Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Versicherungsschutz. Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Irrtum über Urlaub. dem Betrieb dienende Handlung
Orientierungssatz
1. Es kann grundsätzlich auch Versicherungsschutz auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit bestehen, wenn es gar nicht zu einer Arbeitsaufnahme gekommen ist, der Versicherte gleichwohl aber der Meinung war, eine Arbeitspflicht habe bestanden. Allein die subjektive Vorstellung des Versicherten reicht jedoch auch hier nicht aus, um den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit herzustellen. Vielmehr ist zusätzlich erforderlich, daß diese Vorstellung in den objektiv gegebenen Verhältnissen im Einzelfall eine ausreichende Stütze findet (vgl BSG vom 29.1.1986 - 9b RU 18/85 = BSGE 59, 291, 295).
2. Erst dann, wenn der Versicherte infolge objektiver Umstände sich in der berechtigten Überzeugung befand, betriebliche Belange zu fördern, besteht die für den Unfallversicherungsschutz notwendige Verknüpfung zum geschützten Risikobereich. Solche Umstände liegen nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht vor. Vielmehr ist der Irrtum über den Beginn des gewährten Urlaubs allein in der Person des Versicherten begründet.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1, § 550 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.05.1989; Aktenzeichen L 5 U 134/88) |
SG Köln (Entscheidung vom 18.08.1988; Aktenzeichen S 16 U 333/85) |
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach ihrem am 5. März 1985 verstorbenen Ehemann I Y (Versicherter).
Der Versicherte, türkischer Staatsangehöriger, war als Arbeiter bei der K , Werk T beschäftigt. Am Freitag, dem 1. März 1985, wurde ihm vom folgenden Montag, dem 4. März 1985, an Urlaub gewährt, nachdem ihn die Personalabteilung darauf hingewiesen hatte, daß ein Resturlaub von 12 Tagen aus dem Jahr 1984 noch im gleichen Monat genommen oder zumindest angetreten werden müsse, um nicht zu verfallen. Gleichwohl erschien er am 4. März 1985 laut der von ihm gestempelten Zeiterfassungskarte um 5.24 Uhr im Betrieb. Seine Arbeit trat er aber nicht an. Vielmehr verließ er das Werksgelände noch vor Arbeitsbeginn. Dabei begegnete er seinem Arbeitskollegen, dem Zeugen A , demgegenüber er erklärte, er habe Urlaub gehabt, diesen vergessen und gehe nun wieder nach Hause. Auf dem weiteren Heimweg erlitt er gegen 5.42 Uhr mit seinem Moped einen Verkehrsunfall und verstarb am Tag darauf an den dabei erlittenen Verletzungen.
Mit Bescheid vom 22. August 1985 und Widerspruchsbescheid vom 8. November 1985 lehnte die Beklagte Hinterbliebenenleistungen (§ 589 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) für die Klägerin mit der Begründung ab, daß ein entschädigungspflichtiger Wegeunfall nach § 550 Abs 1 RVO nicht vorliege. Dafür fehle es an dem erforderlichen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Weg und der versicherten Tätigkeit. Zwar sei die subjektive Zielsetzung, die den Versicherten zu der Fahrt nach und von dem Betrieb veranlaßt hätte, auf die Arbeitsaufnahme gerichtet gewesen. Das allein reiche jedoch nicht aus. Vielmehr müsse das vom Versicherten erstrebte Ziel in seiner betrieblichen Rechts- und Pflichtenstellung auch eine objektive Grundlage finden, damit bei einem Unfall der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung eingreife. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen, da dem Versicherten vom Unfalltag an Urlaub gewährt worden sei. Dies habe der Versicherte gewußt, allerdings am Unfalltag vergessen. Sein Irrtum müsse aber mangels realer Grundlage rechtlich nicht als wesentlich eingestuft werden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. August 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat entsprechend dem Antrag der Klägerin das Urteil des SG geändert und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide verurteilt, Witwenrente zu gewähren (Urteil vom 16. Mai 1989). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Tod des Versicherten sei durch einen entschädigungspflichtigen Wegeunfall nach § 550 Abs 1 RVO eingetreten. Versicherungsschutz habe unabhängig davon bestanden, ob man das Erscheinen des Versicherten im Betrieb am Unglückstag und das Zurücklegen der damit zusammenhängenden Wege als den Interessen des Betriebes dienende oder zuwiderlaufende Handlungen ansehe. Denn seinem Handeln habe keinerlei eigenwirtschaftliches Interesse angehaftet und sei von seiner Tendenz her allein auf die Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten gerichtet gewesen. Daß der Versicherte sich dabei in einem Irrtum befunden habe, müsse unberücksichtigt bleiben, da auch bei der Vorbereitung und Ausführung der Betriebstätigkeit fahrlässiges Handeln den Versicherungsschutz nicht ausschließe. Erst wenn der Handelnde nach den Umständen vernünftigerweise nicht mehr glauben könne, er verrichte eine betriebsbezogene Tätigkeit, ende der Versicherungsschutz. Ein Vergessen des Urlaubs sei hier aber ein allenfalls fahrlässiges Fehlverhalten, das den Versicherungsschutz nicht berühre.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 589 Abs 1 Nr 3, 590 iVm §§ 550 Abs 1, 539 Abs 1 RVO. So sei bereits der vom LSG zugrunde gelegte Irrtum des Versicherten über den Urlaubsbeginn nahezu ausgeschlossen, berücksichtige man das Gesamtergebnis der Zeugenvernehmungen. Lege man nämlich nicht allein die Aussage des Zeugen A zugrunde, dann blieben auch viele und durchaus naheliegende Möglichkeiten ohne Bezug zu seiner Arbeit offen, weshalb der Versicherte den Betrieb am Unfalltag trotz Urlaubs aufgesucht haben könnte. Solche eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten ließen es dann nicht zu, den für den Versicherungsschutz notwendigen inneren Zusammenhang zu der Betriebstätigkeit herzustellen. Außerdem könne kein für den Unfallversicherungsschutz erforderlicher objektiver funktioneller Zusammenhang mit der aufgetragenen Arbeit angenommen werden, wenn wie hier dem Arbeitnehmer mit seinem Einverständnis ausdrücklich Urlaub gewährt worden sei, dieser aber gleichwohl zur Arbeit komme, weil er den Urlaub vergessen gehabt habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 1989 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18. August 1988 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Witwenrente (§ 589 Abs 1 Nr 3 RVO), da der Versicherte am 4. März 1985 keinen Arbeitsunfall erlitt.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit dieser Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO). Entgegen der Ansicht des LSG liegen diese Voraussetzungen nicht vor.
Der Versicherte war zwar zum Zeitpunkt des Unfalls bei der K auf der Wegstrecke von seiner Arbeitsstätte nach Hause. Der in § 550 Abs 1 RVO erforderliche "Zusammenhang" des Weges mit der versicherten Tätigkeit setzt jedoch nicht nur eine äußere - zeitliche und räumliche - Beziehung zwischen Weg und Tätigkeit voraus, die durch Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie die Richtung des Weges nach und von dem Tätigkeitsort begründet wird. Es muß vielmehr auch ein innerer Zusammenhang des Weges mit der Tätigkeit vorliegen (BSGE 58, 76, 77; BSGE 61, 127, 128; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl S 486c mwN). Der innere Zusammenhang ist gegeben, wenn die Zurücklegung des Weges der Aufnahme der versicherten Tätigkeit wesentlich dient (BSGE 58 aaO; BSG SozR 2200 § 539 Nr 21).
Nach den nicht angegriffenen und deshalb gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen in dem angefochtenen Urteil war dem Versicherten vom 4. März 1985 an Urlaub gewährt worden. Es bestand mithin für ihn keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung, als er am Unfalltag gleichwohl zur Arbeit fuhr. Nachdem er offenbar seinen Irrtum bemerkt hatte, verließ er dementsprechend den Betrieb, ohne eine Arbeit verrichtet oder sie dem Schichtmeister angeboten zu haben. Die Zurücklegung des Weges nach und von dem Werk der K diente damit nach den konkreten objektiven Umständen nicht der versicherten Tätigkeit.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats beurteilt sich die Frage, ob eine Tätigkeit dem Unternehmen dienlich ist, allerdings nicht danach, ob die Tätigkeit dem Unternehmen objektiv dienlich war; es ist vielmehr ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, den Interessen des Unternehmens zu dienen (BSG SozR 2200 § 549 Nr 6; BSG SozR 2200 § 539 Nr 48; BSG SozR 2200 § 550 Nr 39; BSGE 52, 57, 59; Brackmann aaO S 479h IV mwN). Danach kann grundsätzlich auch Versicherungsschutz auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit bestehen, wenn es gar nicht zu einer Arbeitsaufnahme gekommen ist, der Versicherte gleichwohl aber der Meinung war, eine Arbeitspflicht habe bestanden. Allein die subjektive Vorstellung des Versicherten reicht jedoch auch hier nicht aus, um den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit herzustellen. Vielmehr ist zusätzlich erforderlich, daß diese Vorstellung in den objektiv gegebenen Verhältnissen im Einzelfall eine ausreichende Stütze findet (BSGE 20, 215, 218; 30, 282, 283; BSG SozR RVO § 548 Nr 23 und 30; BSG 52 aaO; 59, 291, 295; Lauterbach/ Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 RVO Anm 7; Krasney, BG 1987, S 383, 385; Watermann, Die Ordnungsfunktionen von Kausalität und Finalität im Recht, 1968, S 149 f). Erst dann, wenn der Versicherte infolge objektiver Umstände sich in der berechtigten Überzeugung befand, betriebliche Belange zu fördern, besteht die für den Unfallversicherungsschutz notwendige Verknüpfung zum geschützten Risikobereich. Solche Umstände liegen nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht vor. Vielmehr ist der Irrtum allein in der Person des Versicherten begründet.
Sowohl die Personalabteilung als auch der für den Versicherten zuständige stellvertretende Meister hatten ihn am Freitag, dem 1. März 1985, auf den Beginn des gewährten Urlaubs am kommenden Montag ausdrücklich hingewiesen. Erklärend hatten sie dabei den Versicherten noch darauf aufmerksam gemacht, daß der Resturlaub für das Jahr 1984 im März 1985 zumindest angetreten sein müsse, andernfalls verfalle er. Anhaltspunkte, die auf seiten des Versicherten Zweifel an dem Zeitpunkt des Urlaubsbeginn am 4. März 1985 aufkommen lassen konnten, sind aus den Feststellungen des LSG nicht ersichtlich, zumal der Zeuge M als sein stellvertretender Meister ihm Beginn und Ende an Hand eines Kalenders erklärt hatte. Soweit der Versicherte sich daher in einem Irrtum befand, ist dieser allein auf Gründe in seiner Sphäre - etwa ein Vergessen - zurückzuführen. Hatte die Fahrt am Montag auch ihre Grundlage in dem Beschäftigungsverhältnis des Versicherten bei der K , so reicht dies allein jedenfalls im Rahmen der Prüfung des inneren Zusammenhangs zur versicherten Tätigkeit nicht aus, wenn wie hier der Versicherte von der arbeitsvertraglichen Pflicht, seiner Arbeit nachzugehen, für die Dauer des Urlaubs befreit ist und aus den gesamten Umständen anzunehmen ist, daß ihm der Beginn des Urlaubs bekannt war oder hätte bekannt sein müssen. Nach den Feststellungen des LSG mag dem Handeln des Versicherten zwar keinerlei eigenwirtschaftliches Interesse anhaften und von der Tendenz her allein auf die Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten gerichtet gewesen sein. Fehlt es aber an einer objektiven Grundlage, zB an der Aufnahme der Arbeit unter Verschiebung des Urlaubs auf den nächsten Tag, so liegt im Sinne der genannten Rechtsprechung des Senats in dem Weg von dem Ort der - nicht aufgenommenen - Tätigkeit keine dem Betrieb dienende Handlung und damit auch kein Arbeitsunfall vor.
Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ich schlage daher folgenden Tenor vor:
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landes- |
sozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom |
16.-Mai 1989 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin |
gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 18.-August 1988 |
wird zurückgewiesen. |
Kosten sind für sämtliche Rechtszüge nicht zu erstatten. |
Fundstellen