Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachholung unterlassener Anhörung
Orientierungssatz
Die nach SGB 1 § 34 Abs 1 vorgeschriebene Anhörung des vom Verwaltungsakt Betroffenen kann zwar noch im Widerspruchsverfahren (SGG §§ 78 ff), nicht aber im Gerichtsverfahren nachgeholt werden (Anschluß an BSG vom 1979-03-01 6 RKa 17/77 = SozR 1200 § 34 Nr 8).
Normenkette
SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGG § 85 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.06.1978; Aktenzeichen L 14 J 239/77) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 04.10.1977; Aktenzeichen S 7 J 34/76) |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um eine Rentenentziehung.
Mit dem streitigen Bescheid vom 29. Januar 1976 entzog die Beklagte dem 1936 geborenen Kläger die wegen einer Lungentuberkulose 1963 (wegen Erwerbsunfähigkeit) bzw 1967 (wegen Berufsunfähigkeit) bewilligte Versichertenrente. Laut ärztlichen Gutachten habe sich der Gesundheitszustand des Klägers gebessert; er könne wieder vollschichtig arbeiten.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat nach Beweisaufnahme - Anhörung medizinischer Sachverständiger - die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) in der angefochtenen Entscheidung vom 5. Juni 1978 das Urteil des SG und den Rentenentziehungsbescheid der Beklagten aufgehoben. In der Begründung heißt es, der Bescheid verstoße gegen § 34 Abs 1 des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (SGB 1). Die Beklagte habe dem Kläger entgegen dieser zwingenden Vorschrift vor Rentenentziehung keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Die unterlassene Anhörung könne im gerichtlichen Verfahren nicht nachgeholt werden (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 28. Juli 1978 - 2 RU 31/77). Deshalb sei der Bescheid aufzuheben gewesen.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 25. Oktober 1978).
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor, entgegen der Auffassung des LSG könne die Anhörung nach § 34 Abs 1 aaO sehr wohl im Klageverfahren nachgeholt werden. Die vom Betroffenen vorzubringenden Tatsachen könne der Versicherungsträger auch noch im sozialgerichtlichen Verfahren berücksichtigen. Ansonsten müsse das gesamte Rentenentziehungsverfahren neu eingeleitet werden, was ersichtlich keinerlei Sinn habe und zu einer unzulässigen Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung führe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Er führt aus, die Auffassung der Beklagten negiere die Absicht des Gesetzgebers. Es stehe zu erwarten, daß der Entwurf des im Gesetzgebungsverfahren befindlichen § 40 des 10. Buches des SGB noch verändert werde. Sanktionslose Verfahrensvorschriften bedeuteten einen unerträglichen Einbruch in den Rechtsfrieden.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber sachlich nicht begründet.
Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem nach § 34 Abs 1 SGB 1 Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Der vorliegend streitige Rentenentziehungsbescheid greift, wie nicht näher dargelegt zu werden braucht, in die dem Kläger zugebilligte Rentenberechtigung ein. Die Beklagte hat dem Kläger laut den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG gleichwohl vor Erlaß dieses Bescheides entgegen der zwingenden gesetzlichen Vorschrift keine Äußerungsmöglichkeit gegeben. Nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung des 2., 3., 5., 6. und 8. Senats des BSG (SozR 1200 § 34 Nr 1; BSGE 44, 207 = SozR 1200 § 34 Nr 2; BSGE 46, 57 = SozR 1200 § 34 Nr 3; SozR 1200 § 34 Nr 4, 5, 6, 7 und 8; Urteil des BSG vom 30. August 1979 - 8a RU 24/79) kann die Anhörung zwar noch im Widerspruchsverfahren (§§ 78 ff des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), nicht aber im Gerichtsverfahren nachgeholt werden.
Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Vor ihr abzuweichen und die Rechtsfrage dem Großen Senat des BSG nach § 42 SGG zur Entscheidung vorzulegen, sieht der Senat um so weniger Anlaß, als ihr auch das Schrifttum, soweit ersichtlich, durchweg zugestimmt hat, auch wenn dort gelegentlich die vom BSG gegebene Begründung kritisch gewürdigt wird (vgl H. Meyer, SGb 1979, 306; Behn, aaO, 259 ff, 313 ff, Prochnow, SozSich 1979, 370 ff). Soweit unter Berufung auf den Entwurf des 10. Buchs des SGB argumentiert wird, vermag dem der Senat schon deswegen nicht näherzutreten, weil nicht abzusehen ist, in welcher Fassung der Entwurf Gesetz werden wird.
Im übrigen vermag die Argumentation der Beklagten den Senat nicht zu überzeugen. Es trifft nicht zu, daß als Auswirkung der vorbezeichneten BSG-Rechtsprechung das Rentenentziehungsverfahren erneut eingeleitet werden müßte und selbst die vom Versicherungsträger und von den Gerichten eingeholten Gutachten "unnütz" seien. In Fällen der vorliegenden Art haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit den wegen Verstoßes gegen § 34 Abs 1 SGB 1 anfechtbaren Verwaltungsakt des Rentenversicherungsträgers aufzuheben. Ist dies geschehen, befindet sich das Verwaltungsverfahren des Versicherungsträgers in dem Stadium, in dem es sich vor Erteilung des aufgehobenen Bescheides befunden hat. Alle Gutachten, soweit nicht durch Zeitablauf im Beweiswert entscheidend vermindert, können deshalb verwertet werden. Es ist daher auch sachlich unrichtig, von einer "Zurückverweisung an den Versicherungsträger" zu sprechen. Eine solche bleibt nach wie vor unzulässig; das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit muß es aber nach § 54 SGG in zahlreichen Fällen dabei bewenden lassen, einen rechtswidrigen Verwaltungsakt des Versicherungsträgers nur aufzuheben und diesem eine neue, rechtsfehlerfreie Entscheidung ausdrücklich oder stillschweigend aufzugeben (vgl §§ 54 Abs 1 bis 3; 131 Abs 3 SGG). Der Versicherungsträger hat auf Grund einer solchen gerichtlichen Entscheidung allein das zu tun, was zu tun das Gesetz gerade ihm aufgibt und was ihm abzunehmen das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit deshalb nicht befugt ist. Es besteht daher auch keine Parallele zu den Prozeßvoraussetzungen (Sachurteilsvoraussetzungen) wie z.B. dem Vorverfahren, das erst bis zum Erlaß einer richterlichen Entscheidung vorzuliegen braucht. Der Verstoß des Versicherungsträgers gegen § 34 Abs 1 SGB 1 bewirkt - wie jeder Verstoß gegen Verwaltungsverfahrensrecht - einen sachlich-rechtlichen Fehler und nicht eine Verletzung des Prozeßrechts. Hat der Rentenversicherungsträger § 34 Abs 1 SGB 1 nicht beachtet, ist demgemäß kein Prozeßurteil, sondern ein Sachurteil zu erlassen.
Nach alledem trifft die angefochtene Entscheidung zu. Die von der Beklagten hiergegen eingelegte Revision war zurückzuweisen und diese zu verpflichten, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen