Orientierungssatz

Der durch das 1. NOG-KOV zum BVG neu eingeführte Berufsschadensausgleich (BVG § 30 Abs 3) ist als völlig selbständige neue Leistung neben die in BVG § 30 Abs 2 vorgesehene Möglichkeit der Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen besonderer beruflicher Betroffenheit getreten. Damit ist die Gewährung des Berufsschadensausgleichs nicht davon abhängig, daß die Voraussetzungen des BVG § 30 Abs 2 erfüllt sind (Anschluß an BSG 1969-03-21 9 RV 730/67 = SozR Nr 36 zu § 30 BVG).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 Fassung: 1964-02-21, Abs. 3 Fassung: 1964-02-21

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. August 1968, soweit über den Anspruch des Klägers auf einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG entschieden worden ist, aufgehoben.

Insoweit wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger, geboren am 15. Februar 1915, früher (1941) Polizeioberwachtmeister, jetzt Stadtoberinspektor, bezieht seit der Umstellung seiner Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen "Verlust des rechten Armes im Bereich des Oberarms" als Schädigungsfolge eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. Einen Antrag auf Rentenerhöhung wegen Leidensverschlimmerung lehnte die Versorgungsbehörde im Jahre 1961 ab, gleichzeitig verneinte sie, daß der Kläger in seinem Beruf im Polizeidienst besonders betroffen sei. Im Mai 1964 beantragte der Kläger, ihm einen Berufsschadensausgleich nach dem 2. Neuordnungsgesetz (NOG) (§ 30 Abs. 3 BVG) zu gewähren, weil er durch die Schädigungsfolgen in seinem Fortkommen im Polizeidienst gehindert gewesen sei und dadurch einen Einkommensverlust erlitten habe. Die Versorgungsbehörde lehnte den Antrag ab: Es sei bereits durch frühere Bescheide bindend festgestellt, daß der Kläger nicht beruflich besonders betroffen sei im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG; die nochmalige Überprüfung habe zu keiner anderen Beurteilung geführt; eine schädigungsbedingte Behinderung eines weiteren beruflichen Aufstiegs liege nicht vor; durch die Beförderung zum Stadtoberinspektor habe der Kläger ausreichende Möglichkeiten des Aufstiegs gehabt (Bescheid des Versorgungsamts Gießen vom 28. September 1964; Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Hessen vom 29. Juni 1965).

Mit der Klage hat der Kläger die Höherbewertung seiner MdE auf 80 v.H. (statt bisher 70 v.H.) sowie die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs begehrt.

Das Sozialgericht (SG) Gießen hat dem Kläger vom 1. Januar 1964 an (unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG) eine Rente nach einer MdE von 80 v.H. sowie einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG auf der Grundlage der Besoldungsgruppe A 11 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) zugesprochen (Urteil vom 19. Juni 1967). Auf die Berufung des Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 16. August 1968 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt: Soweit das SG dem Kläger wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG eine höhere Rente zugesprochen habe, handele es sich zwar um einen nicht berufungsfähigen Streitgegenstand im Sinne des § 148 Nr. 3, jedoch sei die Berufung nach § 150 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil das SG verkannt habe, daß die ablehnenden Bescheide insoweit nur auf einem Ermessensfehlgebrauch der Verwaltung zu überprüfen gewesen seien (§ 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVG -). Es habe kein Anlaß vorgelegen, die ablehnenden Bescheide der Beklagten, soweit darin an frühere bindend gewordene Entscheidungen über die Verneinung eines beruflichen Betroffenseins des Klägers im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG festgehalten worden sei, wegen eines Ermessensfehlers aufzuheben. Das Vorbringen des Klägers, er hätte im Polizeivollzugsdienst wahrscheinlich eine höhere Stellung erreicht als die, die er jetzt als Beamter im gehobenen Verwaltungsdienst inne habe, habe den Beklagten nicht veranlassen müssen, von der Bindungswirkung abzugehen. Damit bestehe aber auch keine Möglichkeit mehr, in eine Prüfung eines besonderen Betroffenseins im Sinne der Gewährung eines Berufsschadensausgleichs einzutreten, weil der Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG voraussetze. Das LSG ließ die Revision wegen des streitigen Anspruchs auf einen Berufsschadensausgleich zu.

Der Kläger hat fristgemäß und formgerecht Revision eingelegt. Er beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 16. August 1968 insoweit abzuändern, als es auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG Gießen vom 19. Juni 1967 hinsichtlich der Verurteilung des Beklagten zur Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nach der Besoldungsgruppe A 11 BBesG aufgehoben hat, und im gleichen Umfange die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Gießen vom 19. Juni 1968 zurückzuweisen.

Der Kläger rügt, das LSG habe § 30 Abs. 2, 3 und 4 BVG verletzt. Die Auffassung des LSG, daß das Vorliegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG, d.h. die Erhöhung des MdE-Grades nach dieser Vorschrift, Voraussetzung für den Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG, treffe nicht zu.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG jedenfalls im Ergebnis für zutreffend, weil kein schädigungsbedingter Einkommensverlust des Klägers festzustellen sei.

Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG); sie hatte auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil, soweit es Anspruch auf den Berufsschadensausgleich betrifft, aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Soweit der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden hinsichtlich der Erhöhung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG eine Zugunstenregelung (§ 40 Abs. 1 VerwVG) abgelehnt und das LSG die Klage hiergegen abgewiesen hat, ist der Rechtsstreit beendet. Insoweit ist auch keine Revision eingelegt.

Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, der Beklagte habe die Höherbewertung der MdE des Klägers wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG in Bescheiden, die bindend geworden sind, abgelehnt.

Unzutreffend ist jedoch seine Auffassung, schon damit entfalle ein Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG, weil dieser Anspruch voraussetze, daß ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG festgestellt, d.h. eine Erhöhung der MdE nach dieser Vorschrift vorausgegangen ist. Der Anspruch auf Berufsschadensausgleich - seit Inkrafttreten des 1. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (1. NOG) unter der Geltung des 1., 2. und 3. NOG - ist nicht davon abhängig, daß die MdE nach § 30 Abs. 2 BVG erhöht worden ist. Diese Auffassung hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem (zur Veröffentlichung bestimmten) Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 730/67 - vertreten. Der erkennende Senat folgt dieser Ansicht. Sie beruht hauptsächlich auf folgenden Erwägungen:

Mit dem durch das 1. NOG (§ 30 Abs. 3) eingeführten Berufsschadensausgleich trat neben die Erhöhung der MdE (§ 30 Abs. 2 BVG) und von dieser unabhängig eine (neue) selbständige Leistung zur Abgeltung schädigungsbedingten Berufsschadens. Das 1. NOG sah einen Berufsschadensausgleich nur für Erwerbsunfähige vor. Die weitaus überwiegende Zahl dieser Beschädigten erreichte eine MdE von 100 v.H. bereits aufgrund der körperlichen Beeinträchtigung. Es ist nicht anzunehmen, daß nur der kleinere Teil der Erwerbsunfähigen, bei denen noch eine Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG (auf 100 v.H.) möglich ist, den Berufsschadensausgleich erhalten soll, während die überwiegende Zahl mit schwererem körperlichen Schaden davon ausgeschlossen sein soll. Es entspricht daher nicht dem Sinn und Zweck des Gesetzes (des 1. NOG), die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG als Anspruchsvoraussetzung für den Berufsschadensausgleich anzusehen.

Das 2. NOG brachte Verbesserungen des Berufsschadensausgleichs, insbesondere die Erweiterung der Anspruchsberechtigung auf alle Schwerbeschädigte, änderte aber nichts an der Grundauffassung, daß es sich bei dem Berufsschadensausgleich um einen gegenüber der Höherbewertung der MdE nach Abs. 2 BVG selbständigen und andersartigen Anspruch auf Ausgleich eines (rein) wirtschaftlichen Berufsschadens handelt. Dem Wortlaut des § 30 idF des 2. NOG ist nicht zu entnehmen, daß (nunmehr) die Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG "Ausgangstatbestand" und damit Anspruchsvoraussetzung für den Berufsschadensausgleich sein soll. Die Worte "beruflich insoweit besonders betroffen als" (in § 30 Abs. 3 BVG) i.V.m. einem zahlenmäßig bestimmten Einkommensverlust sind nicht so aufzufassen, daß auch für Abs. 3 ein dem Abs. 2 gleichbedeutendes besonderes berufliches Betroffensein vorliegen müsse; sie lassen vielmehr erkennen, daß dem Berufsschadensausgleich ein eigenständiger Begriff des beruflichen Schadens zugrunde liegt.

Durch Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 30 BVG idF des 3. NOG wird eindeutig "bestätigt", daß der Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG von einem besonderen beruflichen Betroffensein i.S. des § 30 Abs. 2 BVG unabhängig ist. Diese Vorschrift läßt erkennen, daß der Gesetzgeber auch den Berufsschadensausgleich nach dem 1. und 2. NOG im Sinne des neuen Wortlauts als eine von Voraussetzungen des besonderen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG unabhängige Leistung aufgefaßt hat.

Die Formulierung "nach Anwendung des Abs. 2" in § 30 Abs. 3 (im 2. und 3. NOG) rechtfertigt kein anderes Ergebnis; sie soll nur gewährleisten, daß die Verwaltung (vorrangig) von einer (noch gegebenen) Möglichkeit, den Berufsschaden durch eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG auszugleichen, Gebrauch macht, weil sich diese Art der Abgeltung des Berufsschadens günstiger auswirken kann.

Auch der Anrechnungsvorschrift (§ 30 Abs. 4 letzter Satz des 1. NOG; § 30 Abs. 5 des 2. und 3. NOG) ist zu entnehmen, daß der Gewährung eines Berufsschadensausgleichs nicht eine Erhöhung der MdE nach Abs. 2 vorausgegangen sein muß.

Ist eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 (bindend) abgelehnt worden, weil ein durch Schädigungsfolgen verursachter Berufsschaden nicht vorliege, so ist damit keine bindende Feststellung über eine Voraussetzung des selbständigen und andersartigen Anspruchs auf den Berufsschadensausgleich getroffen worden.

Die Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG (idF vom 23.1.65 - Bundesanzeiger Nr. 19 vom 29.1.1965), in denen es unter Nr. 7 heißt: "Bei Anwendung von § 30 Abs. 3 ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 gegeben sind; die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs ist jedoch nicht davon abhängig, daß die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 erfüllt sind", stehen daher mit dem Gesetz in Einklang.

Der 9. Senat hat in seinem Urteil vom 21. März 1969 die hier zusammengefaßten Darlegungen im einzelnen noch näher begründet; er hat hierbei auch zu den teilweise abweichenden Meinungen in Rechtsprechung und Schrifttum Stellung genommen und diese widerlegt. Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen des 9. Senats an.

Das LSG hat von seiner abweichenden Rechtsauffassung aus die Voraussetzungen eines Anspruchs auf einen Berufsschadensausgleich nicht geprüft, insbesondere keine Feststellung zur Frage eines schädigungsbedingten Einkommensverlustes des Klägers getroffen. Die Erörterungen des LSG im Rahmen der Prüfung nach §§ 40 Abs. 1 VerwVG, 54 Abs. 2 Satz 2 SGG enthalten keine für den Rechtsanspruch nach § 30 Abs. 3 BVG geeigneten Feststellungen. Das Urteil des LSG war daher - entsprechend dem Hilfsantrag des Klägers - aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284833

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