Beteiligte
Pflegekasse der AOK – Die Gesundheitskasse für Niedersachsen |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. September 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist ein Anspruch des Klägers gegen die beklagte Pflegekasse auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I für die Zeit ab 1. April 1995.
Der 1960 geborene Kläger leidet an einem sog Morbus-Down-Syndrom mit entsprechender geistiger Behinderung und erheblich reduziertem Orientierungsvermögen. Ihm sind nach dem Schwerbehindertengesetz ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G und H zuerkannt. Er wohnt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater zusammen, die ihn versorgen und betreuen. Montags bis freitags ist er in einer Werkstatt für Behinderte in W. tätig. Von einem Fahrdienst wird er morgens von Zuhause abgeholt und nachmittags zurückgebracht.
Seinen Antrag vom Februar 1995 auf Pflegegeld gemäß Pflegestufe I nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) lehnte die Pflegekasse nach Begutachtung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ab (Bescheid vom 31. Mai 1995, Widerspruchsbescheid vom 14. November 1995). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. August 1996), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Beschluß vom 4. September 1997). Das LSG hat ausgeführt, nach dem Gutachten des MDK und dem Entwicklungsbericht der Werkstatt für Behinderte vom 5. Mai 1997 könne der Kläger die Verrichtungen im Bereich der Grundpflege im wesentlichen selbst durchführen. Lediglich bei der Zahnpflege, dem Waschen, dem Kämmen und Rasieren, der mundgerechten Zubereitung der Nahrung sowie dem Zurechtlegen und Anziehen der Kleidung sei eine Beaufsichtigung und Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Durchführung der Verrichtungen durch den Kläger oder sogar eine tätige Mithilfe durch die Pflegeperson erforderlich. Der tägliche Zeitaufwand belaufe sich hierfür insgesamt auf höchstens 30 Minuten. Damit werde der Mindestpflegebedarf von mehr als 45 Minuten im Bereich der Grundpflege nicht erreicht. Eine Anleitung und allgemeine Beaufsichtigung über das für die Durchführung der Verrichtungen Nötige hinaus gehöre nicht zu den berücksichtigungsfähigen Hilfeleistungen. Der erhebliche Pflegebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung könne den fehlenden Pflegebedarf bei der Grundpflege nicht ausgleichen.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 14, 15 und 37 SGB XI, weil auch die in erheblichem Maße notwendige allgemeine Beaufsichtigung und Kontrolle, die notwendige Anwesenheit einer Pflegeperson zur Vermeidung einer möglichen Selbst- und Fremdgefährdung sowie der Zeitaufwand für die Fahrten zur Werkstatt für Behinderte zu berücksichtigen seien.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. September 1997 und das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 15. August 1996 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 31. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. April 1995 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Der Anspruch auf Pflegegeld gemäß der Pflegestufe I, den der Kläger ab dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der gesetzlichen Pflegeversicherung am 1. April 1995 (Art 68 Abs 2 Pflege-Versicherungsgesetz ≪PflegeVG≫) geltend macht, setzt gemäß § 37 Abs 1 SGB XI voraus, daß Pflegebedürftigkeit iS des § 14 SGB XI vorliegt. Außerdem muß nach § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI für die Pflegestufe I ein Hilfebedarf bei der Grundpflege von mehr als 45 Minuten bestehen, den das LSG im Ergebnis zu Recht verneint hat.
Nach § 15 Abs 1 Nr 1 SGB XI in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl I S 1014), der durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz (1. SGB XI-ÄndG) vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) zu § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI geworden ist, setzt die Zuordnung eines Pflegebedürftigen zur Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) voraus, daß er bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt werden. Dabei gehören zum Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- und Blasenentleerung, zum Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten und die Aufnahme der Nahrung und zum Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen sowie das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs 4 Nrn 1 bis 3 SGB XI). Zusätzlich wird nach § 15 Abs 3 Nr 1 SGB XI (idF des 1. SGB XI-ÄndG) vorausgesetzt, daß der Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, täglich im Wochendurchschnitt 90 Minuten beträgt, wobei auf die Grundpflege „mehr als 45 Minuten” entfallen müssen.
Die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des Leistungsrechts der Pflegeversicherung am 1. April 1995 bis zum 25. Juni 1996 (Zeitpunkt des Inkrafttretens des 1. SGB XI-ÄndG, vgl dessen Art 8 Abs 1) geltende ursprüngliche Fassung des SGB XI enthielt die zuletzt genannte Voraussetzung noch nicht. § 15 Abs 3 SGB XI ermächtigte seinerzeit lediglich die Spitzenverbände der Pflegekassen bzw das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, den in den einzelnen Pflegestufen jeweils mindestens erforderlichen zeitlichen Pflegeaufwand in den Pflegerichtlinien nach § 17 SGB XI bzw in der Verordnung nach § 16 SGB XI zu regeln. Die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeitsrichtlinien ≪PflRi≫) enthielten in ihrer ursprünglichen Fassung vom 7. November 1994 bezüglich des Mindestzeitaufwands bei der Pflegestufe I die Voraussetzung, der wöchentliche Zeitaufwand, den eine nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung und pflegeunterstützende Maßnahmen benötige, müsse im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei der pflegerische Aufwand gegenüber dem hauswirtschaftlichen Aufwand „im Vordergrund stehen” müsse. Die in § 16 SGB XI vorgesehene Verordnung ist nicht erlassen worden. Für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist auch die ursprüngliche Fassung des § 15 SGB XI maßgebend, die für die Zeit bis zum 24. Juni 1996 galt und damit die hier streitige Leistungszeit ab 1. April 1995 betraf. Der Senat hat bereits entschieden, daß ein in der ursprünglichen Fassung des § 15 Abs 3 SGB XI enthaltenes Regelungsdefizit bezüglich der für die einzelnen Pflegestufen erforderlichen zeitlichen Mindestvoraussetzungen durch die Neufassung des § 15 Abs 3 SGB XI auch für die zurückliegende Zeit seit dem Inkrafttreten des SGB XI ausgefüllt worden ist (Urteil vom 6. August 1998 - B 3 P 17/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr 6). Dies gilt auch für den Mindestbedarf der Pflegestufe I.
Das LSG hat im Bereich der Grundpflege, nämlich bei der Zahnpflege, beim Waschen, beim Kämmen und Rasieren, bei der mundgerechten Zubereitung der Nahrung sowie beim Zurechtlegen und Anziehen der Kleidung, einen Gesamtpflegebedarf von nur 30 Minuten festgestellt. Diese Feststellungen werden von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen und sind daher für den Senat verbindlich (§ 163 SGG). Die Revision greift mit Rechtsausführungen lediglich an, daß das LSG bei der Berechnung des Grundpflegebedarfs die allgemeine Beaufsichtigung und Kontrolle des Klägers, die notwendige Aufsicht zur Vermeidung einer möglichen Selbst- und Fremdgefährdung sowie den Zeitaufwand für die Fahrten zur Behindertenwerkstatt nicht berücksichtigt hat. Dabei kann dahinstehen, ob unter Einbeziehung dieser weiteren Tätigkeiten das notwendige Mindestmaß an Grundpflege von mehr als 45 Minuten erreicht werden würde; denn das LSG hat die genannten Tätigkeiten zu Recht nicht einbezogen.
a) Zur Frage der Beaufsichtigung des Klägers ist von der Feststellung des LSG auszugehen, bei den Verrichtungen der Grundpflege bedürfe der Kläger „im wesentlichen” keiner Hilfestellung, weil er motorisch zur selbständigen Durchführung dieser Verrichtungen in der Lage sei und dazu auch nicht mehr als eine Aufforderung benötige; die genannten Ausnahmen machen, wie ausgeführt, nur einen Hilfebedarf von 30 Minuten täglich aus. Auch insoweit werden die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Darüber hinaus hat das LSG zu Recht angenommen, daß ein weiterer zu berücksichtigender Hilfebedarf nicht besteht. Eine allgemeine Aufsicht, die darin besteht zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens von einer geistig behinderten Person wie dem Kläger überhaupt ausgeführt werden, und lediglich dazu führt, daß gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden muß (zB Hinweis auf Betätigung der Wasserspülung und Aufforderung zum Händewaschen nach dem Toilettengang), reicht nicht aus, weil allein dadurch eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson nicht eintritt. Der Senat hat bereits entschieden, daß nur konkrete Anleitungen, Überwachungen und Erledigungskontrollen zu berücksichtigen sind, die die Pflegeperson in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden wie bei unmittelbarer körperlicher Hilfe und daher dazu führen, daß die Pflegeperson durch die Hilfe an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist. Danach stellen die allgemeine Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft der Pflegeperson und deren schlichte Aufforderungen an den Behinderten zur Durchführung bestimmter Verrichtungen, mögen sie auch im Laufe eines Tages immer wieder notwendig und in ihrer Summierung durchaus auch eine nervliche Belastung für die Pflegeperson sein, keine nach § 14 Abs 3 SGB XI zu berücksichtigende Hilfeleistungen dar, weil sie mit keiner derartigen Bindung der Pflegeperson einhergehen. Die im Gesetz gemeinte „Anleitung” und „Beaufsichtigung” geht über das reine „Anhalten” zur Durchführung einer Verrichtung hinaus (BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 7/97 R - SozR 3-3300 § 15 Nr 1; Urteil vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R - SozR 3-3300 § 14 Nr 5; ebenso bereits Urteil vom 9. März 1994 - 3/1 RK 12/93 - SozR 3-2500 § 53 Nr 6 zu § 53 SGB V aF). Der Senat hat ferner entschieden, daß bei der erforderlichen Anleitung und Beaufsichtigung iS des § 14 Abs 3 SGB XI, wozu auch die tatsächliche Kontrolle der ordnungsgemäßen Durchführung einer Verrichtung gehört, nur der jeweils erforderliche konkrete Zeitaufwand der Pflegeperson für die einzelne Anleitung und Beaufsichtigung anzusetzen ist, grundsätzlich aber nicht Zeitspannen zwischen Hilfeleistungen für verschiedene Verrichtungen und der Zeitaufwand für die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson (BSG, Urteile vom 19. Februar 1998 - B 3 P 6/97 R und 7/97 R - SozR 3-3300 § 15 Nr 1; so auch schon Urteil vom 29. November 1995 - 3 RK 18/94 - SozR 3-2500 § 53 Nr 9 zu § 53 SGB V aF). Die Tatsache, daß die Anleitung und Beaufsichtigung bei geistig behinderten Erwachsenen stets auch der Verhinderung ihrer Verwahrlosung dient und insofern präventiv wirkt, zwingt ebenfalls nicht dazu, daß sie als andauernder relevanter Pflegebedarf berücksichtigt werden müssen, da der Gesetzgeber den maßgeblichen Pflegebedarf abschließend festgelegt hat und es insoweit allein darauf ankommt, ob ein Versicherter wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung auf Dauer nicht in der Lage ist, die in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen ohne Anleitung oder Beaufsichtigung durch andere Personen (§ 14 Abs 3 SGB XI) auszuführen. Damit erweist sich zugleich die Rüge des Klägers, das LSG habe verfahrensfehlerhaft Ermittlungen zum allgemeinen Aufsichtsbedarf unterlassen, als unbegründet.
b) Das Gesetz bietet auch keine Grundlage für die Berücksichtigung eines Hilfebedarfs in Form einer ständigen Anwesenheit und Aufsicht einer Pflegeperson zur Vermeidung einer möglichen Selbst- oder Fremdgefährdung eines geistig Behinderten. Auch insoweit gilt, daß für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen allein der Hilfebedarf bei den in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen und die in § 14 Abs 3 SGB XI genannten Arten der Hilfe maßgebend sind und eine Ausdehnung auf dort nicht genannte Pflegebereiche, Verrichtungen und Hilfeleistungen grundsätzlich ausscheidet. Es ist auch hier zu betonen, daß die Pflegeversicherung vom Gesetzgeber nicht auf die lückenlose Erfassung jeglichen Pflegebedarfs ausgerichtet worden ist (vgl BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 5/97 R – zur Veröffentlichung bestimmt – zur grundsätzlichen Ausklammerung der Behandlungspflege). Daher kann die Frage offenbleiben, ob bei dem Kläger die ständige Gefahr einer Selbst- oder Fremdgefährdung tatsächlich besteht.
Die völlige Ausklammerung des nicht konkret verrichtungsbezogenen allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten läßt sich mit den in den Einweisungsvorschriften und in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Zielen der Pflegeversicherung allerdings nicht vereinbaren. Vor allem die mit der Einführung der Pflegeversicherung verbundene Absicht, die Bereitschaft zur häuslichen Pflege zu stärken und der häuslichen gegenüber der stationären Pflege eine Vorrangstellung einzuräumen, ist in den für die Bemessung des Pflegebedarfs maßgebenden Vorschriften der §§ 14 und 15 SGB XI im Hinblick auf den Hilfebedarf geistig Behinderter nicht sachgerecht umgesetzt worden. Während der Verrichtungskatalog bei Personen mit somatischen (körperlichen) Funktionsdefiziten geeignet erscheint, den tatsächlich bestehenden Hilfebedarf des Pflegebedürftigen und die hieraus resultierende Belastung der Pflegepersonen im häuslichen Umfeld realitätsbezogen zu ermitteln, ist dies im Hinblick auf geistig Behinderte nicht der Fall. Der Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI ist nicht geeignet, die örtliche Bindung der Pflegepersonen zu erfassen, deren ständige Präsenz und Kontrolle in der Nähe des Behinderten zumeist unerläßlich sind, was die freie Lebensgestaltung etwa von pflegenden Angehörigen auch bei relativ leichten Fällen geistiger Behinderung nachhaltig einschränkt. Die besondere Belastung der Eltern geistig behinderter Kinder, die von diesen zu Hause versorgt werden, wird von diesem Bemessungssystem ebensowenig erfaßt wie diejenige von Kindern, die altersverwirrte Eltern pflegen, ohne daß hierfür ein anderes Sicherungssystem bereitsteht, wie dies vergleichsweise bei dem ebenfalls unberücksichtigt gebliebenen Bedarf an Behandlungspflege mit der häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) der Fall ist. Bei den beiden Gruppen geistig Behinderter kommt als Alternative zur ehrenamtlichen häuslichen Pflege zumeist nur die Unterbringung in einer stationären Einrichtung in Betracht, was durch die Pflegeversicherung gerade so weit als möglich verhindert werden sollte. Die im „Ersten Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung über die Entwicklung der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung am 1. Januar 1995” vom 19. Dezember 1997 (Erster Pflegebericht der Bundesregierung – BT-Drucks 13/9528, S 25 ff) aus den statistischen Ergebnissen der Medizinischen Dienste abgeleitete Folgerung, geistig Behinderte würden bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu den Pflegestufen gegenüber somatisch Kranken und Behinderten nicht benachteiligt, kann sich nicht auf die Vorschriften des SGB XI zur Bemessung des Pflegebedarfs stützen. Denn diese lassen eine Berücksichtigung des hier behandelten spezifischen Hilfebedarfs von geistig Behinderten nicht zu. Die Tatsache, daß tatsächlich auch geistig Behinderte in großer Zahl Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, läßt sich vermutlich damit erklären, daß vor allem bei schwerwiegenden Fällen geistiger Behinderung der Hilfebedarf in der Begutachtungspraxis durch eine extensive Ausdehnung der in § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen festgestellt wird. Dieser im Gesetz nicht ohne weiteres vorgezeichnete Weg versagt jedoch vor allem bei weniger schwerwiegenden Fällen geistiger Behinderung, die dennoch einen Pflegebedarf hervorrufen, der im Sinne der Gleichbehandlung aller Hilfebedürftigen eine Zuordnung zur Pflegestufe I rechtfertigen würde, weil er mit demjenigen bei einem aufgrund somatischer Ursachen erheblich Pflegebedürftigen iS von § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm Abs 3 Nr 1 SGB XI vergleichbar ist. Wegen der Dominanz des Zeitfaktors bei der Bemessung des Pflegebedarfs, der sich erst in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens zum SGB XI durchgesetzt hat (vgl hierzu Udsching, in: Festschrift für Krasney, 1997, 677, 680 mwN), bestand allerdings die Gefahr, daß eine umfassende Einbeziehung des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs zu einer Überbewertung geführt hätte, da der Bedarf zumeist rund um die Uhr besteht, die tatsächliche Belastung der Pflegepersonen jedoch das Ausmaß, das eine Zuordnung zu einer der höheren Pflegestufen rechtfertigen könnte, zumeist nicht erreicht.
Der vom Gesetzgeber als abschließend verstandene Verrichtungskatalog in § 14 Abs 4 SGB XI (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. Februar 1998 - B 3 P 3/97 R = SozR 3-3300 § 14 Nr 2) läßt eine Auslegung, die eine sachgerechte Berücksichtigung des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten ermöglichen könnte, nicht zu. Die Ungleichbehandlung der hier betroffenen Gruppe geistig Behinderter erreicht noch nicht ein solches Ausmaß, daß eine einen Verfassungsverstoß begründende Überschreitung des gesetzgeberischen Ermessens angenommen werden müßte. Hierbei ist zu bedenken, daß das gesetzgeberische Ermessen, wie der Senat bereits deutlich gemacht hat (aaO), bei der Einführung der neuen Sicherungsform Pflegeversicherung besonders groß war und bei einer gerichtlichen Überprüfung auch zu berücksichtigen ist, daß im vorhinein nicht ohne weiteres zu erkennen war, ob die zur Beurteilung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit eingeführten Kriterien sich als sachgerecht erweisen würden, sondern daß sich dies erst nach einer Phase der Umsetzung in der Praxis feststellen ließ. Hinzu kommt, daß die unzureichende Berücksichtigung des Hilfebedarfs der hier betroffenen Gruppe geistig Behinderter im Rahmen der Pflegeversicherung im Ergebnis zum Teil dadurch kompensiert wird, daß sie – wie auch der Kläger – in den Genuß von Leistungen der Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff Bundessozialhilfegesetz (BSHG) kommt.
Die begründete Forderung nach Einbeziehung auch des allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten könnte sachgerecht durch einen pauschalen Zuschlag zum verrichtungsbezogenen Aufwand umgesetzt werden. Eine derartige konzeptionelle Änderung des Gesetzes ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Sie kann nicht durch richterliche Rechtsfortbildung erfolgen.
c) Schließlich hat auch die Hilfe in Form des beaufsichtigten Transports des Klägers durch den Fahrdienst, mit dem er von der Wohnung abgeholt wird und zur Behindertenwerkstatt fährt, bei der Bemessung des Pflegebedarfs außer Betracht zu bleiben. Die berücksichtigungsfähige Hilfe bei der allein in Frage kommenden Verrichtung des „Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung” (§ 14 Abs 4 Nr 3 SGB XI) umfaßt diesen Transport nicht, obgleich der Kläger wegen seiner Behinderung den Arbeitsplatz in W. auf andere Weise nicht erreichen kann. Hilfe außerhalb der Wohnung ist nur dann pflegeversicherungsrechtlich von Bedeutung, wenn sie erforderlich ist, um ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des Pflegegeldes und dem Zusammenhang der dafür maßgeblichen Verrichtungen, die sämtlich der Aufrechterhaltung der Existenz in der häuslichen Umgebung dienen. Diese Auslegung wird durch die Gesetzesmaterialien (BR-Drucks 505/93, S 97) bestätigt, wonach nur solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen sind, die „für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machen” (dieselbe Formulierung findet sich in Nr 3.4.2 der Pflegerichtlinien). Demgemäß hat der Senat bereits entschieden (Urteil vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R – zur Veröffentlichung bestimmt), daß wegen der gebotenen einschränkenden Auslegung der Verrichtung „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung” der Transport eines Behinderten zur Behindertenwerkstatt durch einen Fahrdienst (einschließlich der Begleitung zur Haltestelle des Busses) nicht als relevanter Hilfebedarf eingeordnet werden kann. Daran ist festzuhalten. Denn auch hier fehlt der erforderliche Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Existenz in der häuslichen Umgebung. Die Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt mag zwar im weiteren Sinn für einen Behinderten notwendiger sein als die normale Erwerbstätigkeit für eine gesunde und voll erwerbsfähige Person, da auch therapeutische Ziele mitverfolgt werden. Sie dient damit aber gleichwohl nicht der Aufrechterhaltung der häuslichen Existenz, sondern der Stabilisierung und Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte, die auch dann erforderlich bleibt, wenn der Behinderte in einem Heim untergebracht ist. Dies entspricht dem Aufgabenbereich der Eingliederungshilfe für Behinderte nach den §§ 39 ff BSHG, der durch die Pflegeversicherung unberührt geblieben ist. Mit dem neugeschaffenen § 13 Abs 3 Satz 3 SGB XI idF des 1. SGB XI-ÄndG hat der Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet, daß eine Vor- und Nachrangigkeit im Verhältnis von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe nicht besteht (vgl dazu BT-Drucks 13/3696, S 15, zu § 71 Abs 4). Der Zeitaufwand für den notwendigen Transport von der Wohnung zur Behindertenwerkstatt ist somit als Bestandteil des Aufgabenbereichs der Eingliederungshilfe im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung nicht zu berücksichtigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen