Leitsatz (amtlich)
Die Zeit eines langfristigen Notdienstes, der mit einem hauptberuflichen - entgeltlichen - Beschäftigungsverhältnis verbunden war (3. NotdienstV § 3 vom 1938-10-15; 2. DV 3. NotdienstV § 3 Abs 1 vom 1939-10-10), ist keine Ersatzzeit iS des RVO § 1251 Abs 1 Nr 1. Das gilt auch für den Notdienst eines Handwerkers, für den nur deshalb keine Beiträge entrichtet wurden, weil er die Versicherungsfreiheit von der Handwerkerversorgung geltend gemacht hatte.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; HwVG § 3 Abs. 3 Fassung: 1960-09-08; NotdienstV 3 § 3 Fassung: 1938-10-15; NotdienstVDV 2 § 3 Abs. 1 Fassung: 1939-10-10
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. September 1970 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 5. Dezember 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger war selbständiger Elektromeister. Für ihn waren bis 1938 Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet worden. Von 1939 an zahlte er - unter Geltendmachung der Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung - monatlich Prämien an ein Lebensversicherungsunternehmen. Am 16. November 1939 wurde er aufgrund der Notdienstverordnung (Notdienst-VO) vom 15. Oktober 1938 (RGBl I 1441) für ein großes Hüttenwerk in G hauptberuflich dienstverpflichtet. Die Dienstleistung dauerte bis Anfang 1945.
Die Beklagte lehnte es ab, die Zeit des Notdienstes und damit des militärähnlichen Dienstes (§ 3 Abs. 1 Buchst. k des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) als Ersatzzeit (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gelten zu lassen (Bescheid vom 25. Mai 1967; Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1967). Sie ließ diese Zeit auch bei Berechnung des Altersruhegeldes, das der Kläger seit Mai 1969 bezieht, außer acht (Bescheid vom 22. Mai 1969).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg (Urteil vom 5. Dezember 1969) abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen (Urteil vom 29. September 1970) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Berücksichtigung der Monate November 1939 bis Dezember 1944 als Ersatzzeit ein höheres Altersruhegeld zu gewähren. Es hat sich von der Erwägung leiten lassen, daß der Kläger während der Dauer seiner Notdienstverpflichtung trotz Lohnempfangs weiterhin versicherungsfrei geblieben, so wie er es vorher als selbständiger Handwerksmeister nach Abschluß eines Lebensversicherungsvertrags gewesen sei (§§ 3, 4 des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk - HVG - vom 21. Dezember 1938; § 3 Abs. 1 Satz 4 der Zweiten Durchführungsverordnung - DVO - zur Notdienst-VO vom 10. Oktober 1939 - RGBl I 2018). Da sonach für die fragliche Zeit keine Beiträge entrichtet worden seien, sei von einer Ersatzzeit auszugehen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt; sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie meint, der Kläger dürfe nicht anders behandelt werden wie jeder Handwerker, der die Versicherungsfreiheit geltend gemacht habe. Die Beitragsentrichtung sei wegen dieser Versicherungsfreiheit und nicht wegen des Notdienstes unterblieben.
Die Revision ist begründet.
Die Zeit, in welcher der Kläger während des Krieges zu Notdienstleistungen herangezogen wurde, kann nicht als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO iVm § 3 Abs. 1 Buchst. k BVG bewertet werden. Einer solchen Bewertung steht entgegen, daß der Kläger zu dem Dienstleistungsempfänger in einem Beschäftigungsverhältnis stand, das - abgesehen von seiner Entstehung und der begrenzten Befugnis zu seiner Auflösung - einem solchen entsprach, welches normalerweise durch einen Arbeitsvertrag begründet wird. Auf diesen Notdienst waren die allgemeinen Vorschriften über die Pflicht zur Sozialversicherung und Beitragsentrichtung sinngemäß anzuwenden (§ 3 Abs. 1 der Zweiten DVO zur Notdienst-VO). Es war angeordnet, daß der Dienstverpflichtete weiterhin dem Versicherungszweig angehörte, in dem er bisher versichert gewesen war. Für die Höhe des Beitrags war der zuletzt bezahlte Beitrag maßgebend. Ebenfalls wurde die Rechtsstellung der versicherten Handwerker gewahrt. Dem Handwerker, der aufgrund eines Lebensversicherungsvertrags versicherungsfrei war, hatte der Dienstberechtigte die Hälfte des regelmäßig zur Angestelltenversicherung zu entrichtenden Beitrags zu erstatten (§ 3 Abs. 1 Satz 4 der Zweiten DVO zur Notdienst-VO; dazu: AN 1939, IV 508; 1940, II 112; vgl. ferner Dritte VO zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 20. Dezember 1940 § 1 - RGBl I 1671). Es waren also Vorkehrungen dagegen getroffen, daß der so Dienstverpflichtete in seiner Versichertenposition Nachteile erlitt. Das Erfordernis nach einem Ausgleich fehlender Versicherungszeiten konnte regelmäßig nicht auftreten. Wo sich dieses Bedürfnis dennoch heute zeigt, ist es nicht die Folge der - mit einem Beschäftigungsverhältnis verbundenen - Notdienstverpflichtung, sondern das Resultat einer Wahl, die der Versicherte getroffen hatte, nämlich der, seine Altersvorsorge einem Lebensversicherer anstelle der sozialen Rentenversicherung anzuvertrauen. Daß diese Vorsorge sich nicht ebenso wertbeständig erwies wie die Sozialversicherung, ist kein Fall, der unter die vom Gesetz abschließend angeführten Ersatzzeittatbestände fällt. Die Einbuße, die der Kläger erleidet, ist mithin nicht auf dem von ihm angestrebten Wege auszugleichen. Die Vorteile des Ersatzzeitenrechts sollen solchen Personen zugewendet werden, für die in der in Betracht kommenden Zeit wegen außergewöhnlicher - in den Risikobereich des Staates fallender - Umstände wie Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, Flucht, Vertreibung, Verfolgung usw. nach aller Wahrscheinlichkeit keine Beiträge zur sozialen Rentenversicherung entrichtet werden konnten. Eine solche - vom Willen des einzelnen unbeeinflußte - Fallgestaltung scheidet jedoch bei den hier zu beurteilenden Gegebenheiten von vornherein, und zwar aus Rechtsgründen generell aus, weil für die Dauer des Notdienstes in der Regel die Beitragszahlung gerade vorgeschrieben war. Während der Ersatzzeit bestand also - an sich - Versicherungspflicht. Deshalb kann nach § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO die Ersatzzeit nicht zählen.
Anders verhielte es sich, wenn zwischen dem Dienstleistungsempfänger und dem Dienstpflichtigen kein Beschäftigungsverhältnis begründet worden wäre. Dann wären die Bezüge des Dienstpflichtigen kein Entgelt im Sinne des § 160 RVO, daher Beiträge zur Sozialversicherung nicht zu entrichten gewesen; vielmehr wären die Zeiten als Ersatzzeiten gutzubringen (§ 4 der Zweiten DVO zur Notdienst-VO iVm §§ 1 und 2 der VO über die Rentenversicherung ... während des besonderen Einsatzes der Wehrmacht vom 13. Oktober 1939 - RGBl I 2030 -). An diese Sachlage knüpft § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO an. Diese Vorschrift spricht zwar die Verweisung auf § 3 BVG ohne Einschränkung aus. Infolgedessen erscheint - nach dem Text des Gesetzes - auch § 3 Abs. 1 Buchst. k BVG voll in Bezug genommen zu sein. Durch diese Norm wird jedes Notdienstverhältnis zum militärähnlichen Dienst erklärt (so für das Gebiet der Kriegsopferversorgung: BSG 6, 129). Gleichwohl fehlt es an einem inneren Grund für die uneingeschränkte Übernahme des § 3 Abs. 1 Buchst. k BVG in die Ersatzzeitenregelung des Rentenversicherungsrechts. Dafür besteht kein Bedürfnis und kein Anlaß, wenn der Notdienstpflichtige in einem entgeltlichen Beschäftigungsverhältnis stand.
Mit diesen Erwägungen und der daraus hergeleiteten Rechtsfolge geht der Senat über das Auslegungsergebnis hinaus, das für die in BSG SozR Nr. 21 zu § 1251 RVO veröffentlichte Entscheidung bestimmend war. In jenem Urteil hat der Senat ausgesprochen, daß die Zeit eines langfristigen Notdienstes mit Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses keine Ersatzzeit ist, wenn der Dienstverpflichtete zu der Zeit versicherungsfrei und nicht versicherungsberechtigt war. Dort hielt sich der Senat an die Richtlinie, daß Ersatzzeiten nicht solche Zeiten sein können, in denen dem Versicherten Beitragsleistungen rechtlich unmöglich waren (so auch BSG 25, 284). Von einem Ausschluß jedes Beitrags kann indessen, falls die Versicherung bereits vor dem Ersatzzeitgeschehen begonnen worden war, nur die Rede sein, wenn weder Pflicht- noch freiwillige Beiträge zugelassen waren (BSG 25, 284, 287). Dies kann dem Begehren des Klägers nicht entgegengehalten werden. Denn er hätte sich in den Jahren 1939 bis 1944 in der Arbeiterrentenversicherung versichern können. Dies ergibt sich aus § 26 Abs. 1 und 2 der Ersten VO zur Durchführung und Ergänzung des Handwerkerversorgungsgesetzes (HVG) vom 13. Juli 1939, wonach die Versicherungsfreiheit eines Handwerkers lediglich als mit der Versicherung in der Angestelltenversicherung unvereinbar erklärt wurde und dies auch nur, wenn die Weiter- oder Selbstversicherung nicht schon vor dem 1. Januar 1939 aufgenommen worden war. Der Kläger wäre also nicht gehindert gewesen, die Versicherung in der Arbeiterrentenversicherung nach 1938 wieder aufzunehmen, so wie er sie bis zu diesem Jahre schon einmal freiwillig fortgesetzt hatte (§ 1244 RVO in der damals geltenden Fassung). Da die Klageforderung mithin nicht am Fehlen der Versicherungsfähigkeit des Klägers während der maßgeblichen Zeit scheitern kann, sah sich der Senat vor die - von ihm verneinte - Frage gestellt, ob der gegenwärtige Streitfall überhaupt einem Ersatzzeittatbestand zu subsumieren ist.
An der hier gewonnenen Interpretation ändert § 3 Abs. 3 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) nichts. An dieser Gesetzesstelle heißt es, daß die auf der Eintragung in die Handwerksrolle beruhende Versicherungspflicht eines Handwerkers die Anrechnung einer Ersatzzeit nicht verbietet, wenn für diese Zeit Beiträge nicht entrichtet sind.
Aus dieser Vorschrift ist nicht allgemein zu folgern, für die Annahme einer Ersatzzeit sei das gleichzeitige Bestehen der Versicherungspflicht schlechthin irrelevant. § 3 Abs. 3 HwVG hebt die Anwendung von § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO ("und während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat") nicht ein für allemal auf. Schon der Wortlaut des § 3 Abs. 3 HwVG gebietet eine einengende Deutung; er spricht lediglich von der "aufgrund" der "Eintragung in die Handwerksrolle" begründeten Versicherungspflicht. Diese Eintragung und die an sie gekoppelte Versicherungspflicht endete nicht ohne weiteres mit einem als Ersatzzeit qualifizierten Geschehen. Vielmehr mußte Abweichendes erst noch klargestellt werden. So ordnete § 5 Abs. 3 der Durchführungs- und Ergänzungs-VO zum HVG vom 13. Juli 1939 an, daß für Ersatzzeiten keine Beiträge entrichtet werden mußten. Das Gegenteil war jedoch für Notdienstpflichtige, die in einem Beschäftigungsverhältnis standen, in § 3 der Zweiten DVO zur Notdienst-VO vorgeschrieben. Mit Rücksicht auf dieses Beschäftigungsverhältnis wurde an der Versicherungspflicht festgehalten. Dem wirkt § 3 Abs. 3 HwVG nicht entgegen. Diese Gesetzesbestimmung nimmt bloß auf eine Besonderheit des Handwerkerversicherungsrechts, nämlich darauf Bedacht, daß der gesetzliche Zwang zur Versicherung von der Formalität einer Registereintragung abhing (so: Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, Bundestagsdrucksache III/1379 zu § 3 des Gesetzentwurfes). Soweit aber die Versicherungspflicht ungeachtet dieser Eintragung gegeben war und einer Beitragsentrichtung kein Sachverhalt entgegenstand, der als Ersatzzeittatbestand zu qualifizieren ist, gilt § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO auch für Handwerker.
Hiernach kann der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zugestimmt werden. Sein Urteil ist daher aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen