Leitsatz (amtlich)

Die Berufung ist nicht ausgeschlossen, wenn sie den Anspruch eines ehemaligen Kassenarztes gegen seine Kassenärztliche Vereinigung auf eine Altersunterstützung ("Einnahmegarantie") für einen abgelaufenen, mehr als drei Monate umfassenden Zeitraum betrifft.

 

Normenkette

SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 144 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1958-06-25

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Juli 1964 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der am 14. April 1960 im Alter von 86 Jahren verstorbene Ehemann der Klägerin war seit 1919 Kassenarzt gewesen. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1954 hatte er zugunsten seiner Tochter auf die Kassenzulassung verzichtet. Die von ihm begehrte Einnahmegarantie (EG), die auf Grund der Bestimmungen der Beklagten vom 7. Dezember 1955 in Ergänzung zu ihrem Honorarverteilungsmaßstab (HVM) vom 1. Januar 1956 an unter gewissen Voraussetzungen gezahlt werden konnte, hatte die Beklagte mit Entscheidungen vom 6. Juni 1956 und 11. Juli 1956 (Widerspruchsbescheid) abgelehnt, weil der Ehemann der Klägerin im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der völlig neu geschaffenen Einrichtung der EG nicht mehr Kassenarzt gewesen sei. Auf Klage hatte das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 26. November 1957 diese Bescheide aufgehoben. Das SG war der Ansicht, daß die Beklagte mit der Ablehnung dieses Antrags die Grenzen ihres Ermessens überschritten habe, denn im gleichgelagerten Fall des praktischen Arztes Dr. D habe sie die EG bewilligt, obwohl dieser Arzt ebenfalls vor dem 1. Januar 1956 auf die Kassenzulassung verzichtet habe; die Beklagte müsse deshalb den vom Ehemann der Klägerin gestellten Antrag unter Berücksichtigung der inzwischen ergangenen EG-Richtlinien (EGR) vom 5. September 1956 neu verbescheiden. Auf Berufung der Beklagten hatte das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 15. Juli 1958 die Entscheidung des Vordergerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil die angefochtenen Verwaltungsakte der Beklagten nicht rechtswidrig seien. Die hiergegen eingelegte Revision des Ehemanns der Klägerin hatte das Bundessozialgericht durch Urteil vom 25. September 1962 als unzulässig verworfen; während des Revisionsverfahrens hatte sich die Beklagte (für die Dauer des Rechtsstreits) verpflichtet, dem Ehemann der Klägerin ab 1. April 1959 monatlich 300,- DM zu zahlen und im Falle ihres Obsiegens auf deren Rückforderung zu verzichten.

Bereits am 29. Juli 1958 hatte der Ehemann der Klägerin erneut die Bewilligung der EG beantragt, weil Ziff. 16 Satz 3 der EGR dem Vorstand der Beklagten die Befugnis eingeräumt hatte, in Härtefällen von dem in Ziff. 16 Satz 2 der EGR ausgesprochenen Verbot der Gewährung der EG bei Verzicht auf die Kassenpraxis vor dem 1. Januar 1956 eine abweichende Entscheidung zu treffen. Die gleiche Regelung war in Nr. 31 der später an die Stelle der EGR getretenen Beihilfeordnung der Beklagten vom 17. Dezember 1958 enthalten. Diese ist inzwischen durch das Gesetz über die Versorgungsanstalt für Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte vom 4. Juli 1961 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg S. 207, 299) abgelöst worden.

Der Vorstand der Beklagten hat jenen Antrag mit Beschluß vom 7. Januar 1959 mangels eines Härtefalles - der Ehemann der Klägerin habe Grundbesitz, außerdem habe er unterhaltsfähige Kinder - abgelehnt.

Die vom Ehemann der Klägerin hierauf erhobene - nach dessen Tod von der Klägerin fortgeführte - Klage hat das SG Stuttgart - nach Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - mit Urteil vom 9. Oktober 1963 abgewiesen, nachdem der von der Beklagten am 23. April 1963 erlassene Widerspruchsbescheid die Erstentscheidung vom 7. Januar 1959 auch nach Prüfung gem. Nr. 31 der Beihilfeordnung bestätigt hatte. Das SG ist der Ansicht, daß die Beklagte den Antrag des Ehemannes der Klägerin im Ergebnis zutreffend abgelehnt habe, weil die Gewährung einer EG nicht zu ihren gesetzlichen Aufgaben gehöre; im übrigen seien die angefochtenen Entscheidungen nicht als rechtswidrig anzusehen. Das SG hat die Klägerin dahin belehrt, daß gegen sein Urteil die Berufung nur zulässig sei, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werde (§ 150 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), weil der Rechtsstreit eine Rente für einen abgelaufenen Zeitraum betreffe.

Die von der Klägerin eingelegte Berufung hat das LSG Baden-Württemberg durch Urteil vom 16. Juli 1964 als unzulässig verworfen. Seine Entscheidung hat das Berufungsgericht im wesentlichen wie folgt begründet:

Zwar sei das Rechtsmittel der Klägerin nicht gemäß § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen. Der geltend gemachte Anspruch komme jedoch, auch wenn er im Rahmen des HVM der Beklagten geregelt worden sei, seiner Zahlungsweise, seinem Inhalt und seiner Funktion nach einem Rentenanspruch "im Sinne des Rechts der sozialen Sicherheit" gleich, da er "der Existenzsicherung im Falle zeitweiser oder dauernder Berufsunfähigkeit und Alter" dienen solle. § 146 SGG - derselbe Grundgedanke komme in § 145 Nr. 2 und in § 148 Nr. 2 SGG zum Ausdruck - sei daher in Erfüllung einer bestehenden Gesetzeslücke entsprechend anzuwenden. In den Grenzen des Grundgedankens einer Vorschrift seien auch Ausnahmevorschriften wie die §§ 144 ff SGG einer entsprechenden Anwendung fähig. Dies gelte umso mehr, als die für die Zulässigkeit der Berufung allgemein geltende Vorschrift des § 143 SGG nach ihrem Wortlaut die entsprechende Anwendung von Vorschriften über den Ausschluß der Berufung keineswegs ausschließe. Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens liege, soweit die Klägerin einen solchen überhaupt gerügt habe, nicht vor. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat mit ihrer Revision im wesentlichen geltend gemacht, daß die Vorschriften über den Berufungsausschluß im SGG lückenlos seien, so daß die entsprechende Anwendung des § 146 nicht möglich sei. Sie habe deshalb mit einer Beschränkung des Rechtsstreits auf eine Instanz nicht gerechnet; unter diesen Umständen habe sie die Nichtzulassung der Berufung als willkürlich empfunden und hätte sie in eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung niemals eingewilligt. Überdies sei das LSG an die Nichtzulassung der Berufung durch das SG nicht gebunden gewesen, weil offensichtlich ein Verstoß gegen § 150 SGG vorliege. Die Revision sei auch begründet, weil die Beklagte - in Beziehung zur Sache Dr. D - den Gleichheitsgrundsatz verletzt habe.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist der Meinung, daß es sich bei der Sache Dr. D nicht um einen vergleichbaren Fall handle.

Die Klägerin hat beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung einer EG bzw. Beihilfe von monatlich 500,- DM für die Zeit vom 1. September 1956 bis 30. April 1960 - unter Anrechnung geleisteter Zahlungen - zu verpflichten,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) - Revision ist begründet. Der Auffassung des Berufungsgerichts, daß vorliegendenfalls die Berufung ausgeschlossen sei, kann nicht gefolgt werden.

Nach § 143 SGG ist gegen die Urteile der Sozialgerichte das Rechtsmittel der Berufung gegeben, soweit in den folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Dies bedeutet, daß den bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ihr Recht Suchenden grundsätzlich zwei Tatsacheninstanzen zur Verfolgung ihrer Rechtsansprüche eingeräumt sind. Die - als Ausnahme von dieser Regel - in den §§ 144 - 149 SGG enthaltenen Berufungsausschlußgründe sind einmal nach der Art der erhobenen Ansprüche (z. B. Leistungen, Renten, Ersatzansprüche, Erstattungsansprüche) bestimmt. Zum anderen sind sie teils nach Sachgebieten (§§ 145 - 148 SGG), teils nach einer Wertgrenze (§ 149 SGG) geordnet. Eine nur auf die Art der erhobenen Ansprüche abgestellte Regelung enthält allein § 144 SGG.

Wie das Berufungsgericht indessen zutreffend erkannt hat, ist diese Vorschrift - wobei schon nach dem Wortlaut nur § 144 Abs. 1 SGG in Frage käme - vorliegendenfalls deshalb nicht anwendbar, weil die von der Klägerin begehrte Leistung weder eine einmalige Leistung ist (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG) noch es sich um wiederkehrende, einen Zeitraum bis zu drei Monaten umschließende Leistungen handelt. Der Begriff der einmaligen Leistung beinhaltet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 2, 135, 136 ff) ein Geschehen, das sich seiner Natur nach in einem bestimmten verhältnismäßig kurzen Zeitraum abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Gewährung erschöpft. Dies ist bei der vom Ehemann der Klägerin für einen Zeitraum von mehreren Jahren begehrten, in monatlichen Abständen zu zahlenden EG nicht der Fall, so daß es nicht darauf ankommen kann, daß infolge des Ablebens des Ehemannes der Klägerin die Nachzahlung - bei Begründetheit des geltend gemachten Anspruchs - in einer Summe zu erfolgen hätte. Der erhobene Anspruch richtet sich sonach auf die Gewährung wiederkehrender Leistungen; der in § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG genannte Zeitraum ist indessen weit überschritten.

§ 149 SGG ist in der vorliegenden Streitsache ebenfalls nicht anwendbar, weil der mit der Klage erhobene Anspruch seiner Art nach ein anderer ist als die in § 149 SGG genannten Ansprüche.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist vorliegendenfalls der Grundgedanke des § 146 SGG, der auch in § 145 Nr. 2 und 148 Nr. 2 SGG zum Ausdruck kommt, keiner - auch keiner entsprechenden - Anwendung fähig.

In den §§ 145 - 148 SGG, in denen die Berufungsausschlußgründe nach verschiedenen Sachgebieten, über die die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden haben, geordnet sind, sind die gesetzliche Krankenversicherung und im besonderen das Kassenarztrecht nicht angesprochen; für diese Gebiete gelten sonach allein § 144 und - für das Kassenarztrecht wohl nur in sehr eingeschränkter Weise - § 149 SGG. Der vom LSG geübten Anwendung des § 146 SGG (Ausschluß der Berufung in Angelegenheiten der Rentenversicherungen, soweit sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft) steht entgegen, daß die §§ 144-149 SGG nicht nur eine Durchbrechung des in § 143 SGG enthaltenen allgemeinen Grundsatzes der Möglichkeit der Rechtsverfolgung in zwei Tatsacheninstanzen darstellen, sondern daß darüber hinaus in den §§ 145 - 148 SGG nur für vom Gesetz im einzelnen umschriebene Gruppen von Streitigkeiten die Berufung zum LSG nicht stattfindet. Bei einer solchermaßen einengend gefaßten Ausnahmeregelung ist es selbst nach der Meinung, die nicht von vornherein die ausdehnende Auslegung von Ausnahmevorschriften ablehnt, nicht zulässig, jene Vorschriften auf Tatbestände anzuwenden, die von ihnen ersichtlich nicht erfaßt werden (zur Auslegung und entsprechenden Anwendung von Ausnahmevorschriften siehe auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 260-261 mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Überdies gebietet der Gedanke der Rechtssicherheit, daß Verfahrensvorschriften, die den Ausschluß von Rechtsmitteln zum Inhalt haben, mit gebotener Vorsicht auszulegen sind. Das Urteil des 12. Senats des BSG vom 27. September 1963 (vgl. SozR SGG § 146 Nr. 11) steht dem nicht entgegen. In dieser zu einer Streitsache der Rentenversicherung der Arbeiter ergangenen Entscheidung ist letztlich der in § 146 SGG enthaltene Begriff "Rente" ausdehnend ausgelegt worden.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts liegt nicht etwa eine "Lücke im Gesetz" vor (zu diesem Begriff vgl. Larenz aaO, S. 279 ff; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 15. Auflage, 1959, § 58). Wie sich aus § 143 SGG, insbesondere dessen Halbsatz 2, eindeutig ergibt, sind die Berufungsausschlußgründe in den §§ 144-149 SGG abschließend und erschöpfend geregelt. Das Gesetz kann somit insoweit durch richterliche Rechtsanwendung nicht ergänzt werden. Es geht deshalb nicht an, die sich allein auf das Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherungen beziehende Ausnahmevorschrift des § 146 SGG entsprechend in der Weise anzuwenden, daß sie auch für andere vom Gesetzgeber in den Berufungsausschlußvorschriften der §§ 145-148 SGG nicht genannte Rechtsgebiete gelten soll.

Dem Berufungsgericht ist zwar zuzustimmen, daß es wenig verständlich erscheinen kann, daß in Streitigkeiten der gesetzlichen Rentenversicherungen (ebenso der gesetzlichen Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung - § 145 Nr. 2, § 148 Nr. 2 SGG) wegen bestimmter, zeitlich abgeschlossener wiederkehrender Leistungen ("Renten", "Versorgung") die Berufung kraft ausdrücklicher Vorschrift ausgeschlossen ist, während dies in Fällen der vorliegenden Art, in denen die Interessenlage ähnlich ist, nicht der Fall ist. Auf Grund eines derartigen rechtspolitischen Mangels ist ein Gesetz aber nicht "lückenhaft", sondern - durch den Gesetzgeber - ergänzungsbedürftig (Larenz aaO, S. 282).

Das LSG hätte somit die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Die Revision ist daher begründet. Der Senat hat es als untunlich erachtet, in der Sache selbst zu entscheiden. Bei dem HVM der Beklagten und den ihn ergänzenden Richtlinien über Altersunterstützungen von Kassenärzten handelt es sich um Landesrecht, das nur im Rahmen des § 162 Abs. 2 SGG der Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt. Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend - die Frage, ob diese Bestimmungen überhaupt rechtswirksam sind, nicht geprüft. Das SG hat diese Frage hingegen verneint. Unter diesen Umständen sieht der Senat es als zweckmäßig an, daß das LSG die erforderliche Entscheidung in der Sache trifft.

Daher war gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zu erkennen, wie geschehen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2297152

BSGE, 226

NJW 1965, 1101

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