Leitsatz (amtlich)
Auch wenn die geschiedene Ehefrau eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten auf § 60 EheG stützt, bleiben bei der Anwendung des § 1265 S 2 Nr 1 RVO ihre womöglich unterhaltspflichtigen Verwandten iS des § 63 Abs 1 S 2 EheG unberücksichtigt (Anschluß an BSG 1976-05-25 5 RJ 343/74 = SozR 2200 § 1265 Nr 18).
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; EheG § 60 Fassung: 1946-02-20, § 61 Abs 2 Fassung: 1946-02-20, § 63 Abs 1 S 2 Fassung: 1946-02-20
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.04.1980; Aktenzeichen L 8 J 207/79) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 23.11.1979; Aktenzeichen S 1 J 18/79) |
Tatbestand
Die 1913 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres im April 1978 verstorbenen früheren Ehemannes.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde 1964 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Kinder sind aus dieser Ehe nicht hervorgegangen. Die Klägerin hat aus einer früheren Ehe vier Kinder. Der Versicherte erhielt seit November 1966 Altersruhegeld, das sich im Jahre 1978 auf monatlich 1.071,60 DM belief. Die Klägerin bezog im Jahr vor dem Tod des Versicherten ein Erwerbseinkommen von monatlich 700,-- DM und erhielt vom Versicherten 150,-- DM für Haushaltsarbeiten.
Den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente hat die Beklagte durch Bescheid vom 15. November 1978 abgelehnt. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Gewährung dieser Rente verurteilt (Urteil vom 23. Oktober 1979). Die hiergegen gerichtete Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 23. April 1980). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Antrag der Klägerin könne zwar nicht auf § 1265 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützt werden, da wegen der eigenen Erwerbseinkünfte der Klägerin zZt des Todes des Versicherten keine Unterhaltspflicht des Versicherten bestanden habe. Auch sei tatsächlich kein Unterhalt geleistet worden. Da keine Witwenrente zu gewähren sei, greife jedoch § 1265 Satz 2 RVO ein. Dem stehe nicht entgegen, daß der Klägerin nach der Scheidung allenfalls ein Unterhaltsbeitrag nach § 60 Ehegesetz (EheG) habe zustehen können. Da auch dieser Unterhaltsbeitrag eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 RVO darstelle, müsse nach dieser Vorschrift von der Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin und der Unterhaltsfähigkeit des Versicherten zZt seines Todes ausgegangen werden. Die Unterhaltspflicht des Versicherten sei auch nicht deshalb entfallen, weil die Klägerin sich vorrangig an unterhaltspflichtige Verwandte habe wenden müssen. Die mögliche Leistungsfähigkeit der Kinder der Klägerin könne dahinstehen, da diesen gegenüber zZt des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch der Klägerin wegen ihrer tatsächlich fehlenden Bedürftigkeit nicht bestanden habe.
Hiergegen richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie ist der Auffassung, das LSG hätte prüfen müssen, ob zZt des Todes des Versicherten leistungsfähige Verwandte der Klägerin vorhanden gewesen seien, die nach den §§ 60 und 63 EheG bei der von § 1265 Satz 2 RVO unterstellten Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin vor dem Versicherten zum Unterhalt verpflichtet gewesen seien. Bei der Existenz unterhaltsfähiger Verwandter sei das Fehlen einer Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nicht darauf zurückzuführen, daß die Klägerin über Erträgnisse aus einer Erwerbstätigkeit verfügte, sondern in erster Linie auf den Haftungsvorrang der Verwandten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 23. April 1980 und das
Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 23. Oktober 1979
aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.
Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Satz 2 RVO zusteht. Das LSG war nicht gehalten, die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse möglicher unterhaltspflichtiger Verwandter der Klägerin festzustellen.
Der Anspruch auf Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Satz 1 RVO ist vom Berufungsgericht zutreffend verneint worden, da der Versicherte weder nach den Vorschriften des EheG noch aus sonstigen Gründen zur Unterhaltsleistung verpflichtet war. Das LSG hat die Zahlungen des Versicherten von 150,-- DM monatlich als Gegenleistungen für Haushaltsarbeiten angesehen. Diese Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts ist von der Klägerin nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und daher gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für den erkennenden Senat bindend.
Da eine Witwenrente nicht zu gewähren ist, kommt indes § 1265 Satz 2 RVO als Anspruchsgrundlage in Betracht. Die Klägerin hatte zZt der Scheidung das 45. und zZt der Rentenantragstellung das 60. Lebensjahr vollendet; es liegen deshalb die Voraussetzungen der Nummern 2 und 3 dieser Vorschrift vor. Bei der Klägerin sind darüber hinaus auch die Voraussetzungen der Nr 1 dieser Vorschrift gegeben. Eine Unterhaltsverpflichtung bestand lediglich wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten und wegen der Erträgnisse der Klägerin aus einer Erwerbstätigkeit nicht. Der Klägerin hätte ein Unterhaltsanspruch zugestanden, wenn sie keine Einkünfte aus Erwerbstätigkeit gehabt hätte. Die Ehe der Klägerin mit dem verstorbenen Versicherten war zwar aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden, ohne daß das Verschulden eines der Ehegatten überwog. Die Klägerin hätte den Versicherten daher nur über § 60 EheG auf Unterhalt in Anspruch nehmen können. Nach dieser Vorschrift kann dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Die Verpflichtung zur Leistung eines solchen Unterhaltsbeitrages stellt nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. April 1979 (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 41 = BSGE 48, 146) eine Unterhaltsverpflichtung iS des § 1265 Satz 2 RVO dar. Die Bedenken, die in der zivilrechtlichen Literatur gegen den Anspruchscharakter des nach § 60 EheG zu gewährenden Unterhaltsbeitrages zum Teil bestanden haben oder bestehen, sind vom Großen Senat des BSG gewürdigt und jedenfalls im Rahmen des § 1265 Satz 2 RVO nicht als überzeugend angesehen worden.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist im Rahmen des § 1265 Satz 2 Nr 1 RVO nicht zu prüfen, ob vor dem Versicherten die Verwandten der Klägerin dieser gegenüber unterhaltspflichtig gewesen wären. Zwar erfordert die eine "echte" Unterhaltsverpflichtung normierende Regelung des § 60 EheG (vgl Beschluß des Großen Senats des BSG vom 25. April 1979 aaO) eine Billigkeitsabwägung unter Bezugnahme auf die Haftungsrangfolge der Unterhaltspflichtigen nach § 63 EheG. Wie der erkennende Senat mit Urteil vom 25. Mai 1976 (SozR 2200 § 1265 Nr 18) zu der insoweit inhaltsgleichen Regelung bei der Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nach § 61 Abs 2 EheG bereits entschieden hat, kann indes der - subsidiäre - Fall des § 63 Abs 1 Satz 2 EheG, daß die Verwandten der geschiedenen Frau vor dem Versicherten haften, für den Anspruch nach § 1265 Satz 2 RVO unberücksichtigt bleiben, weil die Unterhaltspflicht der Verwandten der Berechtigten nach § 63 Abs 1 Satz 2 EheG nur wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten eintreten könnte, dieser Fall aber gerade nach § 1265 Satz 2 RVO nicht zum Ausschluß der Hinterbliebenenrente an die geschiedene Ehefrau führen soll. Da aber - ebenso wie in § 61 Abs 2 EheG - auch in § 60 EheG die in § 63 Abs 1 Satz 1 und 2 EheG aufgestellte Rangordnung der Unterhaltspflichtigen nicht geändert wird (vgl Göppinger, Unterhaltsrecht, 3. Aufl, Rdnr 513, S 281), gelten diese im Urteil vom 25. Mai 1976 als rechtserheblich angesehenen Erwägungen hier gleichermaßen. Auch im Falle einer Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 60 EheG muß deshalb aus dem in § 1265 Satz 2 RVO unterstellten Leistungsvermögen des Versicherten die Folge abgeleitet werden, daß bei der Prüfung eines Hinterbliebenenrentenanspruchs nach dieser Vorschrift eine womöglich aus § 63 Abs 1 Satz 2 EheG herzuleitende Unterhaltspflicht der Verwandten der Antragstellerin außer Betracht bleibt.
Dem Anspruch der Klägerin aus § 1265 Satz 2 RVO steht schließlich auch nicht entgegen, daß der Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG im allgemeinen nicht die Höhe des angemessenen Unterhaltes iS des § 58 EheG erreicht, sondern in der Regel (vgl Düsseldorfer Tabelle, FamRZ 1980, 19, 21; unterhaltsrechtliche Leitlinien der Oberlandesgerichte Hamm und Schleswig, FamRZ 1980, 21, 26 und NJW 1980, 754, 755) auf die Hälfte des angemessenen Unterhaltes festgesetzt wird. Da der angemessene Unterhalt in jedem Fall den sozialhilferechtlichen Mindestbedarf der geschiedenen Frau abdecken muß (vgl Urteil des Senats vom 20. Juni 1979 - 5 RKn 34/77 -, SozSich 1979, 316, 317 und BSG SozR Nr 64 zu § 1265 RVO), stellt auch die Hälfte des angemessenen Unterhalts noch einen Unterhaltsbetrag in nennenswerter Höhe dar, der für den Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 RVO ausreicht (vgl hierzu zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 11. September 1980, SozR 2200 § 1265 Nr 51).
Die Revision der Beklagten ist somit begründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen