Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit eines Facharbeiters (hier: auf Pförtnertätigkeit)
Orientierungssatz
1. Ein Facharbeiter kann im Grundsatz (nur) auf Tätigkeiten eines angelernten Arbeiters verwiesen werden, wobei darunter allerdings nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von ein bis zwei Jahren voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet. Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243 und BSG 1980-12-03 4 RJ 83/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 72).
2. Auf eine qualifizierte Pförtnertätigkeit nach der Lohngruppe MTL 2 kann ein Facharbeiter grundsätzlich zumutbar verwiesen werden; denn sie steht aufgrund ihrer Qualität tariflich einem Ausbildungsberuf gleich. Dies gilt für die Gruppen a (Pförtner, die in nicht unerheblichem Umfang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt werden) oder c (Pförtner mit Fernsprechvermittlungsdienst bei mehr als einem Amtsanschluß).
3. Eine Verweisung auf eine Pförtnertätigkeit nach Lohngruppe IV Nr 3 MTL 2 ist nicht zumutbar, weil diese Tätigkeit nicht der eines Ausbildungsberufs gleichsteht.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; MTL 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 05.05.1980; Aktenzeichen L 3 J 26/79) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 23.11.1978; Aktenzeichen S 3 J 431/78) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Der 1925 geborene Kläger war bis März 1976 in seinem erlernten Maurerberuf beschäftigt. Anschließend bezog er zunächst Krankengeld, später Arbeitslosengeld (Alg) und dann Arbeitslosenhilfe (Alhi). Im Juni 1979 - während des Berufungsverfahrens - nahm er eine Tätigkeit als Vermessungshelfer bei einem Stundenlohn von 11,-- DM auf.
Den im August 1977 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 30. November 1977). Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Klage abgewiesen, das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 23. November 1978 und 5. Mai 1980).
Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger im wesentlichen nur durch ein Halswirbelsäulen-Schulter-Syndrom sowie eine geringfügig eingeschränkte Durchblutung der Herzkranzgefäße beeinträchtigt werde. Es hat ihn für fähig gehalten, vollschichtig leichte Arbeiten im Stehen und mittelschwere Arbeiten im Sitzen zu verrichten, sofern es sich nicht um Tätigkeiten in Nachtschicht, im Akkord oder unter Streßbedingungen, um Arbeiten "über Kopf", auf Leitern und Gerüsten oder mit besonderer Beanspruchung der Wirbelsäule handele.
Das LSG hat ausgeführt, der Kläger sei zwar aus gesundheitlichen Gründen den Anforderungen des Maurerberufs nicht mehr gewachsen. Er könne als Facharbeiter auch nicht auf die derzeitige - nach Auskunft des Arbeitgebers unqualifizierte - Beschäftigung verwiesen werden. Verweisbar sei er aber auf die Tätigkeit des qualifizierten Pförtners im öffentlichen Dienst nach Lohngruppe IV Nr 3 des Manteltarifvertrages der Länder (MTL II); denn diese erfasse "angelernte Arbeiter". Entgegen der Auffassung des 1. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 132/78 - (= SozR 2200 § 1246 Nr 55) müsse es genügen, wenn diese Pförtnertätigkeit wie eine angelernte Tätigkeit entlohnt werde. Hilfsweise sei der Kläger auf die qualifizierte Pförtnertätigkeit der Lohngruppe V Nr 4 des MTL II zu verweisen. Dasselbe gelte für die Tätigkeiten nach Lohngruppe III Nrn 37, 38 des Tarifvertrages für Gemeindearbeiter in Schleswig-Holstein vom 17. April 1976.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision. Der Kläger ist der Auffassung, die Verweisung auf Pförtnertätigkeiten der Lohngruppe IV MTL II widerspreche dem Urteil des 1. Senats vom 12. Dezember 1979. Soweit er auf die gehobene Pförtnertätigkeit der Lohngruppe V verwiesen worden sei, fehlten ihm die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten; diese könne er auch nicht in drei Monaten erwerben.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts
vom 5. Mai 1980 und des Sozialgerichts Lübeck vom
23. November 1978 aufzuheben und die Beklagte
unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30. November 1977
zu verpflichten, ihm für die Zeit von September 1977
an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
Sie beruft sich auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um abschließend entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit davon abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden.
Zutreffend ist das LSG, wenn auch ohne ausdrücklichen Hinweis in den Urteilsgründen, vom erlernten und bis März 1976 ausgeübten Maurerberuf als dem bisherigen Beruf des Klägers ausgegangen; es hat unwidersprochen und daher für den Senat bindend festgestellt, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen den körperlichen Anforderungen dieses Berufs nicht mehr gewachsen ist.
Die Verweisbarkeit eines Facharbeiters unterliegt Beschränkungen. Er kann im Grundsatz (nur) auf Tätigkeiten eines angelernten Arbeiters verwiesen werden (zur Aufgabe der berufssystematischen Unterscheidung zwischen anerkanntem Lehr- und Anlernberuf im Zusammenhang mit dem von der Rechtsprechung des BSG erarbeiteten Mehrstufenschema (vgl Urteil des BSG vom 20. Januar 1976 - 5/12 RJ 132/75 = BSGE 41, 129, 132 f = SozR 2200 § 1246 Nr 11), wobei darunter allerdings nicht nur die - seltenen - Ausbildungsberufe zu verstehen sind, die eine Regelausbildungszeit von ein bis zwei Jahren voraussetzen, sondern auch Tätigkeiten, die eine echte betriebliche Ausbildung erfordern, sofern diese eindeutig das Stadium der bloßen Einweisung und Einarbeitung überschreitet (zB BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr 16). Darüber hinaus gehören zum Verweisungsbereich bisheriger Facharbeiter unter bestimmten Voraussetzungen auch ungelernte Tätigkeiten, nämlich dann, wenn sie sich aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis anderer ungelernter Arbeiten deutlich herausheben. Das gilt jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität nicht wegen mit ihnen verbundener Nachteile oder Erschwernisse tariflich wie Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl zB BSG, Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69 und die dort zitierte Rechtsprechung sowie Urteil des erkennenden Senats vom 3. Dezember 1980 - 4 RJ 83/79 = SozR aaO Nr 72).
Diesen Erfordernissen einer zumutbaren Verweisbarkeit genügt die vom LSG genannte Pförtnertätigkeit der Lohngruppe IV Nr 3 MTL II nicht. Der 1. Senat des BSG hat im Urteil vom 12. Dezember 1979 - 1 RJ 182/78 - (= SozR 2200 § 1246 Nr 55) bereits darauf hingewiesen, daß sich insbesondere aus der dieser Lohngruppe vorangestellten Definition ("angelernte Arbeiter, das sind Arbeiter mit Tätigkeiten, die eine handwerkliche oder fachliche Anlernung erfordern") nicht die Qualität eines Ausbildungsberufs herleiten läßt, sondern nur das Erfordernis einer kurzfristigen Einweisung und Einarbeitung; erst die nächsthöhere Lohngruppe V des MTL II erfaßt Arbeiter mit erfolgreich abgeschlossener Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von weniger als zweieinhalb Jahren. Dieser Rechtsprechung des 1. Senats haben sich der 5. Senat des BSG (Urteile vom 12. September 1980 - 5 RJ 98/78 - und vom 28. November 1980 - 5 RJ 50/80 - = SozR 2200 § 1246 Nr 71) und der erkennende Senat (Urteil vom 15. Januar 1981 - 4 RJ 37/80 -) bereits angeschlossen. Eine Pförtnertätigkeit im Sinne dieser Tarifgruppe ist somit dem Kläger nicht zumutbar, eine Verweisung deshalb insoweit unzulässig.
Allerdings hat das Berufungsgericht den Kläger auch (hilfsweise) auf eine qualifizierte Pförtnertätigkeit nach der Lohngruppe V verwiesen. Eine solche Tätigkeit ist dem Kläger, wie sich bereits aus obigen Ausführungen ergibt, grundsätzlich (sozial) zumutbar; denn sie steht aufgrund ihrer Qualität tariflich einem Ausbildungsberuf gleich. Das gilt zwar nicht für die - vom LSG mit Recht auch nicht erwähnte - Untergruppe b der Nr 4.27 (Pförtner nach dreijähriger Bewährung als solche in der Lohngruppe IV), wohl aber für die Gruppen a (Pförtner, die in nicht unerheblichem Umfang mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt werden) oder c (Pförtner mit Fernsprechvermittlungsdienst bei mehr als einem Amtsanschluß).
Indessen fehlen ausreichende Feststellungen des LSG darüber, ob der Kläger die objektiven Voraussetzungen für die Verrichtung der in Erwägung gezogenen Pförtnertätigkeit erfüllt. Das Berufungsgericht hat hierzu nur ausgeführt, der Kläger bringe nach den eingangs getroffenen Feststellungen die erforderlichen geistigen und körperlichen Voraussetzungen für diesen Beruf mit. Selbst wenn mit diesem Hinweis auf die Darlegungen der medizinischen Sachverständigen zum Leistungsvermögen zugleich die körperliche und geistige Eignung des Klägers für die ins Auge gefaßte Tätigkeit hinreichend umrissen sein sollte, fehlt es jedenfalls an Feststellungen, ob der Kläger die erforderlichen berufsspezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten hat oder innerhalb von drei Monaten erwerben kann (vgl BSG, Urteil vom 15. Februar 1979 - 5 RJ 48/78 - = SozR 2200 § 1246 Nr 38 sowie - auf den "gehobenen" Pförtner bezogen - Urteil vom 12. September 1980 - 5 RJ 98/78 - = SozSich 1981, 94). Die hiernach noch gebotenen Ermittlungen und Prüfungen wird das LSG nachzuholen haben.
Entsprechendes gilt hinsichtlich der vom Berufungsgericht darüber hinaus in Betracht gezogenen Tätigkeiten der Lohngruppe III Nrn 37, 38 des Tarifvertrages über ein Lohngruppenverzeichnis für Gemeindearbeiter in Schleswig-Holstein vom 17. April 1976. Soweit dort - anders als nach der Lohngruppe V Nr 4.27 des MTL II - alternativ auch Pförtner an Eingängen mit starkem Besucherverkehr genannt sind, bestehen schon Zweifel an der Zumutbarkeit der Tätigkeit deshalb, weil möglicherweise die tarifliche Einstufung dieser Untergruppe auf Gründen beruht, die mit der Qualität des Arbeitsinhalts nicht im Zusammenhang stehen und daher die Gleichstellung mit einem Ausbildungsberuf ausschließen (vgl zuletzt Urteil des Senats vom 17. September 1981 - 4 RJ 101/80 - S 4 f). Ein Anhalt dafür, daß hierbei qualitätsneutrale Gesichtspunkte für die tarifliche Einordnung maßgebend gewesen sein können, sind einer Anzahl anderer an gleicher Stelle genannter Tätigkeiten zu entnehmen, wie zB Fäkalarbeiter, Hilfsarbeiter im Kanalbau, Kanalarbeiter, Müllwerker und Wagenpfleger; zum anderen ist zu beachten, daß der "Pförtner an verkehrsreichen Eingängen" im MTL II nur der Lohngruppe IV (Nr 4.11b) zugeordnet wurde.
Schließlich drängt sich in diesem Zusammenhang wegen der mehrfachen Einschränkungen (Untergruppe einer Pförtnertätigkeit im kommunalen Bereich nur eines Bundesstaates) die Frage auf, ob überhaupt ein offener Arbeitsmarkt für derartige Tätigkeiten besteht. Zwar hat das BSG entschieden, daß auch die Bezeichnung nur einer zumutbaren Verweisungstätigkeit genüge, um das Risiko der Rentenversicherung auszuschalten; dieses Prinzip gilt aber nicht ausnahmslos. Sind für eine Tätigkeit überhaupt nur einzelne wenige - freie oder besetzte - Arbeitsplätze vorhanden, so kann ein Versicherter in aller Regel darauf nicht verwiesen werden (vgl Urteile des Senats vom 14. Mai 1981 - 4 RJ 125/79 - und vom 17. September 1981 - 4 RJ 101/80 -).
Nach alledem war auf die Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch erneut über die Kosten zu entscheiden haben.
Fundstellen