Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Klage und Berufung
Orientierungssatz
Bei mehreren selbständigen Ansprüchen ist für jeden gesondert zu prüfen, ob für ihn Klage und Berufung zulässig sind (vgl BSG vom 23.10.1959 - 3 RJ 175/56 = BSGE 10, 264).
Normenkette
SGG §§ 143, 150 Nr. 3
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 12. September 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 5) bezog bis zu seinem Tode, dem 15. Dezember 1952, auf Grund des Bescheides vom 23. Juni 1950 und des Umanerkennungsbescheides vom 22. Januar 1952 wegen eines Herzklappenfehlers, der als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anerkannt war, Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Er hatte geglaubt, ihm stehe eine höhere Rente zu. Seine Berufung nach altem Recht, welche nach seinem Ableben die jetzigen Kläger fortgesetzt haben, ist vom damaligen Oberversicherungsamt (OVA) Würzburg durch Urteil vom 27. August 1953 auf Grund des Gutachtens des Facharztes für innere Krankheiten Dr. J vom gleichen Tage zurückgewiesen worden. Der Rekurs ist als Berufung nach neuem Recht an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) übergegangen und ist zurückgewiesen worden (Urteil vom 27. Mai 1957). Ausweislich des Leichenschauscheines ist der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 5) an Herzlähmung gestorben; als Grundleiden ist angegeben "Herzklappenfehler" und als Begleitkrankheiten " Oedeme , Ascites" und als Nachkrankheit eine Herzinsuffizienz.
Die Kläger haben die Gewährung von Bestattungsgeld und von Hinterbliebenenrenten beantragt. Gestützt auf das versorgungsärztliche Gutachten des Regierungsmedizinalrats Dr. P vom 12. Juni 1953 gewährte das Versorgungsamt (VersorgA) durch den Bescheid vom 10. Dezember 1953 das halbe Bestattungsgeld und versagte durch Bescheid vom 6. April 1954 die Gewährung von Hinterbliebenenrenten, weil nicht angenommen werden könne, daß die Verschlimmerung des Herzleidens, die zum Tode geführt habe, noch dem geleisteten Wehrdienst zur Last gelegt werden könne, sondern vielmehr auf das schicksalhafte Fortschreiten der schon vor dem Wehrdienst bestandenen Herzerkrankung zurückzuführen sei. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheide vom 12. Juni 1954 und 10. November 1954).
Die Kläger haben wegen des vollen Bestattungsgeldes und der Gewährung von Hinterbliebenenrenten Klage erhoben und haben ärztliche Bescheinigungen des praktischen Arztes Dr. P vom 18. November 1954, des Facharztes für innere Krankheiten Dr. H vom 18. Mai 1954, des praktischen Arztes Dr. H vom 18. November 1954 beigebracht und sind der Ansicht gewesen, der Ehemann der Klägerin zu 1) habe sich durch den Wehrdienst sein Herzleiden zugezogen und sei an ihm gestorben. Das Sozialgericht (SG) hat die Streitverfahren über die Gewährung von Bestattungsgeld und von Hinterbliebenenrenten (§ 113 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und hat - gestützt auf das von ihm eingeholte Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. B vom 4. Dezember 1958 - durch Urteil vom 4. Dezember 1958 den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 10. Dezember 1953 und 6. April 1954 bzw. der Widerspruchsbescheide vom 12. Juni 1954 und 10. November 1954 verurteilt, den Tod des Ehemannes der Klägerin zu 1) als Schädigungsfolge anzuerkennen, das entsprechende Bestattungsgeld und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Es hat ausgeführt, der Tod des Ehemannes der Klägerin zu 1) sei auf die als Schädigungsfolge anerkannte richtunggebende Verschlimmerung des Herzmuskelschadens zurückzuführen und sei auch ein Jahr früher eingetreten als es sonst bei einem Herzklappenfehler ohne verschlimmernde Einflüsse der Fall gewesen sei.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und die versorgungsärztliche Stellungnahme des Facharztes für innere Krankheiten Dr. L vom 2. Oktober 1959 beigebracht. Die Kläger haben Zurückweisung der Berufung beantragt. Durch Urteil vom 12. September 1961 hat das LSG auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Da der Ehemann der Klägerin zu 1) bis zu seinem Tode wegen eines im Sinne der Verschlimmerung anerkannten Herzklappenfehlers Versorgungsrente nach einer MdE um 30 v. H. bezogen habe, sei zu prüfen, ob die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung den weiteren Verlauf des Leidens so bestimmt habe, daß sie Ursache oder wesentliche Mitursache für den Tod des Beschädigten gewesen sei. Es hat sodann die Wehrdienstzeit des Ehemannes der Klägerin zu 1) behandelt und ist zu dem Ergebnis gekommen, es sei schon sehr weitgehend, wenn die Versorgungsbehörde seinerzeit eine wehrdienstbedingte Verschlimmerung eines Herzklappenfehlers anerkannt habe. Aus dieser Anerkennung könne keinesfalls die Folgerung gezogen werden, daß die an sich schon fraglichen wehrdienstlichen Einflüsse für den weiteren Verlauf des Leidens derart ausschlaggebend gewesen seien, daß es 7 1/2 Jahre nach der Entlassung aus dem Wehrdienst zum tödlichen Ausgang gekommen sei. Der Sachverständige Dr. B habe es unterlassen, im einzelnen auf die angeblichen Wehrdienstleistungen näher einzugehen und habe diese vielmehr ohne kritische Würdigung als gegeben unterstellt; er habe ferner übersehen, daß die eigentliche Verschlimmerung des Herzleidens erst etwa im Jahre 1950 eingesetzt habe, wie sich aus dem Bericht des T.-krankenhauses ergebe. Es hat die Revision nicht zugelassen.
Die Kläger haben Revision eingelegt und zunächst beantragt, zu erkennen,
1) unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Beklagte verurteilt, den Tod des Ehemannes der Klägerin zu 1) als Schädigungsfolge anzuerkennen und das entsprechende Bestattungsgeld zu gewähren.
2) Unter Aufhebung desselben Urteils wird der Beklagte verurteilt, Hinterbliebenenversorgung für die Kläger zu gewähren.
Später haben sie beantragt zu erkennen:
1. Unter Aufhebung des Urteils des Bayer. Landessozialgerichtes vom 12.9.1961 wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 4.12.1958 Ziffer I als unzulässig verworfen, insoweit der Klägerin das erhöhte Bestattungsgeld zugesprochen wurde.
2. Unter Aufhebung desselben Urteils des Bayerischen Landessozialgerichtes wird im übrigen die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichtes Würzburg vom 4.12.1958 als unbegründet zurückgewiesen.
Sie rügen mit näherer Begründung ua einen Verstoß gegen die Denkgesetze und eine Verletzung der Kausalitätsnorm, weil das LSG die Beweisfrage, auf die es ankomme, zunächst richtig formuliert, dann aber nur Erwägungen angestellt habe, welche die Gewährung der Rente an den Ehemann der Klägerin zu 1) betreffen, nicht aber den ursächlichen Zusammenhang des als Schädigungsfolge anerkannten Verschlimmerungsanteils mit dem Ableben. Diesen ursächlichen Zusammenhang habe der Sachverständige Dr. B für vorliegend erachtet. Das Berufungsgericht habe von diesem Gutachten nicht ohne Einholung eines neuen ärztlichen Gutachtens abweichen dürfen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. September 1961 als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist vom LSG nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG form- und fristgerecht gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).
Das LSG ist hier zutreffend von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen. Insoweit ist folgendes maßgebend: Das SG hat mit seinem Urteil vom 4. Dezember 1958 über zwei Ansprüche der Kläger entschieden, nämlich über den Anspruch auf Gewährung von Bestattungsgeld (§ 36 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) und über den auf Gewährung von Hinterbliebenenrenten (§ 38 BVG). Es handelt sich hierbei um zwei selbständige Ansprüche, die allerdings durch das gleiche Ereignis, nämlich das Ableben des Beschädigten, entstanden sind. Der Beklagte hat das Urteil uneingeschränkt mit der Berufung angefochten, hat also hinsichtlich beider Ansprüche von dem Rechtsmittel Gebrauch gemacht. Bei derartigen selbständigen Ansprüchen ist für jeden gesondert zu prüfen, ob für ihn Klage und Berufung zulässig sind (BSG 10, 264 ff, 266; vgl. auch 3, 135 ff, 139). Hier ist die Berufung wegen der Hinterbliebenenrenten nach § 143 SGG und wegen des Sterbegeldes nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig gewesen. Denn diese letztere Vorschrift erfaßt auch diejenigen Fälle, in denen der ursächliche Zusammenhang als grundlegende Vorfrage und Voraussetzung eines Anspruchs streitig ist.
In der Sache hat das Berufungsgericht im Anschluß an die Rechtsprechung des BSG zutreffend für entscheidend gehalten, ob die Verschlimmerung, die als Schädigungsfolge anerkannt und für die dem Beschädigten Rente gewährt worden war, den weiteren Verlauf des Leidens so bestimmt hat, daß sie Ursache oder wesentliche Mitursache für den Tod des Beschädigten gewesen ist (vgl. BSG 7, 53, 55 ff; 12, 213 ff). Diese Frage hatte der Sachverständige Dr. B in seinem Gutachten vom 4. Dezember 1958 bejaht. Er hat dabei den Verlauf der Herzerkrankung auch während des Krieges berücksichtigt, soweit er sich aus folgendem ergibt: der Bezeichnung des Tauglichkeitsgrades, der Lazarettbehandlung im Jahre 1941, dem DU-Verfahren im Jahre 1945 mit dem ärztlichen Befundschein des Truppenarztes im Standort G. vom 30. März 1945 und aus der Zuteilung zur Versehrtenstufe II im Jahre 1946 sowie den ärztlichen Gutachten vom Jahre 1949 und 1950. Demgegenüber hat das Berufungsgericht, wie die Kläger zutreffend gerügt haben, nicht den Verlauf des Leidens und die Auswirkungen des anerkannten Verschlimmerungsanteils untersucht, sondern - entgegen der im Urteil zunächst als maßgebend bezeichneten Frage - die vermutlichen Einwirkungen des Wehrdienstes auf das vorher schon vorhandene Herzleiden. Hierzu haben die Kläger zu Recht gerügt, daß das LSG mit der von ihm gegebenen Begründung von dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B nicht abweichen durfte. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG im SozR SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2) überschreitet das Gericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Sachverständigen hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt. Wenn auch der ärztliche Sachverständige stets nur der Gehilfe des Richters bleibt, und seine Äußerung bei der Urteilsfindung dem Ganzen unter- und einzuordnen ist, so läßt sich doch die besondere Bedeutung der Sachverständigengutachten nicht verkennen. Da dem Gericht die genauen Sachkenntnisse meist fehlen werden (gerade um des willen bedient es sich für Fragen, die eine besondere Fachkunde erfordern, der Gutachter), wird es ohne besonders wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch die Gutachter nicht hinweggehen, insbesondere nicht seine eigene Auffassung an deren Stelle setzen dürfen. Hier stand dem LSG zwar außer dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B noch die versorgungsärztliche Stellungnahme des Facharztes für innere Krankheiten Dr. L vom 2. Oktober 1959 zur Verfügung. Das LSG mußte aber erkennen, daß die Ausführungen dieses Sachverständigen nicht die von ihm zu Eingang der Entscheidungsgründe als wesentlich bezeichnete Beweisfrage betrafen, sondern auf ganz anderen Erwägungen aufgebaut sind. Das Berufungsgericht hat auch nicht etwa die beiden Gutachten der Sachverständigen Dres. B und L gegeneinander abgewogen und sich dem letzteren angeschlossen, sondern hat mit vorwiegend tatsächlichen Erwägungen sein Abweichen von dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B begründet. Insoweit hat es, wie die Kläger zutreffend gerügt haben, die ihm gezogene Grenze des Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten und die Vorschrift des § 128 Abs. 1 SGG verletzt. Es wäre erforderlich gewesen, daß das LSG hinsichtlich der von ihm bezeichneten Beweisfrage - wenn es schon dem Sachverständigen Dr. B nicht glaubte folgen zu können - ein weiteres ärztliches Gutachten über die rein medizinische Frage eingeholt hätte, inwieweit der als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerungsanteil als Ursache oder Mitursache im Rechtssinne für das Ableben des Ehemannes der Klägerin zu 1) in Betracht kommt.
Da hiernach der gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vorliegt, ist die Revision statthaft und zulässig.
Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 128 und 103 SGG richtig angewendet hätte (BSG 2, 197 ff, 201). Die Feststellungen des Berufungsgerichts über den ursächlichen Zusammenhang binden hier nach § 163 SGG das Revisionsgericht nicht, weil in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht worden sind. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von dem Ergebnis weiterer Ermittlungen ab, deren Vornahme dem Senat versagt ist. Demgemäß war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Fundstellen