Leitsatz (amtlich)
1. Die einjährige Handlungsfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 gilt nicht für die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides, die für zukünftige "Abschmelzungen" nach § 48 Abs 3 SGB 10 getroffen wird.
2. Ein Grad der Behinderung von weniger als 20 ist nicht ziffernmäßig festzustellen.
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs 4 S 2, § 48 Abs 3; SchwbG § 4 Abs 1 S 1; SGB 10 § 48 Abs 4 S 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 11.10.1988; Aktenzeichen L 15 Vs 58/88) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 08.04.1988; Aktenzeichen S 7 Vs 825/87) |
Tatbestand
Beim Kläger sind verschiedene Behinderungen mit einer Gesamt-Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH anerkannt (Bescheide vom 4. Februar 1982 und 25. April 1984, Teilabhilfebescheid vom 6. November 1984, Widerspruchsbescheid vom 29. November 1984). Ein Antrag auf Feststellung weiterer Behinderungen und auf Höherbewertung des Grades der Behinderung (GdB - früher MdE) ist erfolglos geblieben (Bescheid vom 4. März 1987, Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 1987; insoweit nicht vom Kläger angefochtenes Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 8. April 1988). Während des Vorverfahrens stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 19. Oktober 1987 nach § 48 Abs 3 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) fest, die Verwaltungsakte vom 4. Februar 1982, 25. April 1984, 6. November 1984 und 29. November 1984 seien bei ihrem Erlaß insoweit rechtswidrig gewesen, als der GdB nur 10 betragen habe; davon sei bei zukünftigen, zugunsten des Klägers eintretenden Änderungen auszugehen. Diese Entscheidung wurde durch ein im Oktober 1984 von der Orthopädin Dr. P -L erstattetes Gutachten, das für die Bescheide vom 6. und 29. November 1984 verwertet wurde, veranlaßt. Das SG hat den Bescheid vom 19. Oktober 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 1987 wegen Versäumens der Handlungsfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 iVm § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X aufgehoben; es hat die Klage abgewiesen, soweit eine Änderung des Bescheides vom 4. März 1987 und eine Verurteilung auf Feststellung des GdB mit 50 beantragt wurde (Urteil vom 8. April 1988). Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage bezüglich des Bescheides vom 19. Oktober 1987 abgewiesen (Urteil vom 11. Oktober 1988). Das Berufungsgericht hält die im Hinblick auf § 48 Abs 3 SGB X getroffene Feststellung nicht nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X deshalb für verspätet, weil sie später als ein Jahr nach Bekanntwerden der Begutachtung durch die Orthopädin Dr. P -L vorgenommen wurde. Diese einjährige Ausschlußfrist gelte nur für eine Rückwirkung der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes, eine nach § 48 Abs 3 SGB X vorgenommene Maßnahme, wirke aber nicht in die Vergangenheit zurück, belasse es vielmehr gerade bei der Bestandskraft des als rechtswidrig erkannten Bescheides. Die nach dieser Vorschrift getroffene Feststellung eines GdB von 10 sei auch zutreffend.
Der Kläger rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 48 Abs 3 und 4 und des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Der angefochtene "Abschmelzungs"-Bescheid hätte später als ein Jahr nach Kenntnis der Beurteilung vom Oktober 1984 nicht mehr erteilt werden dürfen, weil er in die Bestandskraft der rechtsverbindlichen Verwaltungsakte eingreife und verhindere, daß auf ihren Inhalt zukünftige Feststellungen wegen Veränderungen aufgebaut werden dürften. Außerdem dürfe eine solche Feststellung der Unrichtigkeit nur beim Eintritt einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X vorgenommen werden. Daran fehle es in seinem Fall.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Die vom Kläger allein beanstandete Feststellung, daß die rechtsverbindlichen Bemessungen der MdE (§ 3 Abs 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz -SchwbG- vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 -) mit 40 vH, neuerdings des entsprechenden GdB (§ 3 Abs 2 und 3, § 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF vom 24. Juli 1986 - BGBl I 1110 -/26. August 1986 - BGBl I 1421 -) rechtswidrig ist, ist nicht aufzuheben.
Die Verwaltung durfte die angefochtene Feststellung nach § 48 Abs 3 SGB X (vom 18. August 1980 - BGBl I 1469 -), der auch im Schwerbehindertenrecht für die Feststellung des GdB gilt (BSGE 60, 287, 291 = SozR 3870 § 3 Nr 29), deshalb treffen, weil die rechtsverbindlichen Bewertungen des GdB (früher der MdE), die den Kläger "begünstigen", rechtswidrig waren aber wegen Fristablaufs (§ 45 Abs 3 Satz 1 SGB X) nicht mehr nach § 45 Abs 1 und 2 SGB X zurückgenommen werden können.
Allerdings ist es bedenklich, der aktuellen Bewertung aller Behinderungen im Schwerbehindertenrecht durch einen bestimmten Grad der Erwerbsminderung oder Beschränkung in gleicher Weise wie in den vom Kausalitätsgrundsatz beherrschten Gebieten der Sozialen Entschädigung eine Rechtsverbindlichkeit auf unbeschränkte Dauer zuzuerkennen und das als eine begünstigende Leistung zu bezeichnen. Aber § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF schrieb eine entsprechende Anwendung des § 62 Bundesversorgungsgesetz und des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vor, und § 4 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF ordnet ergänzend die entsprechende Geltung des SGB X an.
Die tatsächlichen Voraussetzungen für die Bewertung des GdB (früher der MdE), dh der Auswirkungen der festgestellten Behinderungen, hat das LSG für das Revisionsgericht verbindlich festgestellt; der Kläger hat dies nicht mit einer Verfahrensrüge angefochten (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Die angefochtene Feststellung der Rechtswidrigkeit ist als Voraussetzung dafür erforderlich, daß später, falls sich iS des § 48 Abs 1 SGB X der Gesundheitszustand verschlechtern und infolgedessen der zuletzt maßgebende GdB erhöhen würde, nach § 48 Abs 3 SGB X eine "Abschmelzung" oder "Einfrierung" vorzunehmen ist (BSGE 63, 266, 269). Beim Kläger darf dann der GdB nicht aufstockend auf den bisher bestandskräftig anerkannten nach § 48 Abs 1 SGB X entsprechend dem Ausmaß der Änderung neu festgestellt werden (BSGE 63, 259, 263 f = SozR 1300 § 48 Nr 49). Die Feststellung der Unrichtigkeit der rechtsverbindlichen Bescheide kann schon vor einer Änderung getroffen werden. Das liegt im Interesse des Berechtigten, der sich auf die von der Verwaltung herbeizuführende Belastung für den Fall einer für ihn günstigen Veränderung einrichten kann (BSG SozR 1300 § 48 Nr 33 S 104; Urteil des Senats vom 4. Juli 1989 - 9 RV 27/88 -).
Die angefochtene Feststellung war - entgegen der Ansicht des Klägers - nicht wegen Versäumens einer Handlungsfrist nach § 48 Abs 4 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X unzulässig. Die Verweisung auf die Fristen des § 45 SGB betrifft § 48 Abs 3 SGB X nicht, weil hier nur die Befugnis geregelt ist, unabhängig von allen verstrichenen Fristen für eine Rücknahme, die Rechtswidrigkeit eine Bescheides für die zukünftige Entwicklung festzustellen.
Auch wenn das Versorgungsamt mit dem Zugang des im Oktober 1984 erstatteten Gutachtens Kenntnis der Rechtswidrigkeit der GdB Bewertung erlangt hat (dazu BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39; BSGE 63, 224, 228 f = SozR 1300 § 48 Nr 47), durfte es drei Jahre später noch feststellen, daß die rechtsverbindlichen Bescheide über den GdB rechtswidrig sind. Die entsprechende Anwendung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X, die in § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X vorgeschrieben ist, bedeutet, daß ähnlich wie nach § 45 SGB X ein rechtsverbindlicher Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen sein müßte, wie das in manchen Fällen nach § 48 Abs 1 Satz 2 und 3 SGB X in Betracht käme. Diese Regelung will durch die zeitliche Beschränkung der Rücknehmbarkeit auf ein Jahr dem gesteigerten Schutzbedürfnis, das gegenüber einer Rückwirkung besteht, genügen. Diese Voraussetzung fehlt bei dem hier angefochtenen Verwaltungsakt. Er wirkt sich nicht nachteilig für den berechtigten Kläger in der Vergangenheit aus, geht vielmehr davon aus, daß die früher erlassenen Bescheide nicht mehr und damit schon gar nicht rückwirkend zurückgenommen werden können. Die dennoch in ihm ausgesprochene Feststellung, die rechtsverbindlichen Bescheide seien unrichtig, wirkt nicht zurück. Sie kann sich vielmehr erst, wie schon dargelegt, bei einer zukünftigen "Abschmelzungs"-Entscheidung nach § 48 Abs 3 SGB X auswirken. Eine solche ist noch nicht ergangen.
Allerdings ist einschränkend zu entscheiden, daß die neue Bemessung des GdB, von dem bei späteren "Abschmelzungen" auszugehen sein wird, "weniger als 20" statt "10" lauten muß; denn ein GdB von weniger als 20 ist nach § 3 Abs 2 SchwbG 1986 nicht festzustellen (vgl zu dem keinen Rentenanspruch begründenden Grad der MdE; BSGE 7, 126, 128 f). Mit dieser Klarstellung ist der angefochtene Bescheid zu bestätigen.
Im Hinblick auf eine spätere "Abschmelzung" wird vorsorglich darauf hingewiesen, daß auch noch die Unrichtigkeit des Bescheides vom 4. März 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 1987, soweit der GdB mit 40 bestätigt worden ist, festgestellt werden müßte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen