Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Beweisanordnung
Orientierungssatz
1. Ein Gericht darf eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines Arztgutachtens entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis würdigen, wenn es den Verfasser der Äußerung vorher zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt, dh mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat; will das Gericht die Äußerung eines nicht zum Sachverständigen ernannten Arztes bei der Überzeugungsbildung verwerten, müssen die Entscheidungsgründe zum Ausdruck bringen, daß es sich der fehlenden Qualifikation der Äußerung als Gutachten bewußt gewesen ist (vgl BSG 1967-08-23 5 RKn 99/66 = SozR Nr 81 zu § 128 SGG).
2. Benennt eine Beweisanordnung einen Sachverständigen namentlich so ist kein Raum für die Annahme, das LSG könnte vielleicht nicht den Gutachter persönlich, sondern den Leiter der Klinik und damit ggf auch dessen Vertreter oder Nachfolger zum Sachverständigen bestellt haben (vgl BSG 1965-08-04 11 RA 366/64 = SozR Nr 73 zu § 128 SGG).
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 15.04.1969) |
SG Detmold (Entscheidung vom 25.11.1965) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1969 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin, die Anfang 1942 als Lehrschwester in St. P bei W beschäftigt war, fiel am 24. Januar 1942 bei Ausübung ihres Dienstes auf den Hinterkopf. Sie behauptet, die seit Februar 1944 bei ihr aufgetretenen Gesundheitsstörungen - im Verlauf der deshalb durchgeführten Behandlung wurde im November 1946 eine Arachnoidalzyste gefunden und operativ entfernt - seien Folgen des Arbeitsunfalls. Auf den im Juli 1951 gestellten Rentenantrag holte die Beklagte mehrere nervenärztliche Gutachten ein, in denen die Zusammenhangsfrage bejaht und die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 75 bis 100 v.H. geschätzt wurde. Die Beklagte sah zunächst von einer Entscheidung ab und übersandte die Akten zuständigkeitshalber an die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in W. Der von diesem österreichischen Versicherungsträger gehörte nervenärztliche Gutachter verneinte den Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall vom 24. Januar 1942 und dem Auftreten der Arachnoidalzyste; den daraufhin erteilten Ablehnungsbescheid focht die Klägerin vor den österreichischen Instanzen erfolglos an. Die Beklagte, die sodann die Unterlagen wieder zurückerhielt, erteilte der Klägerin den Bescheid vom 12. Oktober 1962; darin erkannte sie ihre Zuständigkeit für die Zeit vom 1. April 1952 bis zum 31. Dezember 1952 an, lehnte jedoch - gestützt auf Gutachten österreichischer Fachärzte - den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Arbeitsunfall habe keine meßbare MdE verursacht, die von der Klägerin noch geäußerten Beschwerden hingen nicht mit dem Unfallereignis zusammen.
Das Sozialgericht Detmold hat Prof. Dr. B (Univ. Nervenklinik G) als Sachverständigen gehört und die Klage durch Urteil vom 25. November 1965 abgewiesen.
Mit ihrer Berufung hat die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids zur Gewährung der Vollrente als Dauerrente für die Zeit ab 1. April 1952 zu verurteilen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat weiteren Beweis erhoben und mit Urteil vom 15. April 1969 die Berufung zurückgewiesen: Auf Grund der im Ergebnis übereinstimmenden Gutachten des Prof. Dr. B und des Prof. Dr. F stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, daß der im Februar 1944 beginnende Krankheitszustand der Klägerin nicht mit Wahrscheinlichkeit ursächliche Folge des Arbeitsunfalls gewesen sei; beide Sachverständigen hätten auch überzeugend dargelegt, aus welchen Gründen der gegenteiligen Meinung der in den Jahren 1953 bis 1955 von der Beklagten zugezogenen Fachärzte nicht gefolgt werden könne.
Die - vom LSG nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassene - Revision ist von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegt worden mit dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Gewährung von Unfallrente an die Klägerin zu verurteilen. Innerhalb der nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist ist die Revision damit begründet worden, daß die Klägerin Verfahrensmängel und Verletzungen des materiellen Rechts gerügt hat.
Die Beklagte beantragt Verwerfung, hilfsweise, Zurückweisung der Revision.
II
Die Statthaftigkeit der Revision hängt davon ab, daß ein von ihr gerügter wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; vgl. BSG 1, 150). Hierbei kommt allerdings die in Abschn. I der Revisionsbegründung beanstandete Nichtzulassung der Revision von vornherein nicht in Betracht (vgl. SozR Nr. 149 zu § 162 SGG mit weiteren Nachweisen).
Zutreffend hat es die Revision jedoch als einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens bezeichnet, daß das LSG das von Prof. Dr. F und Dr. T unterzeichnete "Gutachten" vom 11. November 1968 als vollgültiges Beweismittel gewürdigt hat, obwohl durch die Beweisanordnung vom 12. Januar 1968 diese Fachärzte nicht mit der Gutachtenerstattung beauftragt worden waren. Nach der Rechtsprechung (vgl. SozR Nr. 71 u. 81 zu § 128 SGG; s. auch Friederichs, NJW 1965 1100 Anm. zu Nr. 27) darf ein Gericht eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines Arztgutachtens entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis würdigen, wenn es den Verfasser der Äußerung vorher zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt, d.h. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hat; will das Gericht die Äußerung eines nicht zum Sachverständigen ernannten Arztes bei der Überzeugungsbildung verwerten, müssen die Entscheidungsgründe zum Ausdruck bringen, daß es sich der fehlenden Qualifikation der Äußerung als Gutachten bewußt gewesen ist. Gegen diese Grundsätze hat das LSG im vorliegenden Fall insofern verstoßen, als es die Äußerung Prof. Dr. F ohne irgendwelche Differenzierung gleichrangig neben dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. B angeführt und berücksichtigt hat. Darüber hinaus ist im Tatbestand des angefochtenen Urteils das Zustandekommen der Äußerung vom 11. November 1968 unrichtig dargestellt worden: Während es dort heißt, das LSG habe "ein Gutachten von dem Direktor der neuro-chirurgischen Universitätsklinik B" (gemeint ist offenbar K) eingeholt, lautete die Beweisanordnung vom 12. Januar 1968 in Wirklichkeit unmißverständlich: "Mit der Erstattung des Sachverständigengutachtens wird beauftragt: Prof. Dr. T, Direktor der neuro-chirurgischen Klinik der Universität K". Bei dieser Formulierung bleibt kein Raum für die Annahme, das LSG könnte vielleicht nicht Prof. Dr. T persönlich, sondern den Leiter der Klinik und damit ggf. auch dessen Vertreter oder Nachfolger zum Sachverständigen bestellt haben (vgl. hierzu SozR Nr. 73 zu § 128). Ob übrigens die Beweisanordnung mit Recht auf § 109 SGG Bezug nahm, nachdem die Klägerin im Schriftsatz vom 10. Juli 1967 erklärt hatte, sie sehe von einem eigenen Antrag nach § 109 SGG ab, kann auf sich beruhen. Denn jedenfalls ging die Wahl gerade von Prof. Dr. T auf ausdrückliche Anregungen der Klägerin und der damals noch beigeladenen Berufsgenossenschaft zurück; diese Beteiligten hatten erkennbar auf die persönliche Meinung dieses Sachverständigen besonderen Wert gelegt. Im Hinblick auf die Erforschung des Sachverhalts kam der Einholung eines Gutachtens durch das LSG auch insofern eine besondere Bedeutung zu, als in diesem Gutachten Zeugenaussagen zu berücksichtigen waren, die dem im ersten Rechtszuge gehörten Sachverständigen Prof. Dr. B noch nicht vorgelegen hatten.
Die somit statthafte Revision ist auch begründet, denn es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es die von Prof. Dr. F/Dr. T abgegebene Äußerung nicht als Sachverständigenbeweis gewürdigt hätte. Zu einer Prüfung, ob noch weitere von der Revision vorgetragene Rügen zutreffen, sieht sich der Senat nicht veranlaßt.
Da eine Sachentscheidung nicht in Betracht kommt, muß der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen