Leitsatz (amtlich)
Für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmales "Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes" in § 1265 S 2 Nr 2 RVO genügt es, wenn die frühere Ehefrau des Versicherten ein minderjähriges Kind zu erziehen hatte und tatsächlich erzog, sofern das Kind zu dem Personenkreis gehört, der nach § 1267 RVO für den Bezug einer Waisenrente in Betracht kommt.
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Nr 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 23.07.1980; Aktenzeichen L 14 Ar 533/79) |
SG München (Entscheidung vom 22.06.1979; Aktenzeichen S 3 Ar 1893/78) |
Tatbestand
Die am 8. September 1918 geborene Klägerin war mit dem 1905 geborenen J S verheiratet. Die Eheleute nahmen im Januar 1950 das im Jahr 1949 geborene Kind K P in unentgeltliche Dauerpflege auf. Die Ehe wurde im November 1951 aus dem Verschulden des Mannes geschieden. Die Klägerin zog das Kind auf. Sie und der Versicherte gingen keine weiteren Ehen ein. Der Versicherte ist am 15. November 1976 gestorben.
Der erste Antrag der Klägerin auf Rente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) blieb erfolglos. Nach der Vollendung des 60. Lebensjahres stellte die Klägerin erneut einen Antrag. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 6. Oktober 1978 den Antrag ab, weil dieser keine anderen Tatsachen enthalte als der erste Antrag.
Das Sozialgericht München hat mit Urteil vom 22. Juni 1979 die Klage abgewiesen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 23. Juli 1980 die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid sei kein Bescheid nach § 1300 RVO, da mit der Vollendung des 60. Lebensjahres der Klägerin eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten sei. Die Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO seien unstreitig nicht gegeben. Aber auch nach § 1265 Satz 2 RVO sei der Anspruch nicht begründet, weil jedenfalls die Voraussetzungen der Nr 2 dieses Satzes nicht vorlägen. Die Klägerin habe im Zeitpunkt der Scheidung weder ein waisenberechtigtes Kind zu erziehen noch für ein Kind, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhielt, zu sorgen noch habe sie das 45. Lebensjahr vollendet gehabt. Im Jahr 1951 hätten die Pflegekinder noch nicht zu waisenrentenberechtigten Kindern gehört.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1265 und 1267 RVO. Sie trägt ua vor: § 1265 Satz 2 Nr 2 RVO gehe von der Waisenrentenberechtigung des geltenden Rechts, nicht von der Rechtslage zur Zeit der Scheidung aus. Sie beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid
der Beklagten vom 6. Oktober 1978 aufzuheben und
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die
Zeit vom 1. Oktober 1978 an Rente nach § 1265 RVO
zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen einen Anspruch auf Rente nach § 1265 RVO.
Grundlage des Anspruchs ist § 1265 RVO in der bei Eintritt des Versicherungsfalles, am 15. November 1976, geltenden Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965), geändert durch Art 2 § 1 Nr 20 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975 (BGBl I 1061). Nach Satz 1 dieser Vorschrift wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ... ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte Unterhalt zu leisten hatte oder geleistet hat. Ist eine Witwenrente aus diesen Gründen nicht zu gewähren, so erhält die geschiedene Frau gemäß Satz 2 Der Vorschrift Rente,
1. wenn eine Unterhaltsverpflichtung ... wegen der
Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit
nicht bestanden hat und
2. wenn die frühere Ehefrau im Zeitpunkt der Scheidung ...
der Ehe mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind
zu erziehen ... hatte und
3. ... wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet hat.
Die Vorinstanzen haben ausgeführt, daß alle Voraussetzungen für eine Rente nach § 1265 Satz 2 Nr 1 und 3 RVO vorliegen. Fraglich ist allein, ob die Klägerin durch die Erziehung des Kindes K P die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 Nr 2 RVO erfüllt hat.
Nach der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des RRG sollten "in Zukunft alle früheren Ehefrauen eines verstorbenen Versicherten für die Dauer einer Invalidität oder der Kindererziehung einen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente haben" (BT-Drucks VI/2916 S 41). Die Änderung des § 1265 RVO wurde dann aufgrund eines Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks zu VI 37ö7 S 9) zwar zunächst fallen gelassen, aber schließlich entsprechend einem Änderungsantrag aller Fraktionen (Protokoll der 198. Sitzung des Bundestages, S 11 711 und 11 719 A, Umdruck 315) wieder aufgenommen, wenn auch in leicht abgeänderter Form.
Die Teilregelung, die sich mit der Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes befaßt, hat von Anfang an gewisse Auslegungsschwierigkeiten gebracht und war mehrfach Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen. Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat im Urteil vom 19. August 1976 - 11 RA 110/75 - (BSGE 42, 156 = SozR 2200 § 1265 Nr 22) zunächst darauf hingewiesen, das Wort "waisenrentenberechtigt" bedeute hier nicht, daß das Kind zur Zeit der Auflösung der Ehe einen Anspruch auf Waisenrente gehabt haben müsse. Im Zeitpunkt der Scheidung der Ehe müsse der Versicherte noch gelebt haben, einen Waisenrentenanspruch ohne Tod des Versicherten gebe es aber nicht. Bereits dies zwinge zu einer Auslegung, die für den Begriff "waisenrentenberechtigt" nicht das Vorhandensein aller materiell-rechtlicher Voraussetzungen des Anspruchs auf Waisenrente fordere. Darüber hinaus hat der Senat aber auch die Auffassung abgelehnt, daß wenigstens die übrigen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs zur Zeit der Eheauflösung vorgelegen haben müßten. Die Ehe jener Klägerin mit dem Versicherten war im Jahr 1939 geschieden worden; damals war die Anwartschaft nicht mehr erhalten, weshalb das Kind nach damaligem Recht keine Waisenrente hätte erhalten können. Der 11. Senat hat diesem Umstand keine Bedeutung beigemessen, sondern es genügen lassen, daß das Kind zum Personenkreis der grundsätzlich waisenrentenberechtigten Kinder gehörte.
Der erkennende Senat hat sich in dem nicht veröffentlichten Urteil vom 31. August 1976 - 4 RJ 79/75 - dieser Auffassung angeschlossen. Auch in diesem Fall hatte das Kind der geschiedenen Frau im Zeitpunkt der Scheidung (1953) aus zwei Gründen keinen Anspruch auf Waisenrente gehabt: der versicherte Vater lebte noch, und die Anwartschaft aus den für ihn geleisteten Beiträgen war erloschen. Der Senat hat die Zuerkennung von Geschiedenenwitwenrente gebilligt, weil weitere als die persönlichen Voraussetzungen eines Waisenrentenanspruchs nicht zu fordern seien.
Schließlich hat der erkennende Senat im Urteil vom 5. November 1980 - 4 RJ 97/79 - (BSGE 50, 271 = SozR 2200 § 1268 Nr 15) für den rechtsähnlichen Fall des § 1268 Abs 2 Satz 1 Nr 2 RVO (erhöhte Witwenrente) ausgeführt, es genüge, wenn die Witwe ein Kind erziehe, das zum Personenkreis des § 1267 iVm § 1262 Abs 2 RVO gehöre; nicht erforderlich sei, daß dem Kind eine Waisenrente zu zahlen sei. In den Entscheidungsgründen hat er dahingestellt gelassen, ob auch die versicherungsrechtliche Beziehung des Kindes zu einer anderen Person als dem Versicherten ausreiche.
Die Kommentare treten ebenfalls für die ausdehnende Anwendung des Begriffs "waisenrentenberechtigtes Kind" ein. Der Verbands-Kommentar zur RVO ist der Ansicht (Anm 15 zu § 1265, Stand: 1978-01-01), daß mit "waisenrentenberechtigt" der Begriff "minderjährig" gemeint sei, weil das Gesetz bezwecke, durch die Gewährung der Geschiedenen-Witwenrente der geschiedenen Ehefrau die Erziehung ihrer minderjährigen Kinder zu ermöglichen. Auch Zweng/Scheerer (Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm II 2 C b, Stand: Juli 1979) wollen den Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" ausdehnend auslegen und durch "minderjähriges Kind" ersetzen. Nach Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 707 m, Stand: August 1978) brauche es sich bei der Waisenrentenberechtigung nicht um dasselbe Versicherungsverhältnis zu handeln, aus dem auch die Witwenrente gezahlt wird, das Kind brauche nicht ein leibliches Kind der Witwe zu sein, und die tatsächliche Auszahlung der Waisenrente in dem maßgebenden Zeitraum sei nicht gefordert. Nach Hoernigk/Jorks (Rentenversicherung, Anm 7 zu § 1268 RVO) brauche die Waisenrentenberechtigung des Kindes nicht auf der Versicherung des verstorbenen Mannes der Witwenrentenberechtigten zu beruhen; es reiche aus, wenn aus irgendeiner Versicherung Waisenrente bezogen werde (aA Arbeitsanweisungen der Rentenabteilung der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz, Mitt LVA Rheinpr 1977, 335, 340).
Der Senat hält an der bisherigen Rechtsprechung des BSG fest; er ist der Auffassung, daß es erforderlich ist, den Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" in § 1265 Satz 2 Nr 2 RVO, wie bereits erörtert, ausdehnend auszulegen, um das vom Gesetzgeber mit der gesetzlichen Neuregelung erstrebte Ziel zu erreichen. Für die Erfüllung dieser Voraussetzung genügt es deshalb, wenn die frühere Ehefrau des Versicherten ein minderjähriges Kind zu erziehen hatte und tatsächlich erzog, sofern das Kind zu dem Personenkreis gehört, der nach § 1267 RVO für den Bezug einer Waisenrente in Betracht kommt.
In dem Zusammenhang tritt die Frage auf, nach welcher Rechtslage die Zugehörigkeit zu dem Personenkreis zu beurteilen ist, um dem Sinn der gesetzlichen Regelung gerecht zu werden. Dabei wäre es denkbar, auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Scheidung, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 1265 Satz 2 RVO - Inkrafttreten des RRG - oder zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles abzustellen. Nach Auffassung des Senats kann zur Bestimmung des Personenkreises der Waisenrentenberechtigten jedenfalls nicht der Zeitpunkt der Scheidung als maßgebend angesehen werden. Im Laufe der sozialversicherungsrechtlichen Entwicklung hat dieser Personenkreis mehrfach Änderungen erfahren. So bestimmte § 1258 Abs 2 RVO idF der Verordnung vom 17. Mai 1934 (RGBl I 419) nur die ehelichen Kinder, die für ehelich erklärten Kinder, die an Kindes Statt angenommenen Kinder, die unehelichen Kinder eines Versicherten, wenn die Vaterschaft festgestellt war, und die unehelichen Kinder einer Versicherten als zum Bezug von Waisenrente Berechtigte. Mit der Neufassung des § 1258 Abs 2 RVO aF durch das Kindergeldergänzungsgesetz vom 23. Dezember 1955 (BGBl I 841) haben auch die Pflegekinder einen Anspruch auf Waisenrente erhalten. Im Zeitpunkt des Versicherungsfalles galt bereits § 1267 Abs 1 Satz 1 RVO idF des 19. Rentenanpassungsgesetzes vom 3. Juni 1976 (BGBl I 1373). Nach dieser Vorschrift erhalten Waisenrente auch die Pflegekinder iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 des Bundeskindergeldgesetzes; dort sind Pflegekinder als "Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat", beschrieben. Der Gesetzgeber des RRG hat § 1265 Satz 2 eingeführt, um den geschiedenen Frauen den Zugang zur Hinterbliebenenrente zu erleichtern. Wenn er dabei ua den Tatbestand der Kindererziehung (Nr 2) als leistungsbegründend anerkannte, so ist davon auszugehen, daß er die Erziehung derjenigen Kinder als relevant erachtete, die nach der Rechtslage, wie sie zur Zeit des Inkrafttretens des RRG galt, als zum Personenkreis des § 1267 RVO gehörend anzusehen waren. Wollte man darauf abstellen, welche "Kinder" die Voraussetzungen des § 1267 RVO in seiner jeweils zur Zeit der Scheidung geltenden Fassung erfüllten, so würde dies zu einem durchaus unterschiedlichen Kreis der durch das RRG Begünstigten führen. Nach dem Sinn der Neuregelung kann aber der Zeitpunkt der Scheidung nur insoweit von Bedeutung werden, als die geschiedene Frau von da an durch die Kindererziehung an der Aufnahme einer Erwerbsarbeit gehindert worden ist. Diese wirtschaftliche Situation bildet den maßgebenden Anknüpfungspunkt für die Rentengewährung. Bei der Klägerin hat diese Situation durch die Erziehung des Pflegekindes K P vorgelegen. Ihr Rentenanspruch ist mithin begründet.
Auf die Revision der Klägerin hin war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 4 |
Breith. 1982, 398 |