Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtmäßigkeit des Honorarverteilungsmaßstabes
Orientierungssatz
RVO § 368f Abs 1 S 5, wonach der Honorarverteilungsmaßstab sicherstellen soll, daß eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes verhindert wird, verstößt nicht gegen GG Art 12 Abs 1 (vergleiche BSG 1965-01-27 6 RKa 15/64 = BSGE 22, 218).
Normenkette
RVO § 368f Abs. 1 S. 5 Fassung: 1955-08-17; GG Art. 12 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.03.1964) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 09.11.1962) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. März 1964 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. November 1962 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der nach Erlaß des Urteils des Landessozialgerichts (LSG) gestorbene Ehemann der jetzigen Klägerin war praktischer Arzt und als solcher in A. zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Er legte der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) seine Honorarabrechnung für das dritte Vierteljahr 1961 (III/1961) vor, die 1678 auf RVO-Kassen entfallende Fälle mit einem Gesamtbetrag von rd. 19440 DM für die ärztlichen Leistungen auswies.
Der Ehemann der Klägerin erhob gegen die Honorarabrechnung Widerspruch mit der Begründung, der Honorarverteilungsmaßstab (HVM) verstoße gegen das Grundgesetz (GG). Der Vorstand der beklagten KV wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 17. April 1962).
Hiergegen erhob der Ehemann der Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Klage mit dem Antrag,
den Honorarabrechnungsbescheid für III/1961 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 1962 mit der Maßgabe zu ändern, daß die Anwendung der Ertragsstaffel nach Anl. I zu § 2 Nr. 1 des HVM unterbleibt.
Das SG gab dem Klageantrag statt; die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 9. November 1962). Nach Auffassung des SG widersprach die Ertragsstaffel nach Anl. I zu § 2 Nr. 1 des HVM Gesetz und Recht.
Das LSG wies die Berufung der beklagten KV zurück: die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 17. März 1964). Seiner Auffassung nach verstößt die Regelung in Anl. I zu § 2 Nr. 1 des HVM gegen Art. 12 Abs. 1 GG.
Gegen dieses Urteil hat die beklagte KV Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die beklagte KV hat gerügt, das LSG habe zu Unrecht die umstrittene Ertragsstaffelregelung am GG anstatt an der maßgebenden Vorschrift des § 386 f Abs. 1 RVO gemessen. Diese Vorschrift selbst sei verfassungskonform. Deshalb sei nur zu prüfen gewesen, ob die Betragsstaffelregelung als autonomes Satzungsrecht durch die genannte Vorschrift gedeckt sei. - Das gesetzliche Gebot, die übermäßige Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit zu verhüten, stelle das Spiegelbild zum Erfordernis der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise dar. Sei die unwirtschaftliche Behandlungsweise durch eine übermäßige Leistung im einzelnen Behandlungsfall gekennzeichnet, so stelle die Erzielung hoher Honorarerträge bei Unterwertigkeit der Behandlung im Einzelfall eine übermäßige Ausdehnung der Kassenpraxis dar. Wie es statthaft sei, zur Beurteilung der unwirtschaftlichen Behandlungsweise von Richtzahlen auszugehen, so müsse es umgekehrt erlaubt sein, eine auf Erfahrungssätzen beruhende und nach den Erkenntnissen der Erschöpfung menschlicher Arbeitskraft ausgerichtete Honorarabstufung vorzunehmen. - Die strittige Ertragsstaffelregelung sei ein angemessenes und brauchbares Mittel zur Erreichung des gesetzlichen Zwecks gewesen. Der durchschnittliche Quartalsumsatz der Kassenärzte in Nordrhein auf dem Sektor der RVO-Krankenkassen habe
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im Jahre 1960 |
7609.- DM |
im Jahre 1961 |
7649.- DM |
im Jahre 1962 |
8166.- DM |
betragen. Demgegenüber habe die Ertragsstaffelregelung erst bei einem Quartalsumsatz von 12000.- DM - also bei einer Überschreitung des Durchschnitts um rd. 50 % - mit allmählich sich steigernden Kürzungen eingesetzt. -
Die beklagte KV habe die Ertragsstaffelregelung mit Wirkung vom 1. Juli 1962 nicht deswegen abgeschafft, weil sie sie für rechtswidrig gehalten habe. Dies sei vielmehr in erster Linie deshalb geschehen, weil sich im Bereich der beklagten KV ein Übergang vom Pauschal- zum Einzelleistungssystem nach § 368 f Abs. 3 RVO angebahnt habe, in das eine Ertragsstaffel nicht mehr richtig gepaßt habe.
Die Klägerin, die als befreite Vorerbin ihres inzwischen gestorbenen Ehemannes das Verfahren aufgenommen hatte, hat beantragt,
die Revision der beklagten KV zurückzuweisen.
Die Klägerin hält die Auffassung des LSG für richtig, daß die Anl. I zu § 2 Nr. 1 des HVM wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG ungültig sei. Die beklagte KV habe mit der Ertragsstaffel - beginnend bei 12.000.- DM Honorar im Vierteljahr - diejenigen Ärzte treffen wollen, die bei unsorgfältiger Behandlung des einzelnen Patienten durch Routineleistungen und Nachgiebigkeit gegenüber unbegründeten und ungeprüften Wünschen der Patienten möglichst hohe Honorarerträge erzielten. In Wahrheit werde aber mit dem HVM der beklagten KV die Masse der fleißigen und tüchtigen Ärzte, insbesondere - wie im vorliegenden Falle - derjenigen Ärzte benachteiligt, die noch ein Beleg-Krankenhaus zu versorgen hätten und deshalb auf ein großes ärztliches Arbeitsvolumen kommen müßten.
Der beigeladene Verband der Ortskrankenkassen Rheinland, der beigeladene Landesverband der Betriebskrankenkassen Nordrhein-Westfalen und der beigeladene Landesverband der Innungskrankenkassen Nordrhein und Rheinland-Pfalz sind dem Revisionsantrag und den Ausführungen der beklagten KV beigetreten.
II
Die Revision der beklagten KV ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG den angefochtenen Honorarabrechnungsbescheid der beklagten KV in der Gestalt des Widerspruchsbescheides insofern als rechtswidrig angesehen und aufgehoben, als in ihm eine Honorarkürzung nach Anl. I zum HVM der beklagten KV durchgeführt ist.
Wie der Senat in dem in der Sache 6 RKa 15/64 ergangenen Urteil vom gleichen Tage näher dargelegt hat, verstößt die gesetzliche Grundlage des HVM - § 368 f Abs. 1 Sätze 3 bis 5 RVO - nicht gegen das GG. Das gilt insbesondere von der in § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO enthaltenen Sollvorschrift, wonach der HVM sicherstellen soll, daß eine übermäßige Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes verhindert wird. Diese Vorschrift greift - wenn auch nur mittelbar - in das durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht des als Kassenarzt tätigen niedergelassenen Arztes auf Freiheit der Berufsausübung ein, ohne allerdings die Freiheit der Berufswahl zu gefährden. Eine solche Regelung ist zulässig, wenn sich vernünftige Gründe des Gemeinwohls dafür finden lassen.
Ein solcher Grund ist für § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO gegeben. Der Kassenarzt ist verpflichtet, den Versicherten die ärztliche Versorgung zuteil werden zu lassen, die zur Heilung oder Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend ist (§ 368 e Satz 1 RVO). Außerdem hat der Kassenarzt die kassenärztliche Tätigkeit persönlich wahrzunehmen (§ 32 Abs. 1 Satz 1 der Zulassungsordnung für Kassenärzte vom 28. Mai 1957). Ist der Arzt in einem solchen Maße durch die kassenärztliche Tätigkeit in Anspruch genommen, daß er dem einzelnen Kassenpatienten nicht mehr die ausreichende - d. h. gründliche - und persönliche Behandlung zuteil werden lassen kann, so liegt "Übermaß" i. S. des § 368 f Abs. 1 Satz 5 RVO vor. Dieses Übermaß zu verhüten, liegt im Interesse des Gemeinwohls und ist somit ein "vernünftiger Grund" für die genannte Vorschrift.
In dem schon angeführten Urteil - 6 RKa 15/64 -, auf das auch insoweit verwiesen wird, hat der Senat ferner dargelegt, daß der HVM der beklagten KV sich sowohl im Rahmen der Ermächtigungsnorm gehalten als auch die für eine Regelung der Berufsausübung gesetzte Schranke beachtet hat, daß die Regelung für die Betroffenen zumutbar und nicht übermäßig belastend ist (BVerfG 16, 286, 297). Im Rahmen einer solchen Wertung muß entscheidendes Gewicht darauf gelegt werden, daß die Gestaltung des HVM aus dem Recht der Selbstverwaltung einer autonomen Körperschaft fließt. Nach Auffassung des Gesetzgebers kann niemand besser als die zur Durchführung der Selbstverwaltung berufene Körperschaft der Kassenärzte darüber entscheiden, wie die Gesamtvergütung unter Beachtung der wenigen Leitgesichtspunkte des Gesetzes (§ 368 f Abs. 1 Sätze 4 und 5 RVO) und unter Berücksichtigung der örtlichen Besonderheiten des Selbstverwaltungsbereichs sachgemäß unter die Kassenärzte verteilt wird. Ein ordnungsgemäß beschlossener HVM ist deshalb nur dann für die hiervon betroffenen Kassenärzte unzumutbar, wenn er offensichtlich die in dieser Hinsicht für die Gestaltung des HVM gezogenen Grenzen mißachtet hat.
Das ist aber bei dem HVM der beklagten KV nicht der Fall. Er wird selbst in seiner wenig differenzierten Gestalt, die in mancher Hinsicht verfeinert werden könnte, den gesetzlichen Erfordernissen (§ 368 f Abs. 1 Sätze 4 und 5 RVO) gerecht und kann jedenfalls nicht als für die Betroffenen unzumutbar angesehen werden.
Es mußte daher das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen