Leitsatz (amtlich)

1. Beim Vorliegen der Voraussetzungen des BVG § 48 Abs 1 besteht auch dann ein Anspruch auf Witwenbeihilfe, wenn der Beschädigte schon vor dem Inkrafttreten des BVG gestorben ist.

2. Ein Anspruch auf Witwenbeihilfe besteht nicht, wenn im Zeitpunkt des Todes der Beschädigte seinen Anspruch auf die Rente eines Erwerbsunfähigen oder auf die Pflegezulage verloren hatte und diese Leistungen nicht mehr bezog.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Maßnahmen der amerikanischen Besatzungsmacht auf dem Gebiete des Versorgungsrechts in Bayern nach der Kapitulation bedingten für die Empfänger von Versorgungsbezügen nach den vor der Kapitulation gültigen Versorgungsgesetzen den Verlust ihrer Ansprüche.

BVG § 48 Abs 1 widerspricht nicht dem Gleichheitsgrundsatz des GG Art 3 Abs 1.

 

Normenkette

BVG § 48 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 31. Mai 1955 insoweit aufgehoben, als der Beklagte verurteilt worden ist, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 ab Witwenbeihilfe zu zahlen. Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin bezog nach dem Reichsversorgungsgesetz (RVG) vom 1. Januar 1942 an die Rente eines Erwerbsunfähigen. Er starb am 6. Juli 1945. Hie Rente wurde im Sterbemonat nicht mehr ausgezahlt. Der Antrag der Klägerin auf Witwenrente nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 26. März 1947 (GVOBl. 1947 S. 107) wurde abgelehnt, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Militärdienst und dem Tode nicht vorliege (Bescheid vom 4.12.1949). Das Oberversicherungsamt (OVA.) Nürnberg verurteilte den Beklagten, der Klägerin ab 1. Februar 1947 Witwenrente zu zahlen (Urteil vom 9.10.1951).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG.) beantragte die Klägerin, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des OVA. Nürnberg zurückzuweisen; sie beantragte hilfsweise, den Beklagten zu verurteilen, ihr vom 1. Oktober 1950 an Witwenbeihilfe nach § 48 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu zahlen. Die Vertreter des Beklagten und der im Berufungsverfahren beigeladenen Bundesrepublik Deutschland erklärten sich damit einverstanden, daß auch über den Anspruch auf Witwenbeihilfe entschieden werde.

Das LSG. hat das Urteil des OVA. Nürnberg aufgehoben und die Klage auf Verurteilung des Beklagten zur Zahlung der Witwenrente abgewiesen. Der Beklagte wurde aber verurteilt, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 an Witwenbeihilfe zu zahlen (Urteil vom 31.5.1955): Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Witwenrente, weil der Tod ihres Ehemannes nicht mit den Verhältnissen des Militärdienstes in ursächlichem Zusammenhang stehe. Dagegen sei der Anspruch auf Witwenbeihilfe nach dem BVG begründet. Wenn man im Hinblick auf die erst im Berufungsverfahren geltend gemachte Witwenbeihilfe eine Klageänderung annehmen wolle, so sei diese schon deshalb zulässig, weil die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erfüllt seien. Der dem § 48 BVG zugrundeliegende Zweck sei nur zu erreichen, wenn man von der Beschädigteneigenschaft des Verstorbenen ausgehe. Eine Auslegung dieser Vorschrift nach dem Wortlaut werde ihrem materiellen Inhalt nicht gerecht; denn nach der Kapitulation im Jahre 1945 habe es in Bayern bis zum Inkrafttreten des KBLG am 1. Februar 1947 keine Versorgung gegeben, so daß in dieser Zeit an Beschädigte niemals Rente gezahlt worden sei. Fordere man für die Bewilligung der Witwenbeihilfe den tatsächlichen Bezug der Beschädigtenrente, so verstoße die Regelung des § 48 Abs. 1 BVG gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG); § 48 Abs. 1 BVG führe dann zu einer ungleichen Behandlung gleichartiger Versorgungstatbestände, weil die Beschädigtenrenten in der französischen Besatzungszone nach der Kapitulation weitergezahlt worden seien, während dies in der amerikanischen und britischen Zone nicht der Fall gewesen sei. Des LSG. hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte hat gegen dieses ihm am 4. August 1955 zugestellte Urteil mit einem beim Bundessozialgericht (BSG.) am 15. August 1955 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und diese am 26. September 1955 begründet. Er rügt die Verletzung des § 48 BVG. Das Urteil des LSG. widerspreche dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayer. LSG. vom 31. Mai 1955 insoweit aufzuheben, als es der Klägerin die Witwenbeihilfe zugesprochen hat.

Die Klägerin beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Die Klägerin hat das Urteil des LSG. nicht angefochten.

Das Revisionsgericht hat daher nur den Teil des Urteils des Berufungsgerichts nachzuprüfen, durch den der Beklagte verpflichtet worden ist, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 an Witwenbeihilfe zu zahlen. Soweit es den Anspruch auf Witwenrente abgelehnt hat, ist das Urteil des LSG. rechtskräftig. Das Berufungsgericht konnte auch darüber entscheiden, ob der Klägerin eine Witwenbeihilfe nach dem BVG zusteht. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sie durch ihren in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. gestellten Hilfsantrag, den Beklagten zur Zahlung einer Witwenbeihilfe zu verurteilen, ihre Klage geändert hat. Denn selbst wenn man eine Klageänderung annehmen wollte, wäre sie zulässig, weil der Beklagte und die Beigeladene eingewilligt haben, daß vom LSG. über den Anspruch auf Witwenbeihilfe entschieden wird (§ 99 Abs. 1 SGG).

Die Rüge des Beklagten, daß das Berufungsgericht den § 48 Abs. 1 BVG verletzt habe, ist begründet. Nach dieser Vorschrift erhält die Witwe eine Witwenbeihilfe, wenn ein Beschädigter, der bis zum Tode die Rente eines Erwerbsunfähigen oder Pflegezulage bezogen hat, nicht an den Folgen einer Schädigung gestorben ist. Das LSG. ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß es für den Anspruch auf Witwenbeihilfe nach dem BVG nicht darauf ankommt, ob der Ehemann der Antragstellerin vor oder nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1.10.1950) gestorben ist. Wie der 9. Senat des BSG. in seinem Urteil vom 20. September 1955 (BSG. 1, 210 [215] ausgeführt hat, gilt zwar für die zeitliche Geltung des materiellen Rechts der Grundsatz, daß die Voraussetzungen, an welche das Gesetz die Entstehung eines Anspruchs knüpft, während der zeitlichen Geltungsdauer des Gesetzes verwirklicht sein müssen. Das BVG hat aber die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Schädigung neu geregelt. Nach dem eindeutigen, aus den §§ 1, 84, 85 BVG erkennbaren Zweck der neuen bundeseinheitlichen Kriegsopferversorgung können die "Schädigung" im Sinne des BVG und ihre Folgen (Gesundheitsstörung oder Tod des Beschädigten) schon vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sein. Deshalb setzt der Anspruch auf Witwenbeihilfe nach § 48 Abs. 1 BVG nicht voraus, daß der Tod des Beschädigten erst nach dem 30. September 1950 eingetreten ist. Der erkennende Senat schließt sich dieser Ansicht an.

Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe, weil ihr Ehemann, der nicht an den Folgen einer Schädigung gestorben ist, nicht bis zu seinem Tode die Rente eines Erwerbsunfähigen bezogen hat. Der Anspruch auf Rente ist ein Anspruch auf wiederkehrende Leistungen (§ 66 Abs. 1 Satz 1 BVG). Er setzt sich zusammen aus dem Stammrecht - dem Rentenanspruch - und dem Recht auf die jeweils fällig werdenden Einzelleistungen (vgl. für den Anspruch auf Krankengeld Urt. des 1. Senats des BSG. vom 27.2.1957, SozR. RVO § 1286 Bl. Aa 1 Nr. 3 mit Hinweisen auf ähnliche Ansprüche im bürgerlichen Recht). Vorliegend bedarf es keiner Entscheidung des Senats darüber, ob ein Beschädigter die Rente eines Erwerbsunfähigen nur dann bis zum Tode "bezogen" hat, wenn ihm bis zu diesem Zeitpunkt sowohl das Stammrecht als auch das Recht auf die jeweils fällig werdenden einzelnen Rentenleistungen zustand, oder ob der Besitz des Stammrechts allein genügt. Denn der Ehemann der Klägerin hatte im Zeitpunkt seines Todes den Rentenanspruch selbst nicht mehr, so daß aus diesem Grunde der als Anspruchsvoraussetzung für die Witwenbeihilfe geforderte Bezug einer Rente nicht gegeben war. Auf Anordnung der amerikanischen Besatzungsmacht wurde in Bayern nach der Kapitulation im Jahre 1945 die Versorgung der Kriegsopfer eingestellt. Nach der Beseitigung der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung wurden vom Bayerischen Arbeitsministerium lediglich für die ärztliche Betreuung der Kriegsopfer Bestimmungen erlassen. Kriegsversehrte, die Mitglieder einer Krankenkasse waren, erhielten Krankenhilfe durch ihre Kasse. Solche, die keiner Krankenkasse angehörten oder ausgesteuert waren, mußten die Kosten für eine Heilbehandlung selbst aufbringen. Soweit sie dazu nicht in der Lage waren, konnten sie bei der zuständigen Fürsorgestelle Heilbehandlung beantragen. Personen, die nach früheren Versorgungsgesetzen bis zur Kapitulation rentenberechtigt waren, wurden, soweit sie hilfsbedürftig waren, durch die Fürsorgestellen unterstützt (vgl. VO Nr. 12 vom 17.9.1945, Bayer. GVBl. 1946 S. 15; Schieckel, Bundesversorgungsgesetz, 2. Aufl., Vorbemerkung S. 27). Eine Rentenversorgung wurde erst im Jahre 1947 durch das KBLG wieder eingeführt. Diese Maßnahmen auf dem Gebiete des Versorgungsrechts in Bayern bedingten für die Empfänger von Versorgungsbezügen nach den vor der Kapitulation im Jahre 1945 gültigen Versorgungsgesetzen den Verlust ihrer Ansprüche. Dabei wurde durch Art. III des Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 34 vom 20. August 1946 (Amtsbl. des Kontrollrats in Deutschland S. 172) die Aufhebung der früheren Versorgungsgesetze in eine gesetzgeberische Form gebracht, indem alle Gesetze, welche die rechtliche und wirtschaftliche Stellung von Angehörigen oder ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und deren Familien betrafen, mithin alle Versorgungsgesetze, aufgehoben wurden. Diese durch die Außerkraftsetzung der früheren Versorgungsgesetze geschaffene Rechtslage hat sich auch später durch das Gesetz der Alliierten Hohen Kommission (AHK.) Nr. 16 vom 16. Dezember 1949 (Amtsbl. der AHK. 1949 S. 72) nicht geändert. Zwar hat durch Art. 2 Abs. 1 dieses Gesetzes das KRG Nr. 34 seine Wirksamkeit verloren. Jedoch ist im Abs. 3 dieses Artikels bestimmt, daß die Rechtsfolgen von Maßnahmen, die auf Grund der aufgehobenen Rechtsvorschriften getroffen worden sind, unberührt bleiben. Es verblieb also bei der Aufhebung der früheren Versorgungsgesetze (BSG. 3 S. 251 [255]). Daraus folgt, daß die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe hat, denn ihr Ehemann hatte vor seinem Tode den Anspruch auf seine nach dem RVG festgestellte Rente verloren und deshalb nicht bis zu seinem Tode die Rente eines Erwerbsunfähigen bezogen.

§ 48 Abs. 1 BVG widerspricht entgegen der Auffassung des LSG. auch nicht dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, daß er weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandelt. Eine hiernach unzulässige Behandlung ist aber nur dann anzunehmen, wenn ein sachgerechter Grund für eine solche Behandlung nicht vorliegt. Dabei genügt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungsgegenstand. Es muß dem Gesetzgeber aber ein weiter Ermessensspielraum bei der Bewertung dessen, was sachgerecht, vernünftig und angemessen ist, erhalten bleiben (BVerfG. 4, 144 [155]). Nach diesen in der Rechtsprechung des BSG. anerkannten Grundsätzen (BSG. 2, 201 [217]; 5, 26 [30, 33]; Urt. des BSG. vom 15.10.1957 - 3 RK 7/54) ist es nicht als willkürlich ungleiche Behandlung anzusehen, wenn der Gesetzgeber in § 48 Abs. 1 BVG die Bewilligung der Witwenbeihilfe allgemein davon abhängig gemacht hat, daß der Verstorbene bis zu seinem Tode die Rente eines Erwerbsunfähigen oder Pflegezulage bezogen hat. Die Beihilfe für die Witwe eines nicht an den Folgen einer Schädigung gestorbenen erwerbsunfähigen Schwerbeschädigten oder Pflegezulageempfängers soll nach ihrem Sinn und Zweck den Wegfall der Versorgungsbezüge, mit denen in der Regel wegen der Erwerbsunfähigkeit des Schwerbeschädigten der Lebensunterhalt der Familie bis zu seinem Ableben bestritten worden ist, ausgleichen. Der Gesetzgeber ist aber auch davon ausgegangen, daß die Gewährung der Witwenbeihilfe dann nicht erforderlich ist, wenn die Versorgungsbezüge nicht bis zum Tode des Schwerbeschädigten zur Verfügung standen (weil der Anspruch vorher untergegangen war). Die Regelung des § 48 Abs. 1 BVG kann daher nicht als willkürlich ungleich angesehen werden, selbst wenn hierdurch Witwen, deren Ehemänner in der französischen Besatzungszone auch nach der Kapitulation Versorgung bezogen haben, gegenüber solchen Witwen besser gestellt werden, deren Ehemänner ihren Anspruch auf Versorgung nach der Kapitulation verloren hatten. Die Bundesregierung hat in Nr. 3 der Verwaltungsvorschriften zu § 48 BVG bestimmt, daß Witwen- und Waisenbeihilfe im Wege des Härteausgleichs (§ 89 BVG) gewährt werden kann, wenn ein Beschädigter, der bis zum Zusammenbruch im Jahre 1945 die Rente eines Erwerbsunfähigen oder eine Pflegezulage bezogen hat, in der Zeit zwischen dem Zusammenbrach und der Wiederaufnahme der Zahlung von Versorgungsbezügen nach dem vor dem BVG maßgebend gewesenen versorgungsrechtlichen Vorschriften gestorben ist. Die Klägerin kann deshalb einen Antrag auf Bewilligung einer Witwenbeihilfe im Härteausgleich bei der Versorgungsbehörde stellen.

Da die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe hat, war das auf der unrichtigen Anwendung des § 48 Abs. 1 BVG beruhende Urteil des LSG. insoweit aufzuheben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, der Klägerin vom 1. Oktober 1950 an Witwenbeihilfe zu zahlen. Die Klage war auch insoweit abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 671986

BSGE, 108

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