Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung. Arbeitsunfall. Kausalität
Orientierungssatz
Wird eine Leistendrüsenentzündung für eine spätere Erblindung verantwortlich gemacht und behauptet, daß es zu dieser Entzündung wegen der großen Anstrengung bei der beruflichen Tätigkeit und auf dem Wege von der und zur Arbeitsstelle gekommen sei, so ist vom Gericht zu prüfen, ob die körperliche Beanspruchung durch die Arbeit und die Wege von und zur Arbeit eine rechtlich wesentliche Teilursache für den Verlauf der Erkrankung war. Hierzu bedarf es einer Klärung der Frage, welche Bedeutung eine solche körperliche Beanspruchung für die Entwicklung einer bereits im Gang befindlichen Leistendrüsenentzündung hat. Klärt das LSG diese für die rechtliche Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs entscheidenden naturwissenschaftlichen Fragen weder durch ärztliche Gutachten noch auf Grund eigener Sachkunde, so beruht die Schlußfolgerung des LSG, die betriebliche Tätigkeit und der Arbeitsweg seien lediglich eine rechtlich unwesentliche Teilursache der Leistendrüsenentzündung gewesen, auf unzureichenden Grundlagen.
Normenkette
SGG §§ 103, 128; RVO §§ 542-543
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 23.11.1955) |
SG Landshut (Entscheidung vom 20.05.1954) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. November 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) durch eine Erblindung des linken Auges. Er führt die Erblindung auf eine Leistendrüsenentzündung zurück und ist der Auffassung, daß diese Entzündung Folge eines Arbeitsunfalls sei.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch aus Anlaß der am 4. Dezember 1949 aufgetretenen Erkrankung durch Bescheid vom 14. April 1953 ab, weil ihrer Auffassung nach ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall nicht vorgelegen hat. Der Bescheid enthält eine ausführliche Wiedergabe des Sachverhalts und ist im wesentlichen damit begründet, daß ein nach und nach entstandenes Leiden, das nicht zu den anerkannten Berufskrankheiten gehöre, keinen Entschädigungsanspruch begründen könne.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt L... eingelegt. Diese ist nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG) Landshut übergegangen (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG). Das SG hat durch Urteil vom 20. Mai 1954 die Klage abgewiesen. In der Begründung des Urteils ist u.a. ausgeführt: Der Kläger führe die Entstehung der Leistendrüsenentzündung auf eine lange Zeit hindurch andauernde Überanstrengung infolge des weiten Weges von und zur Arbeitsstätte zurück. Einen bestimmten Zeitpunk der Entstehung vermöge er nicht anzugeben. Die Schmerzen seien nach seinen Angaben erstmals am 4. Dezember 1949 spürbar geworden. Somit sei der Nachweis eines Unfallereignisses nicht erbracht.
Auch der behandelnde Arzt Dr. A... bestätige ausdrücklich, daß eine Verletzung am Fuß oder Bein nicht festzustellen sei. Es handele sich auch nicht um eine zu entschädigende Berufskrankheit.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. November 1955 als unbegründet zurückgewiesen. Die Revision ist vom LSG nicht zugelassen worden.
In der Begründung des Urteils ist u.a. ausgeführt:
Der Kläger behaupte nicht, daß die Erblindung des linken Auges durch eine äußere Verletzung während der Arbeit entstanden sei, er mache sich die Ansichten des behandelnden Arztes Dr. A... und des Augenarztes Dr. F... zu eigen, nach denen die der Erblindung vorausgegangene Thrombose der Zentralvene infolge bakterieller Verschleppung durch die Leistendrüsenentzündung verursacht worden sei. Dieser Ansicht schließe sich auch der Senat an; dagegen vermöge er sich der Ansicht des Dr. A... nicht anzuschließen, die Drüsenentzündung sei ursächlich auf die Arbeitswege zurückzuführen; denn ein entschädigungspflichtiger Unfall liege nicht vor, wenn die betriebliche Tätigkeit und die Arbeitswege nur die Gelegenheit, nicht aber die Ursache für den durch den Unfall eingetretenen Schaden seien. Eine nachweisbare Verletzung oder Gewalteinwirkung sei weder während der Betriebstätigkeit noch auf dem Wege erfolgt. Die Überanstrengung sei keine anspruchsbegründende Tatsache, weil keine Wahrscheinlichkeit bestehe, daß sie die innere und wesentliche Ursache der Drüsenschwellung gewesen sei. Ein plötzliches Ereignis sei allerdings nicht erforderlich, auch müsse ein genauer Zeitpunkt der Schädigung nicht festgestellt werden. Diese müsse aber innerhalb eines ganz kurzen Zeitraums, der dem einer Arbeitsschicht entspreche, eingetreten sein. Dies könnte angenommen werden, wenn die Arbeit eine außergewöhnliche Belastung gebracht hätte; hierfür biete der Sachverhalt keinen Anhaltspunkt. Es sei nicht anzunehmen, daß die betriebliche Tätigkeit und die hierbei aufgewendete Anstrengung sich auch noch auf den Heimweg erstreckt hätten. Die Leistendrüsenentzündung sei somit nicht ursächlich auf den Heimweg zu beziehen, weil sie nicht eine für eine betriebliche Tätigkeit eigentümliche Schadensfolge sei, sondern auf Grund einer inneren Disposition in Erscheinung getreten sei, was bei anderen betriebsunabhängigen Anlässen in gleicher Weise geschehen könne. Betriebliche Tätigkeit und Arbeitsweg seien lediglich eine unwesentliche Teilursache der Leistendrüsenentzündung.
Der Kläger hat gegen das Urteil des LSG, das ihm am 6. Februar 1956 zugestellt worden ist, am 27. Februar 1956 Revision eingelegt und sie an demselben Tage und am 29. März 1956 begründet.
Er beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG und des SG Landshut aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen der Erblindung seines linken Auges zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Möglichkeit, in dieser Weise zu verfahren, Gebrauch gemacht.
II
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), hängt die Statthaftigkeit der Revision davon ab, ob die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 SGG gegeben sind.
Die Revision rügt: Eine Leistendrüsenentzündung sei die sekundäre Erscheinung einer Verletzung. In der Behauptung des Klägers, daß er plötzlich auf dem Wege zur Arbeit Schmerzen verspürt habe und daß dieses durch den schlechten Weg gekommen sei, stecke die weitere Behauptung, daß er sich auf dem Wege wundgelaufen oder sonstwie bei der Arbeit verletzt habe. Das habe auch Dr. A... mit seinem Vortrag behaupten wollen. Diesen Behauptungen hätte das LSG nachgehen und insbesondere den Kläger und Dr. A... zu näheren Angaben veranlassen müssen.
Diese Rüge ist nicht geeignet, einen Verstoß des LSG gegen §§ 103, 106 SGG darzutun und die Statthaftigkeit der Revision zu begründen. Dr. A... hat in seinem Schreiben vom 9. November 1951 zwar die Auffassung vertreten, daß eine Verletzung oder Entzündung am Bein "als wahrscheinlich vorausgegangen" anzunehmen sei; er hat jedoch ausdrücklich erklärt, daß eine solche Verletzung oder Entzündung als Ausgangsort der Drüsenschädigung nicht festzustellen gewesen sei. Auch der Kläger hat weder im Verwaltungsverfahren der Beklagten noch während des gerichtlichen Verfahrens Angaben gemacht, die einen Hinweis darauf enthalten, daß er nähere Angaben über eine Verletzung machen könnte. Er hat vielmehr bei der Unfalluntersuchung durch die Gemeindeverwaltung E... am 3. Oktober 1952 angegeben, er habe ein oder zwei Tage vor dem 3. Dezember 1949 zum erstenmal Schmerzen bemerkt, sei jedoch weiter der Arbeit nachgegangen und habe am 4. Dezember 1949 nicht mehr gehen können und ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Als Ursache der Drüsenschwellung hat er die sehr schlechten und steinigen Abmarschwege bezeichnet, aber nichts von einer äußeren Verletzung erwähnt. Auch in den von der Gemeinde E... aufgenommenen Rechtsmittelschriften vom 17. April 1953 und 5. August 1954 hat er nur vorgebracht, die Drüsenentzündung sei auf die Überanstrengung infolge der weiten und schlechten An- und Abmarschwege von und zur Arbeitsstelle zurückzuführen, er könne nicht mit Bestimmtheit sagen, an welchem Tage oder in welchem Zeitraum sich die schädigende Ursache ereignet habe, er habe beim ersten Auftreten der Schmerzen nicht gleich mit der Arbeit aufhören wollen in der Hoffnung, die Schmerzen würden wieder vergehen. Auch Dr. A... hat im Schreiben an das Oberversicherungsamt vom 16. Januar 1953 als Ursache der Leistendrüsenschwellung eine Übermüdung bei dem langen und beschwerlichen Hin- und Herweg von und zur Arbeit angenommen. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern sich das LSG bei diesem Sachverhalt zu der Annahme hätte gedrängt fühlen müssen, daß der Kläger oder Dr. A... in der Lage sein könnten, doch noch nähere Angaben über eine Verletzung während der Arbeit oder auf einem der Wege von und zur Arbeitsstätte zu machen.
Dagegen rügt die Revision mit Recht, das LSG hätte hinsichtlich der Ursache für die Leistendrüsenentzündung weitere Beweise erheben müssen; denn in dieser Beziehung ist der Sachverhalt weder durch ärztliche Gutachten ausreichend geklärt noch läßt das Urteil des LSG erkennen, daß das LSG selbst die hierfür erforderliche ärztliche Sachkunde besaß.
Das LSG hat festgestellt (vgl. § 163 SGG), daß die Erblindung des linken Auges eine Folge der durch Dr. A... festgestellten und von ihm und dem Kreiskrankenhaus in G... behandelten rechtsseitigen Leistendrüsenentzündung ist. Infolgedessen bedurfte es vom Standpunkt des LSG aus nur einer Entscheidung darüber, ob diese Leistendrüsenentzündung in rechtlich wesentlichem Umfang auf Schädigungen durch die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist, zu der nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch die mit der Arbeitstätigkeit zusammenhängenden Wege nach und von der Arbeitsstätte gehören. Die Entscheidung dieser Frage hängt jedoch u.a. davon ab, auf welche - möglicherweise sehr verschiedenartigen - Ursachen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft eine Leistendrüsenentzündung zurückzuführen ist. In dieser Beziehung reichen die gutachtlichen Äußerungen des Dr. A... nicht aus, da er einerseits die Auffassung vertritt, daß bei einer Leistendrüsenentzündung als Entstehungsursache eine "Verletzung oder Entzündung am Bein ... als wahrscheinlich vorausgegangen anzunehmen" sei (Schreiben vom 9.11.1951), während er sich andererseits in den späteren Schreiben vom 16. Januar 1953 und in dem "Zeugnis" vom 16. April 1953 nur mit der Frage befaßt, welche Bedeutung die Anstrengung durch die langen und beschwerlichen Arbeitswege für die Leistendrüsenentzündung hat. Selbst wenn eine Leistendrüsenentzündung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft keine vorangegangene äußere Verletzung voraussetzen sollte und eine solche Verletzung auch weder durch unmittelbare Beweismittel noch auf Grund einer ausreichend starken Vermutung festgestellt werden kann, ist, wie das LSG auch nicht verkannt hat, die Frage zu prüfen, ob die körperliche Beanspruchung durch die Arbeit und die Wege von und zur Arbeit eine rechtlich wesentliche Teilursache für den Verlauf der Erkrankung war. Hierzu bedarf es aber einer Klärung der Frage, welche Bedeutung eine solche körperliche Beanspruchung für die Entwicklung einer bereits im Gang befindlichen Leistendrüsenentzündung hat, insbesondere ob die Beanspruchung innerhalb des letzten Arbeitstages zur Folge haben kann, daß die Leistendrüsenentzündung einen wesentlich ungünstigeren Verlauf genommen hat, als das ohne eine solche Beanspruchung der Fall gewesen wäre. Da das LSG diese für die rechtliche Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs entscheidenden naturwissenschaftlichen Fragen weder durch ärztliche Gutachten noch auf Grund eigener Sachkunde geklärt hat, beruht die Schlußfolgerung des LSG, die betriebliche Tätigkeit und der Arbeitsweg seien lediglich eine rechtlich unwesentliche Teilursache der Leistendrüsenentzündung gewesen, auf unzureichenden Grundlagen (§§ 103, 128 SGG).
Das Verfahren des LSG leidet somit an einem von der Revision gerügten wesentlichen Mangel. Die Revision ist infolgedessen statthaft.
Sie ist auch begründet; denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zu einer für den Kläger günstigeren Auffassung hinsichtlich der Frage gekommen wäre, welche rechtliche Bedeutung die körperliche Beanspruchung durch die Arbeit und die Arbeitswege am letzten Arbeitstag für die Entwicklung der Leistendrüsenentzündung gehabt hat.
Da infolge Fehlens ausreichender tatsächlicher Feststellungen eine Entscheidung durch den erkennenden Senat nicht möglich ist, mußte das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen