Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 29.10.1992) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 1992 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Erwerbs- oder wegen Berufsunfähigkeit (EU/BU).
Der 1942 geborene Kläger – ein türkischer Staatsangehöriger – war bis 1972 im wesentlichen in der väterlichen Landwirtschaft beschäftigt. An türkischen Versicherungszeiten sind aus dieser Zeit 91 Tage nachgewiesen. Von Juli 1972 bis Dezember 1982 arbeitete er mit Unterbrechungen in Deutschland. Von 1982 bis 1984 bezog er Krankengeld, Arbeitslosengeld (Alg) und Arbeitslosenhilfe (Alhi). Er kehrte dann in die Türkei zurück. In der Türkei übte er keine Tätigkeit mehr aus. Im August 1985 stellte er einen Rentenantrag. Der Kläger wurde in der Türkei untersucht. Die Ärzte hielten ihn (1986) für uneingeschränkt erwerbsfähig. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 23. Oktober 1986; Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1987).
Im sozialgerichtlichen Verfahren hat sich der Kläger auf ein psychisches Leiden berufen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Dezember 1988). Es hat, gestützt auf von ihm eingeholte Gutachten, angenommen, der Kläger sei erst im Jahre 1987 erwerbsunfähig geworden. Einen Anspruch auf Rente habe er nicht, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a Reichsversicherungsordnung (RVO) fehlten. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 1992). Der Kläger sei seit 1987 erwerbsunfähig. Der Kläger habe nicht mindestens 36 Monate mit Pflichtbeiträgen zur deutschen oder türkischen Rentenversicherung belegt. Ebensowenig habe er die Zeit bis zum Eintritt des Versicherungsfalles mit Beiträgen oder in sonstiger Weise überbrückt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG habe es versäumt, ein weiteres fachärztliches Gutachten einzuholen. Dadurch sei über den Zeitpunkt des Eintritts der EU nur aufgrund von Vermutungen entschieden worden. Im übrigen sei die Regelung der §§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a RVO in einem Fall wie dem des Klägers verfassungswidrig. In der Türkei sei es für den Kläger weder rechtlich noch tatsächlich möglich gewesen, Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten. Somit sei ihm durch das Haushaltsbegleitgesetz (HBegleitG) die Anwartschaft auf EU-Rente total entzogen worden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 6. Dezember 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ab Antragstellung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG ist zurückzuweisen. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen BU oder EU.
Trotz Inkrafttretens des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) am 1. Januar 1992 ist auf den vorliegenden Fall noch das Recht der RVO anzuwenden. Denn der Anspruch des Klägers ist vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht worden (§ 300 Abs 2 SGB VI).
Nach § 1247 RVO wird EU-Rente nach Erfüllung der Wartezeit und bei EU gewährt. Nach § 1246 RVO erhält ein Versicherter Rente wegen BU, wenn er die Wartezeit erfüllt hat und berufsunfähig ist. Lägen beim Kläger die Voraussetzungen der EU-Rente nicht vor, wohl aber die der BU-Rente, so wäre anzunehmen, daß der Kläger die letztere begehren würde. Der Antrag des Klägers auf EU-Rente enthält damit auch das Weniger der BU-Rente. Beide Rentenarten haben aber als Voraussetzung, daß der Versicherte die sog versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt hat (§§ 1246 Abs 2a, 1247 Abs 2a RVO). Das bedeutet, daß er Leistungen nur erhält, wenn er von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt der BU oder EU mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt hat (§§ 1246, 1247 RVO, jeweils Abs 2a) oder wenn der Versicherte vor dem 1. Januar 1984 60 Monate Versicherungszeit hatte und die Zeit bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalles mit Beiträgen oder sonstigen im Gesetz genannten Zeiten belegt hat (Art 2 § 6 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz ≪ArVNG≫).
Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß der Kläger erst im Jahre 1987 in der nunmehr als EU betrachteten Weise erwerbsgemindert ist. An diese Feststellung ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Gegen diese Feststellung hat der Kläger auch nicht zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht, was nach § 170 Abs 3 Satz 1 SGG keiner weiteren Begründung bedarf.
Daß der Kläger in den 60 Monaten vor Eintritt seiner EU keine 36 Monate Pflichtbeiträge geleistet hat, ist vom LSG unwidersprochen festgestellt worden. Ebenso ist die Zeit von seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bis zum Versicherungsfall nicht mit Beiträgen oder in anderer Weise überbrückt.
Der Kläger ist auch nicht in verfassungswidriger Weise in seinen Rechten dadurch verletzt, daß die vor 1984 von ihm erworbenen Rentenanwartschaften an Wert eingebüßt haben, weil sie ihm ohne freiwillige Beitragszahlungen nicht mehr zeitlich unbeschränkt vollen Schutz gegen BU oder EU bieten. Wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluß vom 8. April 1987 (SozR 2200 § 1246 Nr 142) entschieden hat, sind die Regelungen des HBegleitG 1984, welche die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der BU- und EU-Rente erschweren und die die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eingeführt haben, an denen der Rentenanspruch des Klägers nun scheitert, mit Art 14 Abs 1 und Art 3 Grundgesetz (GG) vereinbar, soweit danach Versicherte, die vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hatten, ihre Anwartschaften nur durch Weiterzahlung von Beiträgen aufrechterhalten können. Bei einer solchen Regelung liegt kein Totalentzug einer Rentenanwartschaft vor, sondern nur eine Modifikation. Diese Möglichkeit der Beitragsentrichtung hatte der Kläger. Wer sich im Inland aufhält, kann sich nach § 1233 Abs 1 RVO freiwillig versichern. Wer darauf bereits vom Inland aus verzichtet, schlägt diese Möglichkeit aus. Grundsätzlich gilt auch: Wer in ein fremdes Land geht, von wo aus er,
sei es aus rechtlichen Gründen, sei es aus tatsächlichen Gründen, eine Möglichkeit nicht mehr hat, die er noch im Inland hatte, schlägt diese Möglichkeit ebenfalls freiwillig aus. Wer sich durch den Wegzug von Deutschland selbst einer rechtlichen Chance beraubt, setzt sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch, wenn er sich wegen der von ihm selbst in Kauf genommenen geminderten rechtlichen Möglichkeiten benachteiligt glaubt.
Der deutsche Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, dafür zu sorgen, daß jeder Deutsche oder jeder, der einmal in Deutschland versichert war, vom Ausland aus alle rechtlichen Möglichkeiten hat, die derjenige hat, der sich fortwährend im Inland aufhält. So gewährt bereits § 1233 RVO nur dem eine unbeschränkte freiwillige Versicherungsmöglichkeit, der sich im Inland aufhält. Wer eine Rentenanwartschaft erworben hat, kann den Entschluß fassen, Zahlungen nachzuschießen, um die Anwartschaft zu erhalten, er kann unter den Voraussetzungen des § 1303 RVO, dh insbesondere wenn kein Recht zur freiwilligen Versicherung besteht bzw wenn er dieses Recht dadurch zum Erlöschen bringt, daß er auswandert, auch Beitragserstattung verlangen. In beiden Fällen sind die sich daraus ergebenden Folgen keine Benachteiligung, sondern Folgen seines freiwilligen Verhaltens. Das BVerfG hat entschieden, daß eine Regelung, die Ausländern im Ausland die Rente nicht auszahlt und ihnen auch keinen Anspruch auf eine „angemessene Erstattung der Beiträge” einräumt, mit Art 3 GG unvereinbar ist (SozR 2200 § 1315 Nr 5). Eine dieser Möglichkeiten hatte der Kläger indes immer.
Im Falle des Klägers war es überdies so, daß er auf jeden Fall die Möglichkeit hatte, sich freiwillig zu versichern, auch von der Türkei aus. Der Kläger brauchte vor dem Verlassen Deutschlands nur einen freiwilligen Beitrag in Deutschland zu leisten und hatte von da an das Recht, auch von der Türkei aus freiwillige Beiträge zur deutschen Versicherung zu entrichten (§ 1233 Abs 1 RVO iVm Art 26 und 52 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964, BGBl II S 1170 ff; Zustimmungsgesetz vom 13. September 1965, BGBl II S 1169). Wenn der Kläger diese Möglichkeit nicht erkannt oder gering geachtet hat, so kann das nicht dazu führen, ihm nachträglich die Notwendigkeit der Beitragsleistung zu erlassen. Daß die fehlende oder mangelhafte Ausnutzung gesetzlicher Chancen Nachteile haben kann, ist ein Umstand, von dem jeder betroffen sein kann.
Der Kläger beruft sich weiter darauf, die Verdienstmöglichkeiten in der Türkei seien schlechter als die in Deutschland. Er sei deshalb tatsächlich nicht in der Lage gewesen, Beiträge zu entrichten. Der Grund, weshalb keine Beiträge geleistet worden sind, ist indes nach deutschem Recht ganz allgemein nicht rechtserheblich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen