Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung. Unfallrente. wesentliche Änderung
Orientierungssatz
1. Die Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung an Unfallfolgen eingetreten ist, kann nicht in jedem Fall ausschließlich auf Grund medizinischer Sachkunde beurteilt werden, vielmehr gehört dazu auch eine sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse.
2. Da der Kläger ausdrücklich vorgetragen hat, daß er die schwere Arbeit als Stauer nur infolge des Entgegenkommens seiner Arbeitskollegen verrichten könne und trotz dieses Entgegenkommens mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe, hätte das LSG seine Feststellung, seit der ersten Feststellung der Dauerrente sei insofern eine wesentliche Änderung in den für die Rentenberechnung maßgebenden Verhältnissen eingetreten, als der Kläger sich inzwischen an die Behinderung durch Unfallfolgen gewöhnt habe, nicht allein auf die Auskünfte des Hafenbetriebsvereins stützen dürfen, sondern vielmehr dem Vorbringen des Klägers durch eigene Beweiserhebung nachgehen müssen.
Normenkette
SGG §§ 103, 128; RVO § 608
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 04.09.1956) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 4. September 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger bezog von der Beklagten für die Folgen eines Arbeitsunfalls vom 28. April 1951 eine Rente, die zuletzt durch Bescheid vom 12. März 1953 in Höhe von 20 v.H. der Vollrente als Dauerrente festgestellt worden war.
Im März 1955 zog die Beklagte vom Hafenbetriebsverein in Bremen eine Auskunft über die Arbeitsverhältnisse des Klägers bei und ließ den Kläger durch Prof. Dr. Sch in Bremen untersuchen.
Durch Bescheid vom 29. März 1955 entzog sie die bisher gewährte Rente mit dem Ablauf des Monats April 1955, weil ihrer Auffassung nach seit der Feststellung der bisherigen Rente eine so wesentliche Besserung eingetreten sei, daß die Erwerbsfähigkeit durch Folgen des Unfalls nur noch um 10 v.H. gemindert werde. Wesentliche Folgen des komplizierten Unterschenkelbruchs rechts seien nicht mehr festzustellen. Die Verhältnisse an beiden Fußgelenken seien nunmehr gleich.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger unter Beifügung einer gutachtlichen Äußerung des Chirurgen Dr. L Klage beim Sozialgericht (SG) Bremen erhoben. Das SG hat nochmals beim Hafenbetriebsverein angefragt und ein Gutachten der Chirurgischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Bremen (Prof. Dr. R, Oberarzt Dr. Sch) beigezogen.
Durch Urteil vom 27. Dezember 1955 hat es die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Es sei zuzugeben, daß nach den Feststellungen von Prof. Dr. R und Dr. Sch eine wesentliche Änderung überhaupt nicht eingetreten sei, da die Differenzen der Umfangsmessungen nur wenig außerhalb der Maßfehlerquellen lägen und auf Messungen an verschiedenen Stellen zurückzuführen seien. Das sei jedoch nicht so entscheidend, zumindest lasse sich daraus erkennen, daß gewisse Ansätze für eine Besserung vorhanden seien. Zum anderen müsse hervorgehoben werden, daß bei dem Kläger nach dem Unfall eine Anpassung und Gewöhnung eingetreten seien, die es allein schon rechtfertigten, eine wesentliche Änderung anzunehmen, ohne daß der objektive Befund sich geändert haben müsse. Die Kammer sei zu der Überzeugung gelangt, daß eine wesentliche Änderung, die in diesem Falle nur 5 % zu betragen brauche, eingetreten sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Bremen eingelegt und zur Begründung u.a. ausgeführt: Die Beklagte berufe sich darauf, daß der Kläger seit längerer Zeit wieder seiner Arbeit nachgehe, das habe aber nichts mit Gewöhnung zu tun. Die Gutachter Prof. Dr. R und Dr. Sch hätten ausdrücklich festgestellt, daß der Kläger immer noch große Schmerzen habe, wenn er gehe oder längere Zeit stehe. Da den Kollegen des Klägers diese Unfallfolgen bekannt seien, würden die Arbeitsvorgänge so eingerichtet, daß sie seiner Leistungsfähigkeit entsprächen. Wenn das nicht immer möglich sei, müsse der Kläger die Zähne zusammenbeißen und die Schmerzen ertragen, damit er für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen könne.
Das LSG hat durch Urteil vom 4. September 1956 die Berufung gegen das Urteil des SG Bremen als unbegründet zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil geht davon aus, daß seit der Untersuchung durch Dr. Tjaden am 20. Februar 1953 weder hinsichtlich der Muskulatur des rechten Beines noch bezüglich des rechten Kniegelenks sowie des oberen und unteren Sprunggelenks eine Besserung eingetreten sei. Eine wesentliche Änderung im Sinne des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erblickt das LSG darin, daß seit der Untersuchung am 20. Februar 1953 eine Anpassung und Gewöhnung erfolgt seien, die sich eindeutig aus der Art der Tätigkeit des Klägers erkennen ließen. Das LSG hat unterstellt, die Arbeitskollegen unterstützten den Kläger so, daß ihm im Hafen die Arbeiten zugeteilt werden, die seiner Leistungsfähigkeit entsprechen. Die vom Kläger angeregte Vernehmung von Zeugen hat es nicht für erforderlich gehalten.
Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG, das ihm am 19. Oktober 1956 zugestellt worden ist, am 13. November 1956 Revision eingelegt und sie am 15. November 1956 begründet.
Er beantragt,
die Urteile und den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Dauerrente von 20 v.H. der Vollrente über den Monat April 1955 hinaus weiter zu gewähren,
hilfsweise,
die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
II
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und in der gesetzlichen Frist begründet worden. Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), hängt die Statthaftigkeit der Revision davon ab, ob die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 SGG gegeben sind.
Die Revision rügt unter anderem als Verfahrensmangel, daß das LSG keine Beweise über die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Klägers, insbesondere über die näheren Umstände, unter denen er seine Arbeiten im Bremer Hafen verrichte, erhoben hat. Diese Rüge ist begründet. Nach den Feststellungen des LSG, die insoweit nicht mit Rügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG), ist in den von den untersuchenden Gutachtern erhobenen Befunden seit der Feststellung der Dauerrente durch den Bescheid vom 12. März 1953 keine wesentliche Änderung eingetreten. Das LSG hat es ausdrücklich offen gelassen, ob der Fortfall der Gangbehinderung und der Behinderung beim Abrollen des Fußes als eine wesentliche Änderung anzusehen sei, und hat insbesondere dahingestellt gelassen, ob etwa insofern eine Änderung eingetreten sei, als die Einschränkung der Beweglichkeit des Sprunggelenks jetzt nicht mehr als Unfallfolge, sondern nur noch als Folge der Plattfußstellung angesehen werden könne. Die Entscheidung des LSG ist vielmehr ausschließlich auf die Annahme gestützt, daß der Kläger sich an die Unfallfolgen gewöhnt habe. Diese Annahme beruht jedoch, wie die Revision zutreffend gerügt hat, auf unzureichenden tatsächlichen Feststellungen.
Wie der erkennende Senat in dem in SozR (RVO § 608 Aa1 Nr. 3) veröffentlichten Beschluß vom 11. September 1958 - 2 RU 68/56 - näher dargelegt hat, kann die Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung an Unfallfolgen eingetreten ist, nicht in jedem Fall ausschließlich auf Grund medizinischer Sachkunde beurteilt werden, vielmehr gehört dazu auch eine sorgfältige Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse. Diese Prüfung hat das LSG unterlassen. Es hat sich nur auf die Berichte des Hafenbetriebsvereins gestützt und dabei nicht gewürdigt, daß der Hafenbetriebsverein selbst, wie sich aus der Beantwortung der entsprechenden Fragen ergibt, über die Leistungsfähigkeit des Klägers und insbesondere über die Umstände, unter denen er seine Arbeit verrichtet, keine unmittelbare Kenntnis hat. Auch hat das LSG nicht dargelegt, inwiefern in den Verhältnissen, unter denen der Kläger seine Arbeit verrichtet, seit der ersten Feststellung der Dauerrente im Bescheid vom 12. März 1953 eine weitere Änderung eingetreten sei, obwohl der Kläger damals bereits nicht mehr als Decks- und Warschaumann, sondern wieder als Stauer beschäftigt wurde. Da der Kläger ausdrücklich vorgetragen hatte, daß er die schwere Arbeit als Stauer nur infolge des Entgegenkommens seiner Arbeitskollegen verrichten könne und trotz dieses Entgegenkommens mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe, hätte das LSG seine Feststellung, seit der ersten Feststellung der Dauerrente sei insofern eine wesentliche Änderung in den für die Rentenberechnung maßgebenden Verhältnissen eingetreten, als der Kläger sich inzwischen an die Behinderung durch Unfallfolgen gewöhnt habe, nicht allein auf die Auskünfte des Hafenbetriebsvereins stützen dürfen, sondern vielmehr dem Vorbringen des Klägers durch eigene Beweiserhebung nachgehen müssen.
Das LSG hat seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht ausreichend erfüllt und bei seinen Schlußfolgerungen zugleich auch die Grenzen des Rechts der richterlichen Überzeugungsbildung überschritten (§ 128 SGG). Hierin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, der von der Revision gerügt ist. Die Revision ist somit statthaft.
Sie ist auch begründet; denn eingehende Ermittlungen über die Arbeitstätigkeit des Klägers hätten möglicherweise zu dem Ergebnis geführt, daß der Kläger seine Arbeit als Stauer nur infolge des Entgegenkommens seiner Arbeitskollegen und nur unter erheblichen Schwierigkeiten verrichten kann- insbesondere - daß insoweit sich an den Verhältnissen, unter denen der Kläger seine Arbeit verrichtet, seit der ersten Feststellung der Dauerrente nichts geändert hat.
Der erkennende Senat ist daran gebunden, daß nach den Feststellungen des LSG eine wesentliche Änderung in den ärztlichen Befunden seit der Erteilung des Bescheides vom 12. März 1953 nicht eingetreten ist. Das schließt allerdings nicht aus, daß sich die für die Rentenfeststellung maßgebenden Verhältnisse insofern wesentlich geändert haben, als der Kläger sich inzwischen an die Behinderung durch die Unfallfolgen weitgehend gewöhnt und sich ihnen angepaßt hat. Im einzelnen wird hierzu auf den oben angeführten Beschluß des erkennenden Senats vom 11. September 1958 verwiesen. Da es jedoch, wie bereits dargelegt, an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt, auf Grund deren entschieden werden könnte, ob eine solche Änderung eingetreten ist und ob sie als wesentlich angesehen werden kann, ist eine Entscheidung durch den erkennenden Senat nicht möglich.
Das angefochtene Urteil mußte deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen