Leitsatz (redaktionell)
Ein stark steh- und - besonders im Straßenverkehr - auch äußerst gehbehinderter Beschädigter ist nicht deshalb hilflos iS des BVG § 35, weil er "im allgemeinen" auf dem Wege von und zur Arbeitsstelle von Angehörigen oder Bekannten begleitet wird. Auch ist der Begriff der Hilflosigkeit nicht dadurch erfüllt, daß ein Beschädigter leicht zum Umfallen neigt und deshalb mehr als andere stark unfallgefährdet ist, da die Pflegezulage keine "Gefährdungszulage" darstellt.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Januar 1963 aufgehoben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. August 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Mit Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 9. September 1952 wurden beim Kläger folgende Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen im Sinne der Entstehung anerkannt: "ausgedehnte Weichteilnarben am re. Arm, re. Achselhöhle, re. und li. Rückenseite, li. Oberschenkel; Schußbruch der 8. und 9. Rippe li. mit Einengung der Leistungsbreite der li. Brustkorbseite nach Schußbruch der 8. und 9. Rippe; Rippfellschwarte beiderseits; Verlust des re. Beines im Hüftgelenk, ungünstige Narbenverhältnisse am re. Gesäß, verbildende Entartung an beiden Kreuzbeindarmbeingelenken, Durchblutungsstörungen am li. Unterschenkel, Überlastungsschaden am li. Bein." Auf Grund dieser Gesundheitsstörungen wurde ihm mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 an eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 v.H., sowie für Mehrverschleiß an Wäsche ein monatlicher Pauschbetrag von 5.-- DM gewährt.
Im Februar 1957 beantragte der Kläger "wegen der bei ihm vorhandenen Hilflosigkeit" die Gewährung einer Pflegezulage; er legte dazu eine fachärztliche Bescheinigung des Direktors der Chirurgischen und Orthopädischen Klinik der O...anstalt ST., Dozent Dr. habil. R., vom 15. Februar 1957 vor, in der ausgeführt war, der Kläger gehe mit dem Beckenkorb (Exartikulation im Hüftgelenk) äußerst mühsam und beschwerlich und sei schon wiederholt hingefallen; er benötige für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens fremde Wartung und Pflege, die Gewährung einer Pflegezulage wegen teilweiser Hilflosigkeit werde befürwortet.
Nach versorgungsärztlicher Untersuchung und Begutachtung erteilte das Versorgungsamt (VersorgA) den Bescheid vom 30. April 1957, mit dem die Mehrverschleißzulage vom 1. Februar 1957 an auf 12,-- DM erhöht, die Gewährung von Pflegezulage jedoch abgelehnt wurde, weil Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht vorliege. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15 November 1957 zurückgewiesen.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf Antrag des Klägers ein Gutachten des Prof. Dr. R. in Stuttgart (vom 4. Juni 1959) eingeholt. Dieser hat die Voraussetzungen zur Gewährung der Pflegezulage als erfüllt angesehen, weil der Kläger wegen Exartikulation des rechten Beines im Hüftgelenk - mit Beckenkorb - äußerst mühsam und beschwerlich gehe und ständig dazu neige, umzufallen, er benötige deshalb ständig die Begleitung durch seine Ehefrau. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger vorgetragen, er arbeite tagsüber bei der Firma Paul von M. in Stuttgart; er begebe sich morgens allein zur Straßenbahn und fahre nach Stuttgart; nach dem Aussteigen treffe er jeweils Kollegen, mit denen er zur Arbeitsstelle gehe; abends gehe er allein von der Straßenbahnhaltestelle nach Hause; beim Anziehen seiner Hose benötige er die Hilfe seiner Ehefrau.
Mit Urteil vom 25. August 1959 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen, weil der Kläger nur zu einzelnen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, nicht aber dauernd in erheblichem Umfang fremder Hilfe bedürfe; eine bloße Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit reiche nicht aus, um den Zustand von Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG herbeizuführen.
Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat der Kläger vorgetragen, es sei nicht so wie vom SG angenommen, daß er täglich allein von zu Hause zur Straßenbahnhaltestelle gehe und abends ebenso allein von dort zu seiner Wohnung zurückkehre; tatsächlich werde er jeweils von Nachbarsleuten, die zur selben Zeit auf dem Wege zur Straßenbahn seien, begleitet und im Notfall auch geführt; ebenso sei es, wenn er abends von der Arbeit zurückkehre; auf dem Wege von der Straßenbahn zur Arbeitsstelle und umgekehrt werde er stets von Arbeitskollegen begleitet; er benötige die Hilfe seiner Ehefrau auch nicht nur zum Anziehen der Hose, es müsse ihm nach seiner Heimkehr am Abend auch beim Abschnallen der schweren Beckenprothese geholfen werden; nach diesem Abschnallen könne er sich nicht mehr selbst bedienen und sei auf die Hilfe der im Haushalt anwesenden Personen angewiesen.
Das LSG hat zur abschließenden Aufklärung des medizinischen Sachverhalts ein Gutachten von der Orthopädischen Universitäts- und Poliklinik in Tübingen eingeholt, das am 28. August 1962 von Prof. Dr. B. erstattet worden ist. Dieser hat dargelegt: Zu den Tätigkeiten im Ablauf des täglichen Lebens, auf die die Rechtsprechung in der Hauptsache abstelle, sei der Kläger in der Regel ohne fremde Hilfe in der Lage; im Hinblick auf den anerkannten Überlastungsschaden am linken Bein und die Durchblutungsstörungen am linken Unterschenkel wirke sich dieser Zustand zeitweilig etwa wie eine Unterschenkelamputation aus, so daß der Kläger zu bestimmten Zeiten nicht in der Lage sei, auf dem linken Fuß unter Zuhilfenahme von Stockstützen zu stehen oder zu gehen oder ohne Stockhilfe zu hüpfen; es handele sich bei ihm um einen Grenzfall, dem man nicht mit der üblichen Legaldefinition des Begriffs der Hilflosigkeit ausreichend gerecht werde, zumal das Gehen mit einem Hüftexartikulationsbein erfahrungsgemäß äußerst schwierig und unsicher sei, so daß eine ständige außergewöhnliche Unfallgefährdung bestehe.
Das LSG hat mit Urteil vom 25. Januar 1963 auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. Februar 1957 an die einfache Pflegezulage (Stufe I) zu gewähren. Es hat ausgeführt: Bei Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen zur Gewährung einer Pflegezulage erfüllt seien, sei wesentlich, welche Tätigkeiten zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens zu rechnen seien. Komme es lediglich darauf an, ob der Beschädigte in der Lage sei, sich allein an- und auszukleiden, die Speisen zu zerkleinern und zu sich zu nehmen, sich zu waschen und zu rasieren sowie die Notdurft zu verrichten, dann müsse festgestellt werden, daß der Kläger alle diese Verrichtungen überwiegend allein und ohne fremde Hilfe ausführen könne. Denn er benötige nur zum An- und Ablegen der Hose sowie der Schuhe und Strümpfe rechts und zum An- und Abschnallen der Prothese die Mithilfe seiner Ehefrau oder anderer Angehöriger. Das alles seien aber nur einzelne Verrichtungen, die regelmäßig nur morgens und abends je einmal vorzunehmen und im allgemeinen auch voraussehbar seien; die dauernde Anwesenheit einer fremden Hilfskraft sei deswegen nicht erforderlich. Ebenso sei der Umstand, daß der Kläger sich abends nach der Heimkehr meist seiner schweren Beckenprothese entledige und ohne diese dann in seiner Bewegungsfähigkeit stark gehindert und hinsichtlich der Fortbewegungsmöglichkeit nahezu hilflos sei, für die Annahme von Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht ausreichend, zumal das Ablegen der Prothese nicht unvermeidlich sei und vorwiegend seiner Entlastung diene. Da es überdies hinsichtlich des linken Beines allein auf die dauernd bestehenden Schäden, nämlich die anerkannten Durchblutungsstörungen und den Überlastungsschaden, ankomme, liege entgegen der Auffassung des Prof. Dr. B. auch die Voraussetzung eines "Doppelamputierten" - mit Anspruch auf Gewährung der einfachen Pflegezulage - nicht vor. Trotzdem, so hat das Berufungsgericht weiter ausgeführt, seien aber im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 35 BVG als erfüllt anzusehen. Denn er gehe trotz einer Vielzahl an verschiedenen Schädigungsfolgen einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und müsse hierzu einen weiten Weg von und zur Arbeitsstelle zurücklegen, ohne sich dabei den Gefahren des Großstadtverkehrs entziehen zu können. Beim Weg von und zur Straßenbahn und beim Umsteigen sei er, wie Prof. Dr. B. festgestellt habe, äußerst steh- und gehbehindert und ständig außergewöhnlich unfallgefährdet, weil nicht nur das Gehen mit einem Hüftexartikulationsbein erfahrungsgemäß sehr schwierig und unsicher sei, sondern weil zu dieser Behinderung noch die anerkannte Schädigungsfolge am anderen Bein mit Beeinträchtigung der Gehfähigkeit hinzutrete; durch den statischen Funktionsausfall der Wirbelsäule werde dieser Zustand noch verstärkt. Bei all dem sei unerheblich, daß der Kläger im allgemeinen auf dem Wege von und zur Arbeitsstelle von seinem Sohn, von Nachbarn oder von Arbeitskollegen begleitet werde und deshalb insoweit keine Aufwendungen entstünden. Denn wiederholten sich diese Vorgänge - abgesehen von den Wegen zur Entspannung und geistigen Erholung - täglich auch nur zweimal, so sei die notwendige Hilfeleistung doch als erheblich anzusehen. Nach allem stehe dem Kläger die einfache Pflegezulage zu. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses ihm am 6. März 1963 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 13. März 1963, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 19. März 1963, Revision eingelegt. Mit der - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 6. Juni 1963 - am 4. Juni 1964 eingegangenen Revisionsbegründungsschrift vom 29. Mai 1963 rügt er die Verletzung des § 35 BVG und der §§ 103, 128 SGG durch das LSG und trägt vor: Nach dem vorliegenden Sachverhalt und den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen seien beim Kläger die Voraussetzungen zur Gewährung von Pflegezulage nicht gegeben; denn dieser sei in der Lage, die gewöhnlichen und notwendigen persönlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens überwiegend allein und ohne fremde Hilfe auszuführen. Eine bei der Teilnahme am Straßenverkehr vorhandene Hilfsbedürftigkeit bedeute noch keine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes; daran ändere nichts, wenn der Kläger noch erwerbstätig und damit gezwungen sei, am Straßenverkehr teilzunehmen. Im übrigen habe das LSG auch gegen seine Pflicht zur Sachaufklärung und gegen die Regeln der Beweiswürdigung verstoßen, wenn es die erst im Berufungsverfahren vom Kläger vorgebrachten Angaben, daß er auch von und zur Straßenbahn von Nachbarn oder Arbeitskollegen begleitet werde, nicht durch Zeugen habe erhärten lassen; denn vor dem SG habe der Kläger - ebenso wie seine Ehefrau - noch ausdrücklich erklärt, daß er den Weg von und zur Straßenbahnhaltestelle allein zurücklege.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Januar 1963 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 25. August 1959 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Auf die Schriftsätze des Beklagten vom 13. März und 29. Mai 1963 und auf den des Klägers vom 2. August 1963 wird verwiesen.
Die vom LSG zugelassene und deshalb nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist vom Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164 Abs. 1, 166 SGG) und somit zulässig. Bei einer zulässigen Revision hat das Revisionsbericht (auch ohne Revisionsrüge) aber auch von Amtswegen die Zulässigkeit schon der Berufung zu prüfen (DSG 2, 225; 3, 124). Im vorliegenden Fall ist die Berufung, insbesondere im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG, nicht ausgeschlossen. Denn bei dem im Streit stehenden Bescheid vom 30. April 1957 handelt es sich hinsichtlich der Pflegezulage um eine Erstfeststellung im ablehnenden Sinne, ohne daß dem mit der Klage angefochtenen Bescheid ein anderer Bescheid vorausgegangen ist, mit dem über die Gewährung einer Pflegezulage - bejahend oder verneinend - erkennbar entschieden worden wäre. Mangels Vorliegens einer Vergleichsgrundlage handelt es sich somit im Falle des Klägers hinsichtlich der Pflegezulage nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne der die Berufung ausschließenden Vorschrift des § 148 Nr. 3 SGG (vgl. BSG 3, 271, 274; 8, 97).
Das LSG hat aber § 35 BVG verletzt, so daß die Revision des Beklagten begründet ist.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob dem Kläger wegen der bei ihm bestehenden, als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen eine Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG zusteht. Diese Vorschrift in der bis zum 31. Mai 1960 geltenden Fassung (§ 35 BVG aF), nach der eine Pflegezulage gewährt wird, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Pflege und Wartung bestehen kann, ist durch das am 1. Juni 1960 in Kraft getretene Erste Neuordnungsgesetz (1. NOG) zum BVG vom 27. Juni 1960 (BGBl. I 453) dahin neu gefaßt worden, daß eine Pflegezulage gewährt wird, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe bedarf (§ 35 BVG nF). Hierzu hat das LSG zutreffend erkannt, daß der nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG aF ergangene Bescheid vom 30. April 1957 sowohl nach § 35 BVG aF als auch nach § 35 BVG nF überprüft werden muß; denn das Gericht - vorliegend also auch das Revisionsgericht - hat bei einer wie hier vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage nicht nur das Recht anzuwenden, das im Zeitpunkt des Erlasses eines Bescheides oder eines vordergerichtlichen Urteils galt; vielmehr ist ein Streitfall grundsätzlich auf der Grundlage des bei der Verkündung eines gerichtlichen Urteils geltenden Rechts zu prüfen, sofern es das streitige Rechtsverhältnis erfaßt; Änderungen der Sach- und Rechtslage nach Erlaß eines angefochtenen Verwaltungsaktes sind also auch dann zu berücksichtigen, wenn das von der Verwaltungsbehörde angewandte materielle Recht geändert worden ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats in BSG 12, 127, 130).
Das LSG hat sich im wesentlichen zwar darauf beschränkt, den § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG aF einschließlich der zu ihm ergangenen Verwaltungsvorschriften (VerwV) und den § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG nF miteinander zu vergleichen. Dabei ist es aber offenbar davon ausgegangen, daß der Zweck des § 35 BVG, einem hilflosen Beschädigten eine Pflegezulage zu gewähren, um die Nachteile dafür auszugleichen, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann, derselbe geblieben ist. Diese Auffassung trifft zu; die Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG durch das 1. NOG hat an den sachlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage nichts geändert (vgl. Urteil des 10. Senats des BSG vom 29. Mai 1962 - 10 RV 1235/58), sie stellt lediglich eine Auslegung der ursprünglichen Fassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG (aF) dar.
Das LSG ist in dem angefochtenen Urteil zu der Auffassung gelangt, daß der Kläger hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG aF und nF ist. Es hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Kläger ist überwiegend allein und ohne fremde Hilfe in der Lage, sich an- und auszukleiden, die Speisen zu zerkleinern und zu sich zu nehmen, sich zu waschen und zu rasieren sowie die Notdurft zu verrichten; zum An- und Ablegen der Hose, der Schuhe und Strümpfe rechtsseitig sowie zum An- und Abschnallen der Prothese bedarf er jedoch der Mithilfe seiner Angehörigen; abends nach der Rückkehr von der Arbeit und nach dem Abschnallen der schweren Beckenprothese ist er in seiner Bewegungsfreiheit stark gehindert und hinsichtlich der Fortbewegungsmöglichkeit nahezu hilflos. An den Arbeitstagen muß der Kläger in einem Vorort von Stuttgart morgens von seiner Wohnung zur Haltestelle der Straßenbahn gehen, während der Fahrt umsteigen und nach Beendigung der Fahrt den Weg zur Arbeitsstelle zurücklegen, was sich abends in umgekehrter Folge wiederholt; hierbei ist der Kläger infolge des Verlustes des rechten Beines im Hüftgelenk unter Mitwirkung der anerkannten Schäden am linken Bein und durch die weitgehend beeinträchtigte Statik infolge der Schäden am Becken und an der unteren Wirbelsäule äußerst steh- und gehbehindert und deshalb ständig unfallgefährdet, weil er dazu neigt, umzufallen; aus diesem Grunde wird er auf seinen Wegen "im allgemeinen" von seinem Sohn, von Nachbarn oder von Arbeitskollegen begleitet.
An diese Feststellungen des LSG ist der erkennende Senat nach § 163 SGG gebunden, soweit sie vom Beklagten zur Frage der Begleitung des Klägers auf seinen Wegen von und zur Arbeitsstelle durch seinen Sohn, durch Nachbarn oder durch Arbeitskollegen nicht mit den Revisionsrügen der Verletzung der §§ 103 und 128 Abs. 1 SGG angegriffen worden sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist hilflos im Sinne des § 35 derjenige Beschädigte, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG 8, 97, 99). Bei der Entscheidung über die Frage, ob Hilflosigkeit vorliegt, kommt es auf wirtschaftliche Gesichtspunkte nicht an, sondern allein auf den Leidenszustand des Beschädigten und die hierdurch bedingte persönliche Wartung und Pflege, während die Stellung des Beschädigten in seiner Lebensführung im weiteren Sinne unberücksichtigt bleiben muß (BSG 8, 97, 99; 12, 20, 22). Die Pflegezulage ist mithin auf den höchstpersönlichen Lebensbereich des Beschädigten abzustellen, wobei z.B. grundsätzlich unbeachtlich ist, ob er verheiratet ist oder nicht (BSG aaO). Die Pflegezulage nach § 35 BVG wird nicht schon wegen Hilfsbedürftigkeit des Beschädigten, sondern nur wegen Hilflosigkeit gewährt (BSG 3, 217,222). Ob ein Zustand der Hilflosigkeit in dem vorstehenden Sinne besteht, ist keine rein medizinische, sondern eine Tatfrage; sie muß in jedem Falle unabhängig von der medizinischen Auffassung geprüft werden (s. BSG in SozR BVG § 35 Nr. 7).
Bei dem Kläger handelt es sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts um einen Schwerbeschädigten, der infolge seiner schweren Schädigungsfolgen steh- und - besonders im Straßenverkehr - auch äußerst gehbehindert ist, der leicht zum Umfallen neigt und deshalb ständig unfallgefährdet ist. Die Schwere des Leidens und die Notwendigkeit fremder Hilfe zu einzelnen lebensnotwendigen, im täglichen Lebensablauf wiederholt vorzunehmenden Handlungen sind aber entgegen der Auffassung des LSG nicht allein entscheidend für die Gewährung einer Pflegezulage; es kommt vielmehr darauf an, ob der Beschädigte "für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden persönlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe bedarf" (vgl. Urteil des 10. Senats des BSG vom 26. September 1961 - 10 RV 179/59). Dies ist vorliegend nicht der Fall; denn der Kläger bedarf für das An- und Auskleiden - mit Ausnahme der Hose und der Schuhe und Strümpfe rechts (als Einzelverrichtungen) -, für das Essen und Trinken, Waschen, Rasieren und für das Verrichten der Notdurft keiner dauernden Hilfe. Durch die Tatsache aber, daß er stark steh- und - besonders im Straßenverkehr - auch äußerst gehbehindert ist, werden die Voraussetzungen zur Gewährung einer Pflegezulage nicht erfüllt, und zwar selbst dann nicht, wenn der Kläger im "allgemeinen" auf dem Wege von und zur Arbeitsstelle von seinem Sohn, von Nachbarn oder von Arbeitskollegen begleitet wird. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob die Feststellung des Berufungsgerichts über die Teilnahme des Klägers im Straßenverkehr "im allgemeinen in Begleitung" verfahrensrechtlich nicht einwandfrei getroffen worden ist, wie der Beklagte meint; Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG wäre selbst dann beim Kläger nicht vorhanden, wenn für ihn Hilfe im Straßenverkehr nicht nur "im allgemeinen", sondern sogar regelmäßig erforderlich wäre. Denn selbst bei regelmäßig notwendiger Hilfe im Straßenverkehr handelt es sich nur um eine zeitweilige und nicht um eine solche, die in erheblichem Umfange dauernd geleistet werden muß oder die Bereitschaft einer Hilfskraft jederzeit erforderlich macht (vgl. Urteil des 10. Senats vom 26. September 1961). Schließlich ist auch durch die Tatsache, daß der Kläger wegen seiner Schädigungsfolgen leicht zum Umfallen neigt und deshalb mehr als andere stark unfallgefährdet ist, der Begriff der Hilflosigkeit nicht als erfüllt anzusehen. Die Pflegezulage stellt keine ihrem Sinn und Zweck entfremdete "Gefährdungszulage" dar, die einem Beschädigten, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Leistungen im Ablauf des täglichen Lebens keiner dauernden fremden Hilfe bedarf, lediglich zur Verhütung möglicher Gesundheitsstörungen bei künftig gegebenenfalls zu erwartenden Unfällen gewährt werden könnte (vgl. BSG in SozR BVG § 35 Nr. 14).
Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage sind somit beim Kläger nicht erfüllt, so daß die Revision des Beklagten begründet ist. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils war deshalb die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG nach dem Antrag des Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen