Leitsatz (amtlich)

1. Eine Rechtsbehelfsbelehrung, nach der binnen eines Monats nach "Zustellung" Widerspruch eingelegt werden kann, ist auch bei einem Bescheid, der nur bekanntgegeben zu werden braucht, nicht unrichtig. Die Widerspruchsfrist läuft dann jedoch erst von dem Zeitpunkt an, zu dem der Bescheid nach Verwaltungszustellungsrecht zugestellt wird oder als zugestellt gilt.

2. Wird ein Bescheid, den ein Versicherungsträger in beglaubigter Abschrift dem Bevollmächtigten eines Versicherten zustellen will, irrtümlich an diesen selbst gesandt, so ist der Mangel der Zustellung geheilt, sobald der Bevollmächtigte die beglaubigte Abschrift vom Versicherten nachweislich erhalten hat. Der frühere Erhalt einer vom Versicherten hergestellten unbeglaubigten (und noch dazu mangelhaften) Fotokopie der beglaubigten Abschrift reicht für eine Heilung nicht aus.

 

Normenkette

SGG § 84 Abs 1, § 66 Abs 2 S 1; VwZG § 9 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 08.11.1988; Aktenzeichen I JBf 242/85)

SG Hamburg (Entscheidung vom 30.09.1985; Aktenzeichen 19 J 19/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens zur Nachentrichtung von Beiträgen darum, ob die Widerspruchsfrist gewahrt ist.

Der Kläger lebt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er wurde gegenüber der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) aufgrund schriftlicher Vollmacht von seiner jetzigen Prozeßbevollmächtigten vertreten. An diese stellte die Beklagte - jeweils mittels eingeschriebenen Briefes - den Altersruhegeldbescheid vom 27. Juni 1982 und den Bescheid über den Zuschuß zum Krankenversicherungsbeitrag vom 27. Juni 1982 zu.

Mit Bescheid vom 20. Oktober 1982 gestattete die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen. Die Rechtsbehelfsbelehrung ging dahin, daß innerhalb eines Monats nach Zustellung Widerspruch erhoben werden könne. Auf der zur Zustellung vorgesehenen beglaubigten Abschrift des Bescheides war links die Anschrift des Klägers in den Vereinigten Staaten angegeben, daneben auf der rechten Seite hinter den Worten "Einschreiben über Bevollmächtigte" deren Anschrift in Düsseldorf. Diese war auch auf dem Einlieferungsschein der am 2. November 1982 als Einschreiben zur Post gegebenen Sendung genannt.

Die Sendung gelangte jedoch an den Kläger. Dieser übersandte zunächst eine mangelhafte, zum Teil mit Kugelschreiber nachgezogene Fotokopie der beglaubigten Abschrift des Bescheides an seine Bevollmächtigten, bei der sie am 25. November 1982 einging. Die Bevollmächtigte machte bei der Beklagten geltend, der Bescheid müsse ihr zugestellt werden. Am 23. März 1983 focht sie ihn mit dem Widerspruch an und übersandte der Beklagten unter dem 7. April 1983 die beglaubigte Abschrift, die sie inzwischen ebenfalls vom Kläger erhalten hatte.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 1. Dezember 1983 zurück. Er sei am 23. März 1983 verspätet eingegangen, weil die Monatsfrist bereits am 25. November 1982 begonnen habe, als die Bevollmächtigte den Bescheid vom Kläger erhalten habe und er ihr damit bekanntgegeben worden sei.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Klage durch Urteil vom 30. September 1985 abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) Hamburg die Berufung durch Urteil vom 8. November 1988 zurückgewiesen. Die einmonatige Widerspruchsfrist sei versäumt. Der Bescheid sei zwar nicht wirksam zugestellt worden, weil er dem Kläger statt seiner Bevollmächtigten übersandt worden sei. Dieser Mangel sei jedoch geheilt worden, weil die Bevollmächtigte den Bescheid am 25. November 1982 vom Kläger erhalten habe.

Gegen das Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 84 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Widerspruchsfrist habe drei Monate und nicht nur einen Monat betragen, so daß die Rechtsmittelbelehrung des Bescheides unrichtig gewesen sei. Ferner habe der Bescheid an seine Bevollmächtigte zugestellt werden müssen. Weil er ihr nicht unmittelbar von der Beklagten übersandt worden sei, scheide eine Heilung des Zustellungsmangels aus.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG vom 8. November 1988 und des SG vom 30. September 1985 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 1983 und Abänderung des Bescheides vom 20. Oktober 1982 zu verurteilen, ihn zur Nachentrichtung von Beiträgen zu 414,- DM monatlich zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte räumt die Unwirksamkeit der Zustellung ein. Dieser Mangel sei jedoch geheilt, weil der Kläger den Bescheid an seine Bevollmächtigte weitergeleitet habe. Der Kläger argumentiere widersprüchlich, wenn er sich einerseits auf eine für Zustellungen ins Ausland geltende Dreimonatsfrist berufe, er andererseits aber die Zustellung an seine Bevollmächtigte im Inland für erforderlich halte.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung begründet.

Die Beklagte hat mit dem Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 1983 den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 20. Oktober 1982 zurückgewiesen, weil der Widerspruch erst am 23. März 1983 und damit verspätet eingelegt worden sei. Die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung hängt davon ab, ob und gegebenenfalls welche Feststellungen über den Zeitpunkt getroffen werden können, zu dem die Bevollmächtigte die beglaubigte Abschrift des Bescheides erhalten hat.

Nach § 84 Abs 1 SGG ist der Widerspruch binnen eines Monats einzureichen, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist. Entgegen der Ansicht des Klägers galt hier keine längere Frist. Die Jahresfrist des § 66 Abs 2 Satz 1 SGG, bei deren Anwendung der Widerspruch am 23. März 1983 in jedem Fall rechtzeitig erhoben wäre, greift nicht ein. Denn die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 20. Oktober 1982 war nicht unrichtig. Sie ging dahin, daß innerhalb eines Monats nach "Zustellung" Widerspruch erhoben werden könne, während § 84 Abs 1 SGG an die "Bekanntgabe" des Verwaltungsakts anknüpft und eine förmliche Zustellung hier nicht vorgeschrieben war. Der Senat hat zwar in einem Urteil vom 27. März 1980 - 12 RK 61/79 - eine Rechtsbehelfsbelehrung, in der von Zustellung statt von der Bekanntgabe die Rede war, als unrichtig angesehen, hieran jedoch schon im Urteil vom 27. September 1983 - 12 RK 75/82 - (vgl DAngVers 1984, 148) zumindest für den Fall nicht festgehalten, daß die Zustellung fehlerfrei erfolgt war. In diesem Urteil hat er es, sofern sich der Versicherungsträger für den Weg der förmlichen Zustellung entscheidet, als nicht nur folgerichtig, sondern sogar als erforderlich bezeichnet, daß in der Rechtsbehelfsbelehrung auf den Zeitpunkt der Zustellung abgehoben und nicht der ungenaue und mißverständliche Begriff der Bekanntgabe gewählt wird. Dieses hält der Senat nunmehr auch dann für zutreffend, wenn die Zustellung nicht oder nicht fehlerfrei erfolgt ist. Denn davon, ob die Zustellung ordnungsgemäß erfolgt, scheitert oder mangelhaft durchgeführt wird, kann die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung nicht abhängen; vielmehr ist das nur für den Beginn der Rechtsbehelfsfrist entscheidend. Wenn die Beklagte die Zustellung als Form der Bekanntgabe wählt und eine entsprechende Rechtsbehelfsbelehrung erteilt ("binnen eines Monats nach Zustellung"), wird der Empfänger des Bescheides in seiner Rechtsverfolgung nicht durch Unklarheit über den Beginn und den Lauf der Rechtsbehelfsfrist behindert. Denn dem Empfänger eines Bescheides mit einer solchen Rechtsbehelfsbelehrung muß, jedenfalls wenn er Rechtsanwalt ist, klar sein, daß die Bekanntgabe des Bescheides durch Zustellung erfolgen soll und sich diese nach den Vorschriften über die Verwaltungszustellung einschließlich der Regelung über die Heilung von Zustellungsmängeln richtet. Hierauf brauchte in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht gesondert hingewiesen zu werden.

Andererseits ist ein Versicherungsträger, der die (förmliche) Zustellung als Form der Bekanntgabe gewählt und eine entsprechende Rechtsbehelfsbelehrung erteilt hat, hieran festzuhalten. Er muß hinnehmen, daß Form und Wirksamkeit der Zustellung nach Verwaltungszustellungsrecht beurteilt werden und daraus auch entnommen wird, zu welchem Zeitpunkt die Zustellung erfolgt ist oder als erfolgt gilt. Die Rechtsbehelfsfrist läuft bei einem Bescheid, nach dem es auf die Zustellung ankommt, entgegen der Ansicht der Beklagten nicht schon von einer formlosen Bekanntgabe an.

Eine wirksame Zustellung des Bescheides vom 20. Oktober 1982 ist nicht erfolgt. An den Kläger selbst sollte die Zustellung nicht erfolgen. Insofern fehlte der Beklagten hier erkennbar der "Zustellungswille" (dazu BVerwG NJW 1988 S 1612, 1613). Sie wollte ihn vielmehr, wie aus dem Bescheid ersichtlich, mit Einschreiben über die Bevollmächtigte an den Kläger richten, ihn also der Bevollmächtigten zustellen. Dementsprechend war auf dem Einlieferungsschein der Post die Bevollmächtigte als Empfängerin genannt. An sie hatte die Beklagte auch vorher den Altersruhegeldbescheid vom 27. Juni 1982 und den Bescheid vom selben Tage über einen Zuschuß zum Krankenversicherungsbeitrag zugestellt. Allein der Umstand, daß der eingeschriebene Brief - weil ein verwendeter Fensterumschlag nur die Anschrift des Klägers erkennen ließ - versehentlich an ihn gelangt ist, reicht zur Annahme einer wirksamen Zustellung an ihn nicht aus. Deshalb kann offen bleiben, ob bei einer wirksamen Zustellung an den Kläger im Ausland eine Widerspruchsfrist von einem Monat (BSG SozR 1500 § 84 Nr 5) oder, wie der Kläger meint, von drei Monaten gegolten hätte. Ferner kommt es nicht darauf an, ob bei Vertretung durch einen Bevollmächtigten eine Zustellung wirksam ohnehin nur an diesen und nicht an den Vertretenen hätte erfolgen können. Einer Entscheidung zu dem umstrittenen Verhältnis des § 13 Abs 3 Satz 1 zu § 37 Abs 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren (SGB 10) - bedarf es mithin nicht, auch nicht zu § 8 Abs 1 Satz 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) des Bundes, der bei Vorliegen einer schriftlichen Vollmacht ebenfalls eine Zustellung an den Bevollmächtigten vorschreibt.

Die beabsichtigte Zustellung an die Bevollmächtigte des Klägers ist gescheitert, weil sie den eingeschriebenen Brief nicht erhalten hat. Es kommt indes, wie das LSG zutreffend geprüft hat, eine Heilung des Zustellungsmangels in Betracht. Nach § 9 Abs 1 VwZG des Bundes, der nach Feststellung des LSG auch auf Zustellungen durch die Beklagte anzuwenden ist, gilt ein Schriftstück, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen läßt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Empfangsberechtigte nachweislich erhalten hat. Das Schriftstück, das die Beklagte der Bevollmächtigten zustellen wollte, war die beglaubigte Abschrift des Bescheides (vgl auch § 2 Abs 1 Satz 1 VwZG des Bundes). Die Bevollmächtigte hat sie erhalten. Daß sie ihr nicht unmittelbar von der Beklagten, sondern vom Kläger zugesandt worden ist, ist unschädlich. Denn mit dem Eingang der beglaubigten Abschrift bei ihr hatte das Schriftstück, das die Beklagte zustellen wollte, seinen Adressaten und damit sein Ziel nachweislich erreicht. Das läßt § 9 Abs 1 VwZG des Bundes genügen.

Demgegenüber reicht es entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten zur Heilung des Zustellungsmangels nicht aus, daß die Bevollmächtigte bereits am 25. November 1982 eine Fotokopie der beglaubigten Abschrift des Bescheides erhalten hatte. Diese vom Kläger selbst oder auf seine Veranlassung hergestellte Fotokopie war nicht das Schriftstück, das zugestellt werden sollte, und stand ihm auch nicht gleich (vgl § 9 Abs 1, § 2 Abs 1 Satz 1 VwZG des Bundes). Es handelte sich nur um eine Kopie, die weder von der Beklagten noch sonst beglaubigt und außerdem in der Qualität mangelhaft war (zT mit Kugelschreiber nachgezogen). Eine solche Kopie verschaffte der Bevollmächtigten keine zuverlässige und vollständige Kenntnis von der Entscheidung der Beklagten, wie es für den Beginn der Rechtsbehelfsfrist zu verlangen ist.

Hiernach hängt die Frage, ob die Widerspruchsfrist gewahrt ist, davon ab, wann die Bevollmächtigte die beglaubigte Abschrift des Bescheides erhalten hat und ob, wenn das feststeht, am 23. März 1983 die Monatsfrist für den Widerspruch noch gewahrt war. Hiervon wäre auch dann auszugehen, wenn das LSG die genannte Feststellung nicht mehr treffen könnte ("nachweislich", vgl § 9 Abs 1 VwZG des Bundes).

Das LSG wird in seiner abschließenden Entscheidung auch über die Erstattung außergerichtlicher Kosten - einschließlich der des Revisionsverfahrens - zu befinden haben.

 

Fundstellen

NJW 1990, 2836

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