR Nr 4 zu § 627 RVO). Diese Voraussetzung ist ... erfüllt, wenn die gegenteilige Überzeugung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu halten ist; aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen muß die Unrichtigkeit des früheren Bescheides außer Zweifel stehen (Urteil des erkennenden Senats vom 15. Mai 1974 - 8/2 RU 62/72; Urteil des 1. Senats in SozR Nr 12 zu den gleichlautenden §§ 1300 RVO und 79 AVG). Eine außer Zweifel stehende Unrichtigkeit des ablehnenden Bescheides des Beklagten vom 23. Juni 1970 hat das LSG zu Recht verneint.
Neue Tatsachen, aus denen sich eine solche Unrichtigkeit ergeben könnte, hat der Kläger weder zur Begründung seines Neufeststellungsantrages, noch im Laufe des anhängigen Verfahrens vorgetragen. Er stützt seinen Anspruch auf Neufeststellung vielmehr darauf, daß der ablehnende Bescheid den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zu gleichgelagerten Sachverhalten widerspreche. Das ist jedoch im Sinne zweifelsfreier Unrichtigkeit nicht der Fall. Weder vor Erlaß des Bescheides vom 23. Juni 1970 bestand eine gefestigte Rechtsprechung noch hat sich eine solche später entwickelt, nach der ein Entschädigungsanspruch des Klägers hätte zweifelsfrei bejaht werden müssen.
Das BSG hat sich mehrfach mit der Frage des Unfallversicherungsschutzes bei Instandsetzungen von Kraftfahrzeugen befaßt, die zur Zurücklegung des Arbeitsweges benutzt wurden. Es hat unverändert daran festgehalten, daß in solchen Fällen regelmäßig kein Versicherungsschutz besteht, weil es sich im allgemeinen um dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnende vorbereitende Tätigkeiten handele (BSG-Urteile vom 30. November 1972 - 2 RU 119/72; vom 31. Januar 1974 - 2 RU 87/72 - USK 7422). Der Versicherungsschutz ist jedoch bei Maßnahmen bejaht worden, die zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit des Beförderungsmittels dienen, wenn sie unvorhergesehen während der Zurücklegung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit notwendig werden und ohne sie der Weg nicht fortgesetzt werden kann, und zwar auch dann, wenn der eigentliche Weg von oder nach der Arbeitsstätte verlassen oder die Verrichtung im häuslichen Bereich vorgenommen wird (BSGE 16, 245, 248f; SozR Nr 63 zu § 543 RVO aF sowie die o.g. Urteile). Die Rechtsprechung hat in solchen Fällen den inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit noch als gewahrt angesehen. Insbesondere in seinem Urteil vom 28. Februar 1962 (BSGE 16, 245, 247) hat der 2. Senat des BSG jedoch darauf hingewiesen, daß keine Umstände vorliegen dürfen, nach denen dem Versicherten zuzumuten wäre, den Weg ohne das betriebsunfähige Beförderungsmittel etwa zu Fuß oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fortzusetzen. Auch dürfe die Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit nach Art und Zeitaufwand nicht in einem Mißverhältnis zur Dauer des Weges im Ganzen stehen. Sie müsse sich auf solche Verrichtungen beschränken, die nötig seien, um die Fortsetzung des gestörten Weges von oder nach der Arbeitsstätte zu ermöglichen.
Aufgrund dieser von der Rechtsprechung nicht aufgegebenen Grundsätze vermag auch der erkennende Senat nicht festzustellen, daß die Ablehnung der Entschädigungsansprüche des Klägers zweifelsfrei zu Unrecht erfolgt ist. Die Reparatur erforderte nur einen ganz geringen Zeitaufwand, zu dem die zurückgelegte Fahrstrecke zur Werkstatt und zurück von insgesamt mindestens 8 km in keinem angemessenen Verhältnis stand. Zudem hätte der Kläger, wie er nicht in Abrede gestellt hat, die Reparatur bei einer nahegelegenen Tankstelle mindestens provisorisch ausführen lassen können. Es erscheint ebenso nicht als unter allen Umständen unzumutbar, wenn der Kläger den Heimweg nach Dienstschluß mit innerstädtischen Verkehrsmitteln, wie das LSG festgestellt hat, innerhalb von 55 Minuten zurückgelegt hätte. Unberücksichtigt bleiben kann auch nicht, daß der zu behebende "Schaden" lediglich darin bestand, daß die rechte vordere Tür des viertürigen Personenwagens klemmte. Dem Kläger ist zuzugeben, daß § 35e Abs 3 letzter Satz der Straßenverkehrs-Zulassungsordnung vorschreibt, Türen müßten bei Gefahr von jedem erwachsenen Fahrgast geöffnet werden können. Daraus ergab sich für den Kläger zwar die Verpflichtung, diesen "Schaden" alsbald zu beheben oder beheben zu lassen. Das Fahrzeug war deshalb aber für den Heimweg nach Dienstschluß nicht betriebsunfähig, zumal der Kläger sich auch nicht gehindert gesehen hat, von seiner Dienststelle etwa 4-5 km durch die K Innenstadt zu seiner Reparaturwerkstatt zu fahren.
Der Kläger ist nicht während der Fahrt mit dem Pkw verunglückt, sondern, nachdem er das Fahrzeug etwa 150 m von seiner Dienststelle entfernt abgestellt hatte, auf der anschließend zu Fuß angetretenen Wegstrecke, wobei er Nahrungsmittel in geringer Menge zum alsbaldigen Verzehr während der Dienstzeit oder in einer Arbeitspause einkaufen wollte. Er mußte dabei einen kleinen Umweg machen, der ihn zum Teil über dieselbe Wegstrecke führte, die er auch an anderen Tagen während der Mittagspause benutzte, um Eßwaren zu besorgen. Wenn der Beklagte auch diesen Teil des Weges als unversichert angesehen hat, steht seine rechtliche Wertung nicht in zweifelsfreiem Widerspruch zur einschlägigen gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Nach § 550 Abs 1 RVO sind allerdings Wege von und nach der Arbeitsstätte versichert, die der Versicherte in der Arbeitspause zurücklegt, um sich Lebensmittel zum alsbaldigen Verzehr zu besorgen, sofern sie nicht unverhältnismäßig weit sind und nicht in unangemessenem Verhältnis zur Dauer der Arbeitspause stehen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1977 - 8 RU 76/76, SozR 2200 § 550 Nr 28 mit weiteren Nachweisen). Die hierzu entwickelten Rechtsgrundsätze sind hier aber nicht zwingend anzuwenden. Der Kläger hatte, nachdem er vom Dienst befreit worden war, um seinen Pkw reparieren zu lassen, seine Arbeitsstätte verlassen. Als er verunglückte, hatte er den Rückweg zur Arbeitsstätte noch nicht beendet. Es ist deshalb nicht zweifelsfrei unrichtig, auch diese letzte Wegstrecke, auf der der Kläger Eßwaren besorgen wollte, unter denselben rechtlichen Gesichtspunkten wie die voraufgegangene Fahrt als unversicherten Rückweg von einer privatwirtschaftlichen Betätigung zu werten. Dabei ist es unerheblich, ob der Kläger die Unfallstelle auch dann passiert hätte, wenn er den Weg von seiner Arbeitsstätte aus angetreten hätte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen