Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Maurer. Verweisung eines Facharbeiters auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst
Orientierungssatz
Ein ehemaliger Facharbeiter kann bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf einfache Arbeiten im öffentlichen Dienst zumutbar verwiesen werden (vgl BSG 1980-11-28 5 RJ 50/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 71). Er kann nach ständiger Rechtsprechung des BSG im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO außer auf andere Facharbeitertätigkeiten auf Tätigkeiten verwiesen werden, die zur Gruppe der "sonstigen Ausbildungsberufe" (Anlernberufe) gehören. Eine Verweisung auf ungelernte Arbeiten ist nur dann möglich, wenn diese infolge besonderer Qualitätsmerkmale wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind (vgl BSG 1980-11-12 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 04.08.1980; Aktenzeichen L 2 J 50/80) |
SG Speyer (Entscheidung vom 15.01.1980; Aktenzeichen S 11 J 538/78) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit hat (§§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Von 1947 bis 1977 war der Kläger als Bauarbeiter und als Maurer versicherungspflichtig beschäftigt. Seinen im Dezember 1977 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Februar 1978 ab. Widerspruchsverfahren, Klage und Berufungsverfahren blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1978, Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 15. Januar 1980 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 4. August 1980.
Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, auch ohne förmliche Lehre oder Anlernausbildung habe der Kläger während seiner langjährigen Tätigkeit als Maurer in diesem Beruf so viele Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, daß er einem gelernten Maurer gleichzusetzen sei. Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit habe er nicht, weil er auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst verwiesen werden könne, die nach Vergütungsgruppe X der Anlage 1a zum Bundesangestelltentarif (BAT) entlohnt würden oder die unter § 7 Lohngruppen I Nr 2 und II des Manteltarifvertrages für Arbeiter der Länder (MTL II) fielen und nach dem Monatslohntarifvertrag Nr 10 zum MTL II entlohnt würden. Dazu gehörten Angestellte im Büro-, Registratur-, Buchhalterei-, Kanzlei- oder sonstigen Innendienst, ferner Arbeiter an Büro-Offsetmaschinen und Justizaushelfer. In Betracht kämen Tätigkeiten bei der Postabfertigung, die Führung von Brieftagebüchern, Inhaltsverzeichnissen oder die Führung einfacher Karteien, der gelegentliche Pförtnerdienst und das Heraussuchen von Vorgängen anhand von Tagebüchern. Es handele sich um Tätigkeiten einfacher, aber nicht einfachster Art, die ohne einschlägige Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach weniger als dreimonatiger Einweisung und Einarbeitung verrichtet werden könnten. Das soziale Ansehen solcher Tätigkeiten werde durch Sicherheit, durch den Charakter solcher Stellen und dadurch mitbestimmt, daß mit Zeitablauf und Bewerbung die Möglichkeit einer Höhergruppierung bestehe. Unzumutbar könnten die Tätigkeiten für den Kläger schon deshalb nicht sein, weil Arbeitnehmer in nicht unerheblicher Zahl unter freiwilliger Lösung vom erlernten Beruf sich derartige Arbeiten selbst zumuteten. So hätten sich beim LSG in Mainz sieben Facharbeiter verschiedener Berufsrichtungen um eine zunächst in Vergütungsgruppe X BAT eingestufte Beschäftigung erfolgreich beworben. Die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers sowie seine Intelligenz reichten aus, die genannten Verwaltungstätigkeiten zu verrichten. Wer die Qualifikation eines Maurers besitze, könne nicht geltend machen, seine Befähigung im Berufsleben reiche nicht aus, um eine Arbeit zu verrichten, die an die berufliche Qualifikation geringere Anforderungen stelle als der geschützte Beruf.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der von LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 128, 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie eine fehlerhafte Anwendung und Auslegung der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO. Anhand der eingeholten medizinischen Gutachten ließen sich ausreichende geistige Fähigkeiten, die die Verweisungstätigkeiten erforderten, nicht nachweisen. Das LSG hätte sich insoweit zu einer weiteren Sachaufklärung gedrängt fühlen müssen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts lasse nicht in ausreichender Weise konkret erkennen, auf welche speziellen Tätigkeiten verwiesen werden solle. Auch fehlten tatsächliche Feststellungen darüber, welche Leistungsmäßigen Forderungen hierbei erfüllt werden müßten und ob der Kläger diesen Anforderungen in jeder Weise gewachsen sei. Darüber hinaus seien die genannten Verweisungstätigkeiten für einen Facharbeiter grundsätzlich unzumutbar.
Der Kläger beantragt,
1. unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG
sowie des Bescheides der Beklagten vom
22. Februar 1978 idF des Widerspruchsbescheides
vom 14. Juli 1978 die Beklagte zu verurteilen,
ihm ab 1. Januar 1978 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
hilfsweise
wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren;
2. hilfsweise das Urteil des LSG aufzuheben und die
Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie sieht die angefochtene Entscheidung des LSG im Ergebnis als zutreffend an.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 SGG). Die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach den unangegriffenen und für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG ist "bisherige Berufstätigkeit" des Klägers iS des § 1246 Abs 2 RVO die Tätigkeit des Maurers. Als ehemaliger Facharbeiter kann er aber bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf die im Berufungsurteil genannten einfachen Arbeiten im öffentlichen Dienst zumutbar verwiesen werden (vgl Urteil des Senats vom 28. November 1970 - 5 RJ 50/80 - mwN). In der zitierten Entscheidung hat der Senat auch dargelegt, daß entgegen der Ansicht des LSG sich die Zumutbarkeit einer tariflich erfaßten Verweisungstätigkeit grundsätzlich nach der qualitativen Bedeutung und Wertbestimmung richtet, wie sie sich aus der tariflichen Einordnung ergibt. Diese darf nicht ohne weiteres durch "andere Qualitätsmerkmale" ersetzt werden. Außerdem hat der Senat dargelegt, weshalb ein Facharbeiter nicht auf einfache ungelernte Tätigkeiten im öffentlichen Dienst verwiesen werden darf, selbst wenn andere ehemalige Facharbeiter sich die Ausübung derartiger Tätigkeiten freiwillig zumuten.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann ein Facharbeiter im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO außer auf andere Facharbeitertätigkeiten auf Tätigkeiten verwiesen werden, die zur Gruppe der "sonstigen Ausbildungsberufe" (Anlernberufe) gehören. Eine Verweisung auf ungelernte Arbeiten ist nur dann möglich, wenn diese infolge besonderer Qualitätsmerkmale wie angelernte Tätigkeiten eingestuft sind (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 23 und 38 sowie Urteil vom 12. November 1980 - 1 RJ 104/79 - mwN). Das LSG hat nicht geprüft, ob der Kläger bei seinen gesundheitlich bedingten Einschränkungen und aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten noch in der Lage ist, unter Berücksichtigung der erwähnten Rechtsprechung des BSG eine die Berufsunfähigkeit ausschließende Verweisungstätigkeit nach einer Einarbeitungszeit von höchstens drei Monaten Dauer zu verrichten. Die dafür notwendigen Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen