Leitsatz (redaktionell)
Anspruch auf die Pflegezulage nach BVG § 35 Abs 1 S 4 hat auch der erwerbsunfähige Hirnbeschädigte, dessen Erwerbsunfähigkeit lediglich im Hinblick auf ein besonderes berufliches Betroffensein iS des BVG § 30 Abs 2 um mehr als 90 % beeinträchtigt ist.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1960-06-27, § 30 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger, der vor der Einberufung zum Heeresdienst kaufmännischer Angestellter ohne abgeschlossene Berufsausbildung war, wurde 1944 schwer verwundet. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft war er bis 1950 als Lagerarbeiter bzw. Lagerist und von 1954 bis 1957 als Chemiewerker tätig. Seit dem 1. Juni 1958 bezieht er Rente aus der Arbeiterrentenversicherung. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) erkannte durch Umanerkennungsbescheid vom 3. April 1951 als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Verlust des linken Auges, Knochenveränderungen (Deformierungen) am linken äußeren Augenhöhlenrand und anschließendem Schläfenbein, ferner Osteomyelitis und Hirnprellungsfolgen mit epileptischen Dämmerzuständen an und gewährte ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H., ab 1. Dezember 1950 um 80 v. H. In einem durch Vergleich beendeten Verfahren wegen Weiterzahlung von Versorgungskrankengeld verpflichtete sich der Beklagte, ein Schreiben des Klägers vom 12. Juni 1958 als Rentenerhöhungsantrag anzusehen und insbesondere zu prüfen, ob die MdE nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG wegen besonderer beruflicher Betroffenheit höher eingestuft werden müsse. Durch Bescheid vom 1. Juni 1959 wurde die Rente ab 1. Juni 1958 nach einer MdE um 90 v. H. erhöht. Der Kläger sei besonders beruflich betroffen, da er den vor der Schädigung ausgeübten Beruf nicht mehr ausüben könne. Infolge der anerkannten Schädigungsfolgen sei er frühzeitig invalidisiert worden. Der Widerspruch war erfolglos. Durch Urteil vom 4. Oktober 1960 verurteilte das Sozialgericht (SG) Duisburg den Beklagten, ab 1. Juni 1958 Rente nach einer MdE um 100 v. H. nebst Pflegezulage der Stufe I zu zahlen. Der Beklagte legte gegen die Zubilligung der Pflegezulage Berufung ein. Durch Urteil vom 16. Januar 1964 änderte das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und wies die Klage insoweit ab, als der Beklagte zur Gewährung der Pflegezulage verurteilt worden war. Dem Kläger stehe die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten nach § 35 Abs. 1 BVG nicht zu. Es bestünden schon erhebliche Bedenken gegen die Auffassung des SG, daß der Kläger allein durch die Hirnverletzung in seiner Erwerbsfähigkeit um 80 v. H. gemindert sei. Die Frage bedürfe jedoch keiner weiteren Aufklärung. Das SG habe bei Unterstellung einer MdE von 80 % allein für Hirnverletzungsfolgen Rente nach einer MdE von 100 % zugesprochen, weil die berufliche Betroffenheit mit 20 % zu entschädigen sei. Die Pflegezulage könne einem erwerbsunfähigen Hirnverletzten aber nur dann gewährt werden, wenn die Hirnverletzungsfolgen allein ohne die Erhöhung wegen beruflichen Betroffenseins eine MdE von 100 % ergäben. Bei der Vorschrift über die Gewährung der einfachen Pflegezulage an erwerbsunfähige Hirnverletzte handele es sich um eine Ausnahme von der Regel, daß Pflegezulage nur bei Hilflosigkeit zugebilligt werde. Deshalb sei diese Vorschrift eng auszulegen. Werde die Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins einbezogen, würde die Pflegezulage des Hirnverletzten nicht von der Schwere der Hirnverletzung, sondern von anderen Umständen abhängen, die mit der Schädigung = Hirnverletzung nichts mehr zu tun hätten. Ebenso wie die Pflegezulage einem Hirnverletzten nicht gewährt werden könne, wenn noch andere Schädigungsfolgen zu der Erwerbsunfähigkeit beigetragen hätten, könne auch eine Erhöhung der Rente wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nicht zur Gewährung der Pflegezulage führen. Daß der Kläger hilflos sei, habe er selbst nicht behauptet. Da er durch die Hirnverletzungsfolgen allein höchstens um 80 v. H. in seiner Erwerbsunfähigkeit gemindert sei, stehe ihm die Pflegezulage nicht zu.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 30, 35 Abs. 1 Satz 4 BVG. Zu Unrecht habe das LSG dem Kläger die Pflegezulage für den Fall abgesprochen, daß auf Grund der Hirnverletzung eine MdE um nur 80 v. H. anzunehmen sei; es habe die Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins nicht außer Betracht lassen dürfen. Da der Kläger an epileptischen Anfällen und Dämmerzuständen leide und aus diesem Grunde nicht mehr in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, stehe ihm die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten zu. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und gemäß dem Urteil des SG vom 4. Oktober 1960 zu erkennen.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Eine auf Hirnverletzungsfolgen beruhende Erwerbsunfähigkeit des Klägers könne auch dann nicht angenommen werden, wenn die Erhöhung der MdE wegen beruflichen Betroffenseins berücksichtigt werden müsse; denn eine körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben nach einer MdE um 80 v. H. sei auf Grund der Feststellungen des LSG nicht gerechtfertigt.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sie ist auch sachlich im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Soweit das SG den Beklagten verurteilt hat, dem Kläger ab 1. Juni 1958 Rente nach einer MdE um 100 v. H. zu zahlen, ist das Urteil nicht angefochten. Streitig ist nur, ob dem Kläger die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten zusteht. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG aF, der als Satz 4 des § 35 Abs. 1 BVG nF, d. h. idF des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) - 1. NOG -, des Zweiten Neuordnungsgesetzes vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) - 2. NOG - und des Dritten Neuordnungsgesetzes vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750) - 3. NOG - inhaltlich - von der Höhe der Pflegezulage abgesehen - keine Änderung erfahren hat, erhalten erwerbsunfähige Hirnverletzte bzw. Hirnbeschädigte eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I. Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist ohne Bedeutung, daß an die Stelle des bis zum Inkrafttreten des 1. NOG in § 35 BVG verwendeten Ausdruckes "Hirnverletzte" der weitergehende Begriff "Hirnbeschädigte" getreten ist, denn der Kläger, dessen Leiden auf äußerer Gewalteinwirkung beruht, ist jedenfalls als Hirnverletzter auch Hirnbeschädigter (vgl. im übrigen BSG 8, 133, 134). Das LSG hat zwar Bedenken gegen die Auffassung des SG gehabt, daß bei dem Kläger die MdE im allgemeinen Erwerbsleben allein auf Grund der Hirnverletzungsfolgen (ohne den Verlust des linken Auges) mit 80 v. H. bewertet werden könne. Es hat den Anspruch auf die Pflegezulage aber auch für den Fall verneint, daß die MdE von 80 v. H. für die Hirnverletzungsfolgen als richtig unterstellt werde, weil die Erhöhung der MdE um 20 v. H. wegen besonderen beruflichen Betroffenseins außer Betracht bleiben müsse. Diese Auffassung beruht auf einer unrichtigen Auslegung des § 35 Abs. 1 BVG nF.
Das LSG ist zunächst von der zutreffenden Auffassung ausgegangen, daß Hirnverletzte die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten nur erhalten können, wenn die Erwerbsunfähigkeit allein auf der Hirnverletzung beruht. Diese Auffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (PSG 1, 56; 22, 82 sowie Urteil vom 19. Dezember 1957 - 8 RV 55/56 - in BVBl 1958, 69). Sie beruht auf der Erwägung, daß aus der Entstehung dieser Vorschrift und aus ihrem Zusammenhang, nämlich aus einem Vergleich der in § 35 Abs. 1 Satz 3 für Blinde und der in § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nF für erwerbsunfähige Hirnbeschädigte getroffenen Regelung unter erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten nur solche Beschädigte verstanden werden können, die nach der Art ihrer Schädigung eine Sonderstellung einnehmen und deren Hirnschädigung so schwer ist, daß allein dadurch die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist (BSG 1, 57, 58). Der Senat hat keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Zu Unrecht hat das LSG jedoch die Erhöhung der MdE um 20 v. H. wegen beruflichen Betroffenseins bei der Entscheidung der Frage, ob der Kläger als ein erwerbsunfähiger Hirnverletzter anzusehen ist, außer Betracht gelassen. Anspruch auf die Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nF hat auch derjenige erwerbsunfähige Hirnverletzte, dessen Erwerbsfähigkeit lediglich im Hinblick auf ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG nF um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt ist (BSG 22, 82). In § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nF und in § 31 Abs. 3 BVG nF wird der gleiche Begriff der Erwerbsunfähigkeit vorausgesetzt. Als erwerbsunfähig gilt hiernach der Beschädigte, der in seiner Erwerbsfähigkeit um mehr als 90 v. H. beeinträchtigt ist. Damit ist ihm die Rechtsstellung eines voll erwerbsunfähigen Beschädigten zuerkannt. Ebenso kennt das BVG nur eine einheitliche Wertung der MdE nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG nF, nicht verschiedene und gesondert festzusetzende Minderungen der Erwerbsfähigkeit. Der Grad der MdE nach § 30 BVG idF dieses Gesetzes vor und nach dem Inkrafttreten des 1. NOG wird nur durch verschiedene Faktoren bestimmt, die für die einheitliche Beurteilung der MdE maßgebend sind, zB die körperliche Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, die seelischen Begleiterscheinungen und Schmerzen sowie insbesondere das berufliche Betroffensein (BSG 22, 83, 84). Auch die Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit bei der Bewertung der MdE und damit bei der Feststellung der Erwerbsunfähigkeit dient dazu, die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung (§ 1 Abs. 1 BVG) auszugleichen (BSG 22, 85). Es besteht insoweit kein Unterschied gegenüber der Berücksichtigung der körperlichen Beeinträchtigung. Aus der Verwendung des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit in § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG nF kann deshalb nicht geschlossen werden, daß es sich hierbei um eine allein nach § 30 Abs. 1 BVG nF zu beurteilende Erwerbsunfähigkeit handeln müsse. Der Auffassung des LSG, es komme allein auf die Schwere der Hirnverletzung "nach medizinischer Beurteilung" an, kann somit nicht zugestimmt werden.
Nach diesen Grundsätzen ist im vorliegenden Falle zu ermitteln, welche MdE bei einer Gesamt-MdE von 100 v. H. auf die Hirnverletzungsfolgen entfällt. Dazu gehört auch die wegen beruflichen Betroffenseins eintretende Erhöhung der MdE, soweit dieser Teil der MdE auf Hirnverletzungsfolgen beruht. Dabei kommt es darauf an, ob der Kläger allein oder ganz überwiegend wegen der Folgen der Hirnschädigung aus dem Berufsleben ausgeschieden ist. Das Hirnverletzten-Institut Bonn hat in dem Gutachten vom 5. Januar 1953 eine Wesensänderung des Klägers festgestellt; es hat zwar den Versuch einer arbeitstherapeutischen Schulung vorgeschlagen, aber die Invalidität des Klägers "zunächst bejaht".
Dr. Sch hat in dem Gutachten vom 28. Mai 1958 ausgeführt, daß der Kläger auf Grund der Hirnverletzung als kaufmännischer Angestellter nicht mehr einsatzfähig sei, schwere körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könnten ihm nicht zugemutet werden. Umschulungsmaßnahmen sind gemäß einem Aktenvermerk vom 27. Mai 1959 nicht zumutbar. Seit dem 1. Juni 1958 bezieht der Kläger Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Es bedarf somit der Feststellung, inwieweit die Erwerbsunfähigkeit auf der Hirnverletzung beruht, um hierdurch nicht nur den entsprechenden Anteil der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben, sondern auch den Anteil der Hirnverletzungsfolgen an dem erhöhten MdE-Grad wegen beruflichen Betroffenseins ermitteln zu können. Ergeben diese Feststellungen, daß der Kläger wegen der Hirnverletzungsfolgen und der dadurch bedingten besonderen beruflichen Betroffenheit um mehr als 90 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt ist, so steht ihm die Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 BVG zu. Das LSG hat zwar die von dem SG mit 80 v. H. angenommene MdE für die Hirnverletzungsfolgen - ausschließlich der Erhöhung wegen beruflichen Betroffenseins - unterstellt, aber selbst - von seiner Rechtsauffassung aus zutreffend - keine Feststellung darüber getroffen, welche MdE insgesamt den Hirnverletzungsfolgen zuzuschreiben ist. Bei richtiger Anwendung des § 35 Abs. 1 BVG hätte sie aber getroffen werden müssen. Da diese Feststellung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen