Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachentrichtung. Verfolgter. Ausland. Staatsangehörigkeit. Ausbürgerung. Wiedereinbürgerung. Einbürgerungsurkunde

 

Orientierungssatz

Ein 1936 nach Argentinien ausgewanderter und noch dort wohnhafter Verfolgter, der im Jahre 1951 die argentinische Staatsangehörigkeit erworben hat, kann die hierdurch verlorene deutsche Staatsangehörigkeit nicht bereits mit dem Antrag auf Wiedereinbürgerung, sondern erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wiedererlangen.

 

Normenkette

AVG § 10 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs 1 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art 116 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; RuStAG § 16 Fassung: 1913-07-22

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 01.11.1979; Aktenzeichen L 10 An 122/79)

SG Berlin (Entscheidung vom 13.07.1979; Aktenzeichen S 15 An 2197/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nach Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachzuentrichten.

Der Kläger hat als rassisch Verfolgter Deutschland 1933 verlassen müssen und sich nach vorübergehendem Aufenthalt in Holland 1936 in Argentinien niedergelassen. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit durch "Ausbürgerung" verloren. Seit 1951 ist er argentinischer Staatsangehöriger.

Am 14. November 1975 hat der Kläger beim Senator für Inneres in Berlin die Wiedereinbürgerung beantragt. Die Wiedereinbürgerungsurkunde vom 24. November 1975 ist dem Kläger am 8. Januar 1976 ausgehändigt worden.

Den Antrag des Klägers vom 19. November 1975 auf Zulassung der Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 49a AnVNG hat die Beklagte mit Bescheid vom 19. April 1977 und Widerspruchsbescheid vom 12. September 1977 mit der Begründung abgelehnt, der Kläger habe die deutsche Staatsangehörigkeit, die Voraussetzung für die Zulässigkeit der Nachentrichtung sei, erst nach Ablauf der Antragsfrist am 31. Dezember 1975 erworben.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 13. Juli 1979 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es hat die Stellung des Wiedereinbürgerungsantrages vor Ablauf der Antragsfrist gemäß Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG als ausreichend angesehen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 1. November 1979 zurückgewiesen: Der Kläger sei zwar bei Ablauf der Antragsfrist noch nicht Deutscher iS des Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) gewesen. Für die Antragsberechtigung des Klägers habe es aber genügt, daß er die Wiedereinbürgerung vor dem 31. Dezember 1975 beantragt und die deutsche Staatsangehörigkeit vor dem Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Nachentrichtungsantrag erworben habe.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des Art 2 § 49a Abs 2 und 3 Satz 1 AnVNG. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß sämtliche Antragsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Antragstellung oder bis zum Ablauf der Antragsfrist erfüllt sein müßten. Dieser Grundsatz gelte auch für die Eigenschaft als Deutscher iS des Art 116 Abs 1 GG.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Berlin vom 1. November 1979

und des SG Berlin vom 13. Juli 1979 aufzuheben

und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben, und der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung (vgl Urteil vom 23. Februar 1977 - 12/11 RK 88/75 - DAngVers 1977, 297; zur Veröffentlichung bestimmte Urteile vom 23. November 1979 - 12 RK 29/78 - und vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 -) entschieden, daß das Nachentrichtungsrecht nach Art 2 § 49a Abs 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) voraussetzt, daß die Versicherungsberechtigung nach § 10 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) im Zeitpunkt der Antragstellung besteht oder bis zum Ablauf der Antragsfrist am 31. Dezember 1975 eingetreten ist.

Zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a AnVNG iVm § 10 AVG sind Deutsche berechtigt, auch solche, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland haben (§ 10 Abs 1 Satz 2 AVG). Deutscher ist grundsätzlich nur, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Im Anschluß an den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 1968 (BVerfGE 23, 98) hat der erkennende Senat bereits in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 25/79 - ausführlich begründet, daß die aus ua rassischen Gründen Verfolgten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch die nichtigen nationalsozialistischen Ausbürgerungsvorschriften verloren haben. Da ihnen andererseits die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufgedrängt werden soll, müssen sie sich auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen, was insbesondere dadurch geschehen kann, daß sie wieder im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz begründen (BVerfGE aaO; erkennender Senat, Urteil vom 22. Februar 1980 aaO). In dem letztgenannten Urteil hat der erkennende Senat schließlich bereits entschieden, daß allein die "Berufung" auf eine deutsche Staatsangehörigkeit dann nicht genügt, wenn der Verfolgte - wie der Kläger - eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat. Für diesen Personenkreis ist entscheidend, ob der Erwerb der fremden - hier der argentinischen - Staatsangehörigkeit auf Antrag erfolgt ist. Denn nach § 25 Abs 1 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes -RuStAG- verliert ein Deutscher, der im Inland weder seinen Wohnsitz noch seinen dauernden Aufenthalt hat, seine Staatsangehörigkeit mit dem Erwerb seiner ausländischen Staatsangehörigkeit, wenn dieser Erwerb auf seinen Antrag oder auf den Antrag des gesetzlichen Vertreters beruht. Nur wenn der Kläger die argentinische Staatsangehörigkeit ohne Antrag erworben hat, hätte er seine - durch die "Ausbürgerung" nicht verlorengegangene - deutsche Staatsbürgerschaft nicht "aus einem anderen Rechtsgrund verloren" (BVerfGE aaO); nur dann wäre sein Wiedereinbürgerungsantrag auch als "Berufung" auf seine deutsche Staatsangehörigkeit anzusehen. Hat der Kläger hingegen die argentinische Staatsangehörigkeit auf einen Antrag iS des § 25 Abs 1 RuStAG erworben, so konnte er ohne Begründung eines deutschen Wohnsitzes (vgl dazu BVerfGE 8,81) die deutsche Staatsangehörigkeit nur durch die Wiedereinbürgerung erwerben, die erst mit der Aushändigung der Einbürgerungsurkunde wirksam geworden ist (erkennender Senat, Urteil vom 22. Februar 1980 aaO).

Diese Rechtsprechung des Senats steht auch nicht in Widerspruch zu der des Bundesgerichtshofes zur Wahrung der Antragsfristen für Wiedergutmachungsansprüche (vgl RzW 1975, 31). Im Unterschied zum Wiedergutmachungsrecht, in dem der Anmeldung von Ansprüchen lediglich eine verfahrensrechtliche Bedeutung zukommt, bewirkt der Nachentrichtungsantrag nach Art 2 § 49a AnVNG eine materiell-rechtliche Gestaltung des Versicherungsverhältnisses (Urteil des erkennenden Senats vom 23. November 1979 aaO).

Da das LSG nicht festgestellt hat, ob der Kläger 1951 die argentinische Staatsangehörigkeit auf Antrag erworben hat und das Revisionsgericht diese Feststellung nicht selbst treffen darf, ist die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG erforderlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656189

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