Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht der Tatsachengerichte, wenn der die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrende Kläger nur noch einfache, vorwiegend sitzende Büroarbeiten sowie sonstige sitzende Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes - jedoch ua unter Ausschluß von Maschinen- und Fließbandarbeiten - bis zu 6 Stunden täglich verrichten kann.
Normenkette
SGG § 103 S. 1; AVG § 24 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger erwerbsunfähig ist und deshalb Rente beanspruchen kann (§ 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Der 1915 geborene Kläger war bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im Jahre 1939 als gelernter Metzger versicherungspflichtig beschäftigt. Nach seiner Wehrdienstentlassung im Jahre 1945 war er als selbständiger Viehhändler tätig. Den im Juli 1970 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger sei nach dem Ergebnis der durchgeführten ärztlichen Untersuchungen noch in der Lage, mindestens halbtägig einfache Büroarbeiten zu verrichten (Bescheid vom 24. November 1970).
Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte zur Gewährung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit "ab Antragstellung" (Urteil vom 15. Juni 1972). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) ist davon ausgegangen, daß der Kläger entsprechend der Beurteilung des vom SG gehörten ärztlichen Sachverständigen Dr. E nur noch leichte Büroarbeiten im Sitzen etwa sechs Stunden täglich verrichten könne. Nach den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 sei dem Kläger mit diesem eingeschränkten Leistungsvermögen der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, weil sich aus den in den Vierteljahresstatistiken der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA) für die Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" ausgewiesenen Zahlen ergebe, daß das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen und für den Kläger in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger sei als 75 zu 100 (Urteil vom 11. Januar 1973).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Amtsermittlungspflicht.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 15. Juni 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen;
hilfsweise beantragt sie, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß der Kläger seit Juni 1970 erwerbsunfähig im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG ist und ihm deswegen vom 1. Juli 1970 an (Antragsmonat) entsprechende Versichertenrente zusteht (§§ 24 Abs. 1, 67 Abs. 1 und 2 AVG).
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG sind dem Kläger seit Juni 1970 nur noch leichte, vorwiegend im Sitzen aus zuführende Bürotätigkeiten von höchstens sechs Stunden täglich gesundheitlich zumutbar. Der Kläger gehört damit zu den noch halbschichtig bis unter vollschichtig einsetzbaren Versicherten, denen der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt im Sinne von Abschnitt C V 2 b, aa des Beschlusses des GS des BSG vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSG 30, 167, 189/190) in besonders starkem Maße erschwert ist und die nach dem weiteren Beschluß des GS vom selben Tage - GS 2/68 - (BSG 30, 192, 206) schon allein deswegen als erwerbsunfähig anzusehen sind. Die in diesem Beschluß zum Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entwickelten Grundsätze. gelten insoweit - wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 18.3.1970 in SozR Nr. 21 zu § 1247 RVO) - entsprechend für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG.
Unter Berufung auf die Ausführungen des GS des BSG über die starke Einschränkung des Arbeitsfeldes im Sinne des Abschnittes V 2 b, aa (BSG 30, 189/190) bzw. des Abschnittes V, 1 (BSG 30, 206) der genannten Beschlüsse haben bereits der 5. und der 12. Senat des BSG übereinstimmend einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt für männliche Versicherte bejaht, die nur noch halbschichtig vorwiegend sitzende Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in geschlossenen Räumen verrichten und dabei nicht mehr Maschinen- oder Fließbandarbeiten leisten können (vgl. die Urteile vom 27.5.1970 in SozR Nr. 23 zu § 1247 RVO und vom 26.9.1972 in BSG 34, 280). Im vorliegenden Fall kann nichts anderes gelten, weil der Kläger bei Anwendung des § 24 Abs. 2 AVG unabhängig von seinem beruflichen Werdegang grundsätzlich auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden kann (vgl. BSG 30, 206), dieses für ihn aber ebenso eingeschränkt ist wie für die Versicherten in den vom 5. und vom 12. Senat aaO entschiedenen Streitsachen. Nach der Beurteilung des vom SG gehörten Sachverständigen Dr. E auf welche das LSG seine Entscheidung gestützt hat und gegen welche von der Revision Verfahrensrügen nicht erhoben worden sind, kann der Kläger nämlich ebenfalls nur noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Ausschluß von Arbeiten im Stehen und Gehen, von Maschinen-, Fließband-, Akkord- und Schichtarbeiten sowie von Einwirkungen durch Nässe, Kälte, Staub, Rauch und chemische Dämpfe bis zu sechs Stunden täglich verrichten. Die vom LSG im gleichen zeitlichen Umfang allein zugrunde gelegten und im Gutachten des Dr. E besonders angesprochenen leichten Bürotätigkeiten im Sitzen müssen insoweit dem allgemeinen Arbeitsfeld zugerechnet werden, weil kein Anhalt dafür besteht, daß der Kläger während seiner vorausgegangenen beruflichen Tätigkeit als Metzger und Viehhändler besondere Fachkenntnisse erworben hätte, welche er bei einer im Sitzen auszuführenden, leichten Bürotätigkeit verwerten könnte. Falls mit der erstmals in der Revisionsbegründung aufgestellten und nicht weiter präzisierten Behauptung über die als Viehhändler erworbenen Fachkenntnisse Gegenteiliges gemeint sein sollte, würde dies in den vorliegenden Aktenunterlagen keine Stütze finden und insbesondere mit der Feststellung der Beklagten im angefochtenen Bescheid, der Kläger könne "einfache" Büroarbeiten mindestens halbtägig verrichten, nicht zu vereinbaren sein. Es würde sich demnach um neues tatsächliches Vorbringen handeln, das vom Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen ist.
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf beruflich erworbene besondere Fähigkeiten des Klägers meint, das LSG hätte "im Rahmen sachgerechter Beweiserhebungen" aufgrund der in den ANBA veröffentlichten Vierteljahresstatistiken zu einem für den Kläger offenen Arbeitsmarkt kommen müssen, und damit sinngemäß auch die Beweiswürdigung durch das LSG angreifen will, fehlt es bereits an einer formgerecht vorgetragenen Verfahrensrüge (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Im übrigen kann der Auffassung der Beklagten, der Kläger sei auch auf die Tätigkeiten eines Expedienten oder Kioskverkäufers, eines Fleischbeschauers oder Trichinenschauers sowie die eines Warenprüfers oder Kontrolleurs in der Fleischwarenindustrie verweisbar, schon deswegen nicht zugestimmt werden, weil diese Arbeiten jedenfalls nicht vorwiegend im Sitzen ausgeführt werden können, das Leistungsvermögen des Klägers aber nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG auf letztere beschränkt ist. Entgegen der Auffassung der Revision kann daher dahingestellt bleiben, ob sich nach den Vierteljahresstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) in diesen Berufsgruppen der Arbeitsmarkt als offen erweisen würde.
Das LSG konnte - gestützt auf die für die Berufsgruppe "Organisations- Verwaltungs- und Büroberufe" in den ANBA veröffentlichten Vierteljahresstatistiken - den vorliegenden Rechtsstreit auch ohne weitergehende Ermittlungen entscheiden. Die abweichende Ansicht der Revision steht jedenfalls nicht im Einklang mit den Beschlüssen des GS vom 11. Dezember 1969 aaO. Der GS hat dort im Gegenteil ausgeführt, daß bei der Prüfung des Rentenanspruchs eines Versicherten, der - wie der Kläger - halbschichtig bis unter vollschichtig arbeiten kann und somit auf das Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik Deutschland verweisbar ist, sich vorweg die für das gesamte Bundesgebiet vorliegenden statistischen Unterlagen als Erkenntnisquellen für das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen anbieten. Nur für den Fall, daß sich diese Statistiken als unergiebig erweisen sollten, empfiehlt der GS eine Anfrage bei der BA als der für das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebiets zuständigen Stelle (so ausdrücklich und übereinstimmend in Abschnitt IV der beiden GS-Beschlüsse aaO, vgl. BSG 30, 188, 205). Ob die genannten Vierteljahresstatistiken der ANBA gleichwohl im allgemeinen ungeeignet sind, das nach den Beschlüssen des GS aaO für einen praktisch verschlossenen Arbeitsmarkt maßgebliche Zahlenverhältnis auszuweisen - insbesondere weil sie über die Zahl der besetzten Teilzeitarbeitsplätze (vgl. hierzu GS in BSG 30, 184) keine Angaben enthalten -, kann offen bleiben. Im Hinblick auf die eingangs aufgezeigte starke Einschränkung der für den Kläger noch vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten, durfte das LSG ohne weitere Ermittlungen davon ausgehen, daß dem Kläger der Arbeitsmarkt im allgemeinen praktisch verschlossen ist (so ausdrücklich GS BSG aaO in BSG 30, 190 und daran anschließend Urteil des 5. Senats vom 27.5.1970 in SozR Nr. 23 zu § 1247 RVO). Dann können aber auch keine rechtserheblichen Einwände daraus hergeleitet werden, daß das LSG seine damit jedenfalls im Ergebnis übereinstimmende Entscheidung auf die in den ANBA für die Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" veröffentlichten Vierteljahresstatistiken gestützt hat. Dies gilt um so mehr, als dort unter den Kennziffern 75 bis 78 neben den Bürohilfskräften - u. a. - auch Unternehmer, Organisatoren, Wirtschaftsprüfer, administrativ entscheidende Berufstätige, Rechnungskaufleute, Datenverarbeitungsfachleute und Bürofachkräfte erfaßt sind (vgl. Klassifizierung der Berufe, Ausgabe 1970, S. 31/32). Da für den Kläger aber keine entsprechenden Fachkenntnisse ersichtlich sind, kommen für ihn nur Teilzeitarbeiten als Bürohilfskraft in Betracht. Bei den Bürohilfskräften sind aber wiederum die dem Kläger allein noch zumutbaren Tätigkeiten im Sitzen weitaus in der Minderzahl. Es handelt sich dabei vielmehr überwiegend um im Stehen oder Gehen auszuführende Arbeiten (vgl. Klassifizierung der Berufe aaO. S. 153 unter Kennziffer 784). Demnach bezieht sich die vom LSG aus den genannten Vierteljahresstatistiken entnommene Zahl der vorhandenen Teilzeitarbeitsplätze für Männer zum überwiegenden Teil auf Tätigkeiten, die für den Kläger nach seinem geistigen und körperlichen Leistungsvermögen ohnehin ausscheiden. Hinzu kommt, daß bei dem zur Zeit der Rentenantragstellung bereits 55 Jahre alten Kläger ganz allgemein die Chance, einen Teilzeitarbeitsplatz zu finden, geringer ist, als bei einem noch jüngeren Versicherten (vgl. BSG 30, 191). Nach alledem durfte das LSG auch unter Heranziehung der genannten Vierteljahresstatistiken annehmen, daß dem Kläger bei der vorliegenden starken Einschränkung des für ihn noch in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsfeldes der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist (ebenso im Ergebnis auch Urteil des 5. Senats des BSG vom 29.5.1973 in SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO).
Daraus erhellt, daß auch die Rüge der Beklagten, das LSG habe die ihm nach § 103 SGG obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt, nicht durchgreift. Diese Rüge wird bereits nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gerecht, wonach die Revisionsbegründung auch die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen muß, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben. Die Beklagte hält das LSG für verpflichtet, auf andere Weise eine Aufhellung des Teilzeitarbeitsmarktes zu versuchen, weil das LSG der Ansicht gewesen sei, die BA könne derzeit kein geeignetes Zahlenmaterial zur Verfügung stellen. Für diese Behauptung der Beklagten enthält die Revisionsbegründung kein Beweismittel. Das Revisionsgericht kann lediglich prüfen, ob sich dabei das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen durchzuführen. Das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel hängen - wie der GS des BSG gerade zur Feststellung der Teilzeitarbeitsplätze betont hat (vgl. BSG 30, 192, 205) - weitgehend vom Einzelfall ab. Allgemein kann gesagt werden, daß der Kreis der auszuschöpfenden Erkenntnisquellen je nach dem im Einzelfall vorhandenen Ausmaß der quantitativen und qualitativen Einsatzbeschränkungen auf dem Teilzeitarbeitsmarkt weiter oder enger gezogen werden darf. Angesichts des Alters des Klägers und unter Berücksichtigung des vom LSG festgestellten Gesundheitszustandes, der dem Kläger nur noch qualitäts- und quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Leistungen ermöglicht, bestehen jedenfalls keine Bedenken dagegen, wenn das LSG bereits aufgrund dieser Tatsachen und unter Heranziehung des von der BA veröffentlichten statistischen Zahlenmaterials zur Annahme eines praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes gekommen ist.
Schließlich kann offen bleiben, ob der Teilzeitarbeitsmarkt unter Beachtung der vom 12. Senat des BSG in der Entscheidung vom 22. August 1973 (SozR Nr. 115 zu § 1246, fortgeführt in den Urteilen vom 22.11.1973 - 12 RJ 130/73 und 12 RJ 248/73 -) ausnahmsweise deshalb als offen angesehen werden müßte, weil der Versicherte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von dem für seinen Wohnort zuständigen Arbeitsamt auf einen für ihn geeigneten Teilzeitarbeitsplatz hätte vermittelt werden können (vgl. hierzu auch Urteil des 5. Senats vom 29.5.1973 in SozR Nr. 111 zu § 1246 RVO a. F.). Im Hinblick auf das Alter des Klägers und unter Berücksichtigung der bei ihm vorliegenden zahlreichen Leistungseinschränkungen besteht nämlich hierfür kein Anhalt (ebenso Urteil des 5. Senats aaO in einem vergleichbaren Fall).
Nach alledem ist der Revision der Beklagten der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen