Entscheidungsstichwort (Thema)
Wesentliche Besserung und neue Schädigungsfolgen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vorschrift des BVG § 62 Abs 3 S 1 ist eng auszulegen. Sie soll nur die Rente in ihrer bisher festgesetzten Höhe schützen und ihren Bestand sichern. Diese "Rentenbestandsgarantie" schließt auch nicht aus, daß bei einer notwendig gewordenen Neuregelung der Versorgungsverhältnisse den gesetzlichen Vorschriften der BVG §§ 62 Abs 1, 30 Abs 1 und 2 entsprechende Feststellungen getroffen werden, sofern die bisherige Rentenleistung unberührt bleibt.
2. Eine wesentliche Besserung der bisherigen Schädigungsfolgen muß demnach nur insofern unberücksichtigt bleiben, als wegen dieser Besserung keine niedrigere Rente zu gewähren ist. Daraus ist aber nicht herzuleiten, daß die Rente bei Hinzutreten einer neuen Schädigungsfolge erhöht werden muß, auch wenn die rechtmäßig und den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend festgestellte schädigungsbedingte Gesamt-Minderung der Erwerbsfähigkeit diese Erhöhung nicht rechtfertigt.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1966-12-28
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. März 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger, geboren im Jahre 1913, bezieht Versorgung seit 1948. Aufgrund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) waren durch den Bescheid vom 13. Juni 1952 als Schädigungsfolgen anerkannt: Kniegelenkversteifung links und noch aktive Knochenmarkseiterung nach Granatsplitterverletzung, Bewegungseinschränkung im linken Sprunggelenk, belanglose Narben am Kreuzbein und linken Schulterblatt; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) war mit 60 v. H. vom 1. Februar 1952 an festgestellt. Anläßlich einer Badekur stellte sich zu Beginn des Jahres 1968 eine wesentliche Besserung der aktiven Knochenmarkseiterung am linken Bein heraus, worauf der Beklagte durch den Bescheid vom 10. Juni 1968 die Schädigungsfolgen neu feststellte; der Grad der MdE wurde mit 60 v. H. beibehalten. Auf den Widerspruch, mit welchem u. a. ein Geschwürleiden am linken Unterschenkel als weitere Schädigungsfolge geltend gemacht und eine Erhöhung der Rente nach einer MdE um 70 v. H. beantragt wurde, holte die Versorgungsverwaltung das Gutachten des Medizinaldirektors Dr. Baumgärtner vom 14. Mai/28. Juli 1971 ein, der unter Verwendung des ärztlichen Schlußzeugnisses nach einer Badekur vom 14. Oktober 1968 zu dem Ergebnis gelangte, daß die Knochenmarkseiterung zur Ruhe gelangt sei und die MdE für die noch bestehenden Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 1 BVG mit nicht mehr als 40 v. H. und unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG mit 50 v. H. einzuschätzen sei. Darauf stellte das Versorgungsamt durch den Bescheid vom 14. Oktober 1971 die Schädigungsfolgen wie folgt fest:
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1. |
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Kniegelenksversteifung links in Streckstellung mit zur Ruhe gekommener Knochenmarkseiterung und reizlosen Narben im Bereich des unteren Oberschenkels und des oberen Unterschenkeldrittels links, |
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2. |
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Bewegungseinschränkung im linken Sprunggelenk, |
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3. |
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knochenverwachsene Narbenbildung im Bereich des Kreuzbeins, reizlose Narbe im Bereich des linken Schulterblatts und in der linken Schlüsselbeingrube, und zwar hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG; |
die MdE verblieb weiterhin bei 60 v. H. Durch Bescheid vom 19. November 1971 wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) den Widerspruch gegen die Bescheide vom 10. Juni 1968 und 14. Oktober 1971 zurück. Nach den ärztlichen Gutachten sei zwar eine wesentliche Besserung der bisherigen Schädigungsfolgen festzustellen, dies könne jedoch nach § 62 Abs. 3 BVG nicht zu einer niedrigeren Festsetzung der MdE führen; das Geschwürleiden am linken Unterschenkel sei nicht auf die Schädigung, sondern auf die hiervon unabhängigen Krampfadern zurückzuführen.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, als weitere Schädigungsfolge eine Krampfaderbildung am linken Bein anzuerkennen und Rente nach einer MdE um 70 v. H. zu zahlen. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie, Obermedizinalrat Dr. N, eingeholt. Hierauf gestützt, erklärte sich im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 7. November 1973 der Beklagte bereit, als Teilanerkenntnis zusätzlich zu den im Bescheid vom 14. Oktober 1971 festgestellten Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen:
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4. |
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Krampfadern am linken Unterschenkel mit Neigung zur Bildung von Unterschenkelgeschwüren |
(vgl. Ausführungsbescheid vom 22. Februar 1974). Durch Urteil vom gleichen Tage hat das SG die Klage hinsichtlich der Höhe der MdE abgewiesen. Es hat sich die Auffassung des Klägers nicht zu eigen gemacht, daß ihm unabhängig von der nachgewiesenen Besserung der anerkannten Schädigungsfolgen die MdE in Höhe von 60 v. H. erhalten bleiben und diese wegen der nunmehr zusätzlich anerkannten Schädigungsfolge auf 70 v. H. erhöht werden müsse. Vielmehr werde durch die Vorschrift des § 62 Abs. 3 BVG nur eine Herabsetzung der MdE untersagt, im übrigen sei aber eine Neufeststellung der Schädigungsfolgen nach § 62 Abs. 1 BVG bei Eintritt einer wesentlichen Besserung möglich.
Demgegenüber ist der Kläger mit der zugelassenen Berufung bei seiner Auffassung geblieben, daß ihm Rente nach einer MdE um 70 v. H. zustehe. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 14. März 1975 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. § 62 Abs. 3 BVG verbiete nur eine Herabsetzung der MdE und enthalte keine Bewertungsvorschrift. Insbesondere ändere er § 30 Abs. 1 und 2 BVG nicht ab, so daß eine Neufeststellung der Schädigungsfolgen bei Eintritt einer wesentlichen Besserung nach § 62 Abs. 1 BVG möglich sei. Das Verbot des § 62 Abs. 3 BVG, die MdE entsprechend einer nachgewiesenen wesentlichen Besserung herabzusetzen, sei eng auszulegen und komme in Fällen der vorliegenden Art nicht zum Zuge, wenn der wesentlichen Besserung eine Verschlimmerung gegenüberstehe und die MdE so hoch sei wie früher. Dies werde auch durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift belegt. Die Revision wurde zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. März 1975 und des Urteils des Sozialgerichts München vom 7. November 1973 sowie in Abänderung der angefochtenen Bescheide vom 14. Oktober 1971, 19. November 1971 und 22. Februar 1974 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für die anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. März 1969 Versorgungsrente nach einer MdE um 70 v. H. zu gewähren.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 62 Abs. 3 BVG und ist der Ansicht, daß durch § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG nicht nur eine Neufeststellung der MdE, sondern auch der Schädigungsfolgen untersagt sei.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. März 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Kläger hat die durch Zulassung statthafte Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sein zulässiges Rechtsmittel konnte keinen Erfolg haben.
Streitig ist, ob dem Kläger eine höhere Rente als nach einer MdE um 60 v. H. zusteht. Das LSG hat dies zu Recht und mit zutreffender Begründung verneint.
Nach den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG haben sich die ursprünglich anerkannten Schädigungsfolgen des Klägers, die (nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG) mit einer MdE um 60 v. H. bewertet worden sind, insofern wesentlich gebessert (§ 62 Abs. 1 BVG), als eine Knochenmarkseiterung nicht mehr besteht. Demgegenüber ist eine weitere neu als Schädigungsfolge anerkannte Gesundheitsstörung hinzugekommen, nämlich ein Krampfaderleiden, das mit einer MdE um 15 v. H. bewertet wird. Fest steht, daß die jetzige schädigungsbedingte Gesamt-MdE des Klägers - unter Einschluß der neu anerkannten Schädigungsfolge - 60 v. H. beträgt, also der Rentenleistung entspricht, die der Kläger erhält.
Die Auffassung des Klägers, ihm sei gleichwohl eine Rente nach einer höheren MdE zu gewähren, weil bei der beantragten Neuregelung des Versorgungsverhältnisses die wesentliche Besserung der bisher anerkannten Schädigungsfolgen nicht zu berücksichtigen sei, trifft nicht zu; auch § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG vermag sie nicht zu stützen. Nach dieser Vorschrift ist "bei Versorgungsberechtigten, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, die MdE wegen Besserung des Gesundheitszustandes nicht niedriger festzusetzen, wenn sie in den letzten zehn Jahren seit Feststellung nach dem BVG unverändert geblieben ist." Die Vorschrift will eine Beruhigung der älteren Kriegsbeschädigten dadurch herbeiführen, daß sie gegen eine Minderung ihrer Rente geschützt werden, wenn sie sie zehn Jahre lang unverändert bezogen haben. Sie soll außerdem der Vereinfachung der Verwaltungsarbeiten dienen. Nicht nur im Interesse des geschützten Personenkreises, sondern auch zur Vermeidung eines unangemessenen Verwaltungsaufwands soll die medizinische Erörterung "älterer Versorgungsfälle" als abgeschlossen betrachtet werden können, falls sie nicht, wie hier, durch einen Leistungserhöhungsantrag des Beschädigten erneut veranlaßt wird. Die Regelung ist ein Ausfluß der Fürsorge der Versorgungsverwaltung für die von ihr betreuten Kriegsbeschädigten nach Art einer Garantie des Besitzstandes hinsichtlich der bisher gewährten Rente. Dabei ist zu beachten, daß diese Regelung von dem leitenden Gedanken des Versorgungsrechts, Leistungen aus der Kriegsopferversorgung nur dann und soweit zu gewähren, als Schädigungsfolgen vorliegen und sich auswirken, abweicht. Es wird hier von vornherein in Kauf genommen, daß höhere Leistungen erbracht werden, als sie den tatsächlichen Gegebenheiten und dem regelmäßigen Ausmaß der versorgungsrechtlichen Entschädigungspflicht entsprechen. Die Vorschrift des § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG ist eine Ausnahme von dem in § 62 Abs. 1 BVG ausgesprochenen Grundsatz, daß bei Änderung der Verhältnisse die Leistung den veränderten Verhältnissen anzupassen ist, also die systemgerechte ("richtige") Leistung zuzuerkennen ist. Die Vorschrift ist demgemäß eng auszulegen. Es besteht kein Anhalt dafür, daß § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG entgegen dem in § 62 Abs. 1 BVG ausgesprochenen Grundsatz einen weitergehenden Bestandsschutz für unrichtig gewordene Bewilligungsbescheide begründet, als den, daß die bisherige Rentenleistung unverändert bleiben soll.
Der Sinn und Zweck der Vorschrift ist darin zu sehen, daß die bisherige Rentenleistung als das Ergebnis der früheren MdE-Bemessung erhalten bleibt, weil angenommen wird, daß der geschützte Personenkreis der älteren Beschädigten sich auf die langjährig gewohnte Rentenleistung wirtschaftlich eingestellt hat und ihm eine Umstellung auf geringere Leistungen nicht mehr zuzumuten ist.
Die Vorschrift des § 62 Abs. 3 Satz 1 BVG soll danach, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, nur die Rente in ihrer bisher festgesetzten Höhe schützen und ihren Bestand sichern. Diese "Rentenbestandsgarantie" schließt aber nicht aus, daß bei einer notwendig gewordenen Neuregelung der Versorgungsverhältnisse den gesetzlichen Vorschriften der §§ 62 Abs. 1, 30 Abs. 1 und 2 BVG entsprechend Feststellungen getroffen werden, sofern die bisherige Rentenleistung unberührt bleibt.
Die wesentliche Besserung der bisherigen Schädigungsfolgen mußte nur insofern unberücksichtigt bleiben, als wegen dieser Besserung keine niedrigere Rente zu gewähren war. Daraus ist aber nicht herzuleiten, daß die Rente bei Hinzutreten einer neuen Schädigungsfolge erhöht werden mußte, auch wenn die rechtmäßig und den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend festgestellte schädigungsbedingte Gesamt-MdE diese Erhöhung nicht rechtfertigt.
Demgemäß entspricht die angefochtene Entscheidung der Sach- und Rechtslage, so daß die Revision zurückgewiesen werden mußte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 154 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG vorlagen, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen