Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung. Verfolgter. Ausland. Staatsangehörigkeit. Ausbürgerung. Einbürgerung
Orientierungssatz
1. Das Recht zur Nachentrichtung gemäß AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 entsteht erst mit der Beantragung, sofern auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (vergleiche BSG vom 1977-12-15 11 RA 52/77 = BSGE 45, 247).
Daraus folgt, daß die Befugnis zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge davon abhängt, ob der Antragsteller bis Ende Dezember 1975 zur freiwilligen Versicherung nach AVG § 10 berechtigt war. Ein etwaiger Erwerb dieser Berechtigung nach Ablauf der genannten Frist konnte das Nachentrichtungsrecht nicht (mehr) begründen.
2. Zur Frage der Wiedereinbürgerung politisch, rassisch oder religiös Verfolgter, die eine fremde Staatsbürgerschaft (hier: Argentinien) angenommen haben.
Normenkette
AVG § 10 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art 116 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; RuStAG § 16 Fassung: 1913-07-22
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, freiwillig Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten.
Die Klägerin gehört zum Personenkreis der rassisch Verfolgten und hat für Schaden in der Ausbildung eine Entschädigung gemäß § 116 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) erhalten. Sie mußte D wegen der Verfolgung im Jahre 1938 verlassen und wanderte nach A aus. Sie verlor durch Ausbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Dezember 1953 erwarb sie die argentinische Staatsangehörigkeit. Aufgrund ihres Antrages vom November 1975 wurde am 19. Januar 1976 vom Senator für Inneres Berlin eine Einbürgerungsurkunde ausgestellt, die der Klägerin am 11. März 1976 durch die Botschaft der B D in B A ausgehändigt worden ist.
Am 30. Dezember 1975 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung gemäß Art 2 § 49a AnVNG. Durch Bescheid vom 8. November 1976 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin habe im Zeitpunkt der Antragstellung die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besessen. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. März 1977; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 30. Mai 1978).
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. November 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1977 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zuzulassen (Urteil vom 20. April 1979). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Klägerin sei bereits im Zeitpunkt der Antragstellung deutsche Staatsangehörige gewesen. Sie sei deshalb gemäß § 10 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) zur freiwilligen Versicherung und damit zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG berechtigt. Sie habe die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erst durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde, sondern bereits durch ihren auf Art 116 Abs 2 des Grundgesetzes (GG) gestützten Antrag erworben. Jedenfalls sei sie dadurch, daß sie sich mit dem Antrag vom November 1975 auf die deutsche Staatsangehörigkeit berufen habe, als deutsche Staatsangehörige zu behandeln.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 10 Abs 1 Satz 2 AVG und des Art 116 Abs 2 Satz 1 GG. Nach Art 116 Abs 2 Satz 1 GG gälten die "ausgebürgerten" Verfolgten des Nationalsozialismus nicht kraft Antragstellung als nicht ausgebürgert. das gelte nach Satz 2 dieser Verfassungsvorschrift nur bei ihrer Wohnsitznahme in D. Vielmehr seien sie lediglich auf Antrag wiedereinzubürgern. Nach dem Wortlaut des Gesetzes sei also in den Fällen, in denen der "ausgebürgerte" Verfolgte seinen Wohnsitz nicht wieder in D genommen habe, ein normales Wiedereinbürgerungsverfahren durchzuführen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung in der Sache nicht aus.
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß entscheidend für das Entstehen des Nachentrichtungsrechts aus Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG der Zeitpunkt der Stellung des Nachentrichtungsantrages ist. Dies hat der erkennende Senat zuletzt in dem Urteil vom 23. November 1979 - 12 RK 29/78 - unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung (Urteil vom 23. Februar 1977 - 12/11 RK 88/75 - DAngVers 1977, 297) entschieden. Da das Recht zur Nachentrichtung erst mit der Beantragung entsteht, sofern auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl BSGE 45, 247, 248 f), müssen diese, wenn das Nachentrichtungsrecht bis zum Ablauf der gesetzlichen Ausschlußfrist (nach Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG: 31. Dezember 1975) entstehen soll, zur Zeit der Antragstellung, spätestens aber bis zum 31. Dezember 1975, vorliegen. Daraus folgt, daß die Befugnis der Klägerin, freiwillig Beiträge gemäß Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG nachzuentrichten, davon abhängt, ob sie bis Ende Dezember 1975 zur freiwilligen Versicherung nach § 10 AVG berechtigt war. Ein etwaiger Erwerb dieser Berechtigung nach Ablauf der genannten Frist konnte das Nachentrichtungsrecht nicht (mehr) begründen.
Da die Klägerin in Argentinien lebt, somit weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des AVG hat (vgl § 10 Abs 1 Satz 1 AVG), war sie zur freiwilligen Versicherung nur berechtigt, wenn sie im maßgeblichen Zeitpunkt Deutsche im Sinne des Art 116 Abs 1 GG war (§ 10 Abs 1 Satz 2 AVG). Soweit diese Verfassungsnorm hier in Betracht kommt, ist Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ob die Klägerin diese Voraussetzung am 31. Dezember 1975 erfüllte, ist nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht zu entscheiden; das gilt insbesondere im Hinblick auf die Sondervorschriften für Verfolgte in Art 116 Abs 2 GG.
Art 116 Abs 2 GG bestimmt, daß "frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge ... auf Antrag wieder einzubürgern" sind (Satz 1). "Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in D genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben" (Satz 2).
Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und für das Bundessozialgericht (BSG) daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG ist der Klägerin aus rassischen Gründen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden. In seinem Beschluß vom 14. Februar 1968 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl I 722), die die Ausbürgerung von Juden angeordnet hatte, als gegen fundamentale Prinzipien des Rechts und der Gerechtigkeit verstoßend und deshalb als von Anfang an nichtig angesehen (BVerfGE 23, 98, 106). Der Ausschluß bestimmter Teile der Bevölkerung aus dem deutschen Staatsverband unter Zugrundelegung ausschließlich rassischer Kriterien stellte eine Diskriminierung dar, die mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin unvereinbar war. Demnach ist davon auszugehen, daß der Klägerin durch die "Ausbürgerung" seitens der nationalsozialistischen Machthaber die deutsche Staatsangehörigkeit nicht rechtswirksam entzogen wurde.
Anknüpfend an die Erkenntnis, daß die politisch, rassisch oder religiös Verfolgten aufgrund der "Ausbürgerung" ihre deutsche Staatsangehörigkeit niemals verloren haben, hat das BVerfG in dem genannten Beschluß vom 14. Februar 1968 zwei Personengruppen unterschieden. Für diejenigen Verfolgten, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit zwar nicht durch die "Ausbürgerung", wohl aber aus einem anderen Rechtsgrund, insbesondere durch den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit, verloren hätten, liege die Bedeutung des Art 116 Abs 2 GG darin, daß dieser Personenkreis durch die Begründung eines Wohnsitzes in der B D oder durch einen entsprechenden Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangen könne. Demgegenüber bedeute die genannte Verfassungsvorschrift für diejenigen Verfolgten, die eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben hätten, daß der deutsche Staat sie - unbeschadet des Umstandes, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ausbürgerung nicht verloren hätten - nicht als Deutsche betrachte, solange sie nicht durch Wohnsitzbegründung oder Antragstellung sich auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit beriefen. Das GG trage damit dem Gedanken Rechnung, daß keinem der Verfolgten gegen seinen Willen die deutsche Staatsangehörigkeit aufgedrängt werden solle (BVerfG aaO, S 108).
Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Gruppen von Verfolgten ist mithin darin zu erblicken, daß die Angehörigen der ersten Gruppe, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit aus einem anderen Rechtsgrund als dem der "Ausbürgerung" verloren haben, lediglich einen - allerdings verfassungsrechtlich gesicherten - Rechtsanspruch auf Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit besitzen, jedoch den Status eines Deutschen, abgesehen von den Fällen einer Wohnsitznahme im Inland, erst durch eine Wiedereinbürgerung erwerben (wozu es der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde bedarf, vgl § 16 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes -RuStAG- ; Lichter/Hoffmann, Staatsangehörigkeitsrecht, 3. Aufl, Art 166 RdNr 20, S 37 oben); demgegenüber werden im zweiten Fall die Verfolgten bereits dann als Deutsche betrachtet, wenn sie sich, insbesondere durch Begründung eines inländischen Wohnsitzes oder durch einen Antrag auf Wiedereinbürgerung, auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen (so anscheinend auch BVerwG MDR 1977, 956, 957).
Zu welchem der beiden Personenkreise die Klägerin zu rechnen ist, bleibt auch nach der Feststellung des Berufungsgerichts, daß sie im Dezember 1953 die argentinische Staatsangehörigkeit "erwarb", unklar. Allein der Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit reicht nämlich nicht aus, die Klägerin der (ersten) Gruppe von Personen zuzuordnen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nur im Wege der Wohnsitzbegründung in der B D oder durch ausdrücklichen Einbürgerungsakt wiedererlangen können. Zu dieser Gruppe gehören vielmehr nur Personen, die mit dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit zugleich ihre deutsche "verloren haben" (BVerfG aaO und Urteil des Senats vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 - in einer im wesentlichen gleichgelagerten Sache).
Der Erwerb der argentinischen Staatsangehörigkeit führt nicht in jedem Falle zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Gemäß § 25 Abs 1 RuStAG verliert ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt hat, seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit nur, wenn dieser Erwerb auf seinem Antrag oder auf dem Antrag des gesetzlichen Vertreters beruht. Das LSG hätte demzufolge prüfen müssen, ob die Klägerin einen entsprechenden Antrag, gerichtet auf den Erwerb der fremden - argentinischen - Staatsangehörigkeit, gestellt hatte. Nur bei Verneinung dieser Frage, dh bei Erwerb der argentinischen Staatsangehörigkeit ohne Antrag, hätte das Berufungsgericht annehmen dürfen, daß die Klägerin bereits mit der Stellung des Einbürgerungsantrages im November 1975 als Deutsche zu behandeln gewesen sei. Nur dann hätte sie nämlich ihre - durch die "Ausbürgerung" nicht verlorengegangene - deutsche Staatsbürgerschaft nicht "aus einem anderen Rechtsgrund verloren" (BVerfG aaO), wäre mithin wegen der - im Wiedereinbürgerungsantrag liegenden - "Berufung" auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit von allen deutschen Dienststellen wieder als Deutsche zu betrachten gewesen, und zwar jedenfalls vom Zeitpunkt der Stellung des Wiedereinbürgerungsantrages an. Im anderen Falle, dh bei antragsgemäßem Erwerb der argentinischen Staatsangehörigkeit, hätte sie dagegen die deutsche erst durch Begründung eines deutschen Wohnsitzes (vgl dazu BVerfGE 8, 81) oder durch Wiedereinbürgerung erwerben können, wobei die Wiedereinbürgerung erst mit der Aushändigung der Wiedereinbürgerungsurkunde wirksam geworden wäre.
Da das Revisionsgericht nicht selbst feststellen kann, ob die Klägerin seinerzeit die argentinische Staatsangehörigkeit beantragt hatte, ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen