Leitsatz (redaktionell)

1. Regelt ein Träger der Unfallversicherung einen Rückforderungsanspruch durch einen Verwaltungsakt, so ist die Klage gegen einen solchen Verwaltungsakt eine Angelegenheit der Sozialversicherung iS des SGG § 51 Abs 1 ohne Rücksicht darauf, ob der Versicherungsträger befugt war, eine solche Streitigkeit durch einen Verwaltungsakt zu regeln.

Ein Rückforderungsanspruch nach RVO § 611 Abs 1 gehört dem öffentlichen Recht an und kann durch einen Verwaltungsakt geltend gemacht werden.

2. Tritt mit dem Tode eines Abgefundenen eine bestimmungsgemäße Verwendung der Abfindungssumme nicht ein, geht der entstandene öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch durch den Tod des Abgefundenen mit dem Erbfall als Nachlaßverbindlichkeit auf den Erben über.

 

Normenkette

RVO § 611 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 51 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 614 Abs. 1 S. 1, § 607 Abs. 2 Nr. 1; BGB §§ 1922, 1967; RVO § 614 Abs. 1 S. 2

 

Tenor

Die Revision des Klägers zu 1) gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Juni 1968 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Abfindungssumme unter Berücksichtigung des § 612 RVO zurückzuzahlen ist.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beklagte fordert die Erstattung einer der Witwe Maria G gewährten Rentenabfindung in Höhe von 12.010,90 DM.

Die Kläger sind der Sohn und die Schwiegertochter der Witwe G. Sie beabsichtigten, auf einem ihnen beiden gehörenden Grundstück in D ein Wohnhaus zu errichten und der in O wohnenden Witwe G an einer Wohnung dieses Hauses ein Dauerwohnrecht zu bestellen. Nachdem die Witwe G mit den Klägern am 3. Juli 1965 einen notariellen Dauerwohnrechtsvertrag abgeschlossen hatte und das Dauerwohnrecht am 17. September 1965 im Grundbuch des Grundstücks der Kläger eingetragen worden war, bewilligte die Beklagte der Witwe G durch Bescheid vom 7. Dezember 1965 eine Abfindung in Höhe von 12.010,90 DM. Hinsichtlich der Verwendung des Abfindungsbetrages wurde im Bescheid unter II. u.a. bestimmt, daß der Abfindungsbetrag an die Kläger ausgezahlt und ihnen zur Pflicht gemacht wird, über die Verwendung des Betrages für den Wohnungsbau bis zum 30. September 1966 Rechenschaft zu legen. Die Witwe G wurde verpflichtet, bis zu demselben Termin den Bezug der im notariellen Vertrag näher bezeichneten Wohnung nachzuweisen. Unter IV. des Bescheides wurde bestimmt, daß die Abfindungssumme im Auftrag und für Rechnung der Witwe G an die Kläger zu treuen Händen überwiesen wird. Ferner bestimmte die Beklagte unter V. des Bescheides, daß die Abfindungssumme auf ihr Verlangen zurückzuzahlen ist, wenn sie nicht frist- oder bestimmungsgemäß verwendet worden ist oder wenn der Zweck der Abfindung insbesondere dadurch vereitelt oder gefährdet wird, daß die unter II. des Bescheides genannte Wohnung von der Witwe G nach Fertigstellung nicht bewohnt wird. Nachdem die Abfindungssumme im Dezember 1965 dem Kläger zu 1) überwiesen worden war, starb die Witwe G am 14. Juni 1966. Sie hatte die Wohnung im Hause der Kläger, an der ihr das Dauerwohnrecht bestellt worden war, noch nicht bezogen. Der Kläger zu 1) ist Alleinerbe seiner Mutter.

Durch Bescheid vom 19. Oktober 1966 forderte die Beklagte die Abfindungssumme von den Klägern zurück, weil der Zweck der Abfindung durch den Tod der Witwe G vereitelt worden sei. Die Kläger seien aber auch deshalb zur Herausgabe der gesamten Abfindungssumme verpflichtet, weil ihnen das Geld nur zu treuen Händen überwiesen worden und nicht in ihr Eigentum übergegangen sei. Den Widerspruch wies die Beklagte - während des Berufungsverfahrens - mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 1968 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat den Rückforderungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 19. Mai 1967), weil der Rückforderungsanspruch privatrechtlicher Natur sei und nicht durch einen Bescheid geltend gemacht werden könne. Ein derartiger Anspruch gehöre vor das bürgerliche Gericht. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das Urteil des SG teilweise aufgehoben und die Klage des Klägers zu 1) abgewiesen; im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 4. Juni 1968). Es hat nur den Kläger zu 1) zur Rückerstattung der Abfindungssumme für verpflichtet gehalten. Zwar sei ein öffentlich-rechtlicher Rückerstattungsanspruch gegen die Witwe G aufgrund des Abfindungsbescheides oder nach dem Gesetz durch deren Tod nicht ausgelöst worden. Jedoch bestehe beim Tod des Abgefundenen für den Erben als rechtlichem Nachfolger des Abgefundenen eine Rückerstattungspflicht. Das folge aus dem Zweck und dem Wesen der Abfindung als eine besondere Form der Rentengewährung. Eine Rente werde nur bis zum Ende des Monats gezahlt, in dem die Voraussetzungen für ihren Wegfall eintreten. Beim Tod eines Berechtigten sei die Rente daher nur bis zum Ende des Monats zu zahlen, in dem der Berechtigte gestorben ist. Wie aber der nicht abgefundene Teil der Rente letztmalig im Sterbemonat gewährt werde, falle mit dem Tode des Abgefundenen auch die Voraussetzung für die Gewährung der Abfindung weg. Sei die Abfindung bereits ausgezahlt, dann entstehe der Rückerstattungsanspruch mit dem Tod des Abgefundenen. Der Rückerstattungsanspruch sei nichts anderes als das Gegenstück der öffentlich-rechtlichen Leistung. Diese verwandele sich beim Wegfall der Voraussetzungen in eine öffentlich-rechtliche Schuld. Beim Tod des Abgefundenen richte sich der Rückerstattungsanspruch gegen den Erben. Der Kläger zu 1) sei als Alleinerbe der Witwe G - seiner Mutter - daher zur Rückerstattung der Abfindungssumme verpflichtet. Gegen die Klägerin zu 2) bestehe kein öffentlich-rechtlicher Rückerstattungsanspruch.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt der Kläger zu 1) eine Verletzung des materiellen Rechts (§§ 611 Abs. 1, 614 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Er macht geltend, daß gegen ihn kein durch Verwaltungsakt verfolgbarer öffentlich-rechtlicher Rückerstattungsanspruch bestehe. Das wäre nur der Fall, wenn schon zu Lebzeiten seiner Mutter eine öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit bestanden hätte, die auf ihn übergegangen sei. Das liege hier jedoch nicht vor. Die Beziehungen der Beklagten zu ihm seien zivilrechtlicher Natur, die nicht durch Verwaltungsakt geregelt werden könnten.

Der Kläger zu 1) beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 4. Juni 1968 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 19. Mai 1967 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, die Abfindung sei der Witwe G im Rahmen des Ermessens unter der auflösenden Bedingung der bestimmungsgemäßen Verwendung binnen einer bestimmten Frist gewährt worden. Durch den Tod der Witwe G sei der Rückerstattungsanspruch ausgelöst worden. Er richte sich gegen den Nachlaß und damit gegen den Kläger zu 1) als Alleinerbe. Dabei handele es sich um einen öffentlich-rechtlichen Rückerstattungsanspruch. Zudem habe sich der Kläger zu 1) auf die Entgegennahme der Abfindungssumme eingelassen und sich ihr - der Beklagten - dadurch in einer Weise unterworfen, die es ermögliche, auch einen Verwaltungsakt über die Rückforderung zu erlassen.

II

Die Revision ist im wesentlichen nicht begründet.

Da nur der Kläger zu 1) Revision eingelegt hat, steht rechtskräftig fest, daß die Beklagte keinen Erstattungsanspruch gegen die Klägerin zu 2) hat.

Die Erstattungspflicht des Klägers zu 1) hat das LSG im Ergebnis zutreffend bejaht.

Gegen die Zulässigkeit des Rechtsweges bestehen keine Bedenken, denn der angefochtene Bescheid vom 19. Oktober 1966 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. April 1968 ist ein Verwaltungsakt. Die Beklagte hat diesen Bescheid auf § 611 RVO, also auf eine Vorschrift des öffentlichen Rechts gestützt und damit erkennbar einen Einzelfall auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts regeln wollen. Die Klage gegen diesen Verwaltungsakt ist somit eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung im Sinne des § 51 Abs. 1 SGG, über welche die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden haben ohne Rücksicht darauf, ob die Berufsgenossenschaft befugt war, eine Streitigkeit durch einen Verwaltungsakt zu regeln. Auch wenn die hoheitliche Anordnung der Berufsgenossenschaft im Einzelfall ein privates Rechtsverhältnis regelt, liegt ein Verwaltungsakt vor; dieser mag deswegen rechtswidrig sein, kann aber in den der Sozialgerichtsbarkeit unterworfenen Angelegenheiten nur von Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nachgeprüft und aufgehoben werden (BSG, 15, 14, 15; 24, 190, 191; 25, 268, 269).

Die Beklagte hat den Erstattungsanspruch befugt durch Verwaltungsakt geltend gemacht, da er dem öffentlichen Recht angehört.

Nach den nicht angefochtenen Feststellungen des LSG ist die Witwe G am 14. Juni 1966 gestorben, bevor sie die Wohnung im Hause der Kläger bezogen hatte, an der ihr das Dauerwohnrecht bestellt worden war. Der Kläger zu 1) ist ihr Alleinerbe.

Die Beklagte hatte der Witwe G durch Bescheid vom 7. Dezember 1965 nach § 614 Abs. 1 RVO in Verbindung mit § 607 Abs. 2 Nr. 1 RVO eine Abfindung der Witwenrente zum Erwerb eines Dauerwohnrechts gewährt. Die Abfindungssumme, die dem Kläger zu 1) im Dezember 1965 überwiesen worden war, ist bis zum Tode der Witwe G und infolge ihres Todes nicht bestimmungsgemäß verwendet worden. Die bestimmungsgemäße Verwendung der Abfindungssumme war nicht schon mit der Auszahlung an den Kläger zu 1) vollzogen, nachdem der notarielle Dauerwohnrechtsvertrag am 3. Juli 1965 abgeschlossen und das Dauerwohnrecht am 17. September 1965 im Grundbuch des Grundstücks der Kläger eingetragen worden war. Die Abfindungssumme wäre vielmehr erst mit dem Bezug der Wohnung, an der das Dauerwohnrecht bestellt worden war, bestimmungsgemäß verwendet gewesen.

Das zwischen der Beklagten und der Witwe G durch die Leistung der Abfindung begründete öffentliche Rechtsverhältnis wandelte sich mit dem Tod der Witwe G in einen gleichfalls dem öffentlichen Recht zugehörenden Erstattungsanspruch als der Kehrseite des Leistungsanspruchs. Denn nach § 611 Abs. 1 RVO ist die Abfindungssumme auf Anforderung des Trägers der Unfallversicherung zurückzuzahlen, soweit sie nicht innerhalb einer vom Träger der Unfallversicherung gesetzten Frist bestimmungsgemäß verwendet worden ist. Mit dem Tod der Witwe G stand fest, daß eine bestimmungsgemäße Verwendung der Abfindungssumme ohne Rücksicht auf die von der Beklagten zum Bezug der Wohnung im Haus der Kläger bis zum 30. September 1966 gesetzten Frist nicht mehr eintritt. Damit fiel gleichzeitig der Rechtsgrund für die Gewährung der Abfindung weg, und es entstand für die Beklagte der sich aus § 611 Abs. 1 RVO ergebende Rückforderungsanspruch. Zwar hat nach dieser Vorschrift in Verbindung mit § 614 Abs. 1 Satz 2 RVO "die Witwe" die Abfindungssumme zurückzuzahlen; entsteht jedoch der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch erst durch den Tod der Witwe, dann geht er mit dem Erbfall als Nachlaßverbindlichkeit auf den Erben über (§ 1922 BGB). Dabei braucht nicht entschieden zu werden, ob die Nachlaßverbindlichkeit eine Erblasserschuld ist (so Kilian in NJW 1962, 1279, 1282) oder ob es sich um eine Erbfallschuld (so Bettermann in DVBl 1961, 921, 922) handelt. Denn in beiden Fällen ändert sich der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch nicht dadurch, daß er im Wege der bürgerlich-rechtlichen Erbfolge auf den Erben als Gesamtrechtsnachfolger übergegangen ist; es kommt auf die Rechtsnatur des Anspruchs an und nicht auf den Inhaber (BSG 24, 190, 192, BVerwGE 37, 314, 317; BGH in MDR 1971, 553; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 7. Auflg. S. 190 g XII; 730 h). Diese Auffassung bildet beispielsweise auch die Grundlage der Vorschriften über die Sonderrechtsnachfolge in § 630 RVO. Für die Nachlaßverbindlichkeit des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruches haftet der Erbe (§ 1967 BGB), sofern er die Erbschaft nicht ausgeschlagen hat (§ 1953 BGB). Der Kläger zu 1) ist Alleinerbe der Witwe G - seiner Mutter - und hat die Erbschaft nicht ausgeschlagen. Er haftet somit für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch der Beklagten, den sie ihm gegenüber durch einen Verwaltungsakt geltend machen durfte.

Der Auffassung des LSG, daß bei der Abfindung als einer besonderen Form der Rentengewährung mit dem Tod des Berechtigten die Voraussetzung für die Gewährung der Abfindung wegfällt, wird in dieser allgemeinen Form nicht zugestimmt. Sofern die Abfindungssumme bestimmungsgemäß verwendet worden ist, besteht, wie der Gegenschluß aus § 611 Abs. 1 RVO ergibt, für den Abgefundenen keine Rückerstattungspflicht; sie kann in einem solchen Fall auch durch den Tod nicht entstehen.

Zu Unrecht fordert die Beklagte vom Kläger zu 1) jedoch die gesamte Abfindungssumme von 12.010,90 DM zurück.

Nach § 612 RVO beschränkt sich die Verpflichtung zur Rückzahlung der Abfindungssumme je nach dem Zeitpunkt der Rückzahlung auf einen festgesetzten Hundertsatz der Abfindungssumme. Diese Vorschrift gilt gemäß § 614 Abs. 1 Satz 2 RVO entsprechend für die Rückzahlung einer abgefundenen Witwenrente. Im Falle einer durch den Tod der Witwe entstandenen Rückzahlungspflicht ist Grundlage für die Berechnung der Höhe der Rückzahlung nach § 612 Abs. 1 Satz 2 RVO die Zeit vom Ersten des auf die Auszahlung der Abfindungssumme folgenden Monats bis zum Ende des Monats, in dem die Witwe gestorben ist. Ist die Abfindungssumme vor Ablauf des ersten Jahres zurückzuzahlen, sind nach § 612 Abs. 2 RVO zum Hundertsatz für die Rückzahlung nach Ablauf des ersten Jahres noch die Hundertsätze zu berücksichtigen, die der Anzahl der verstrichenen vollen Monate entsprechen. Sind beispielsweise vom Ersten des auf die Auszahlung der Abfindungssumme folgenden Monats bis zum Ende des Monats, in dem die Witwe gestorben ist, erst 6 volle Monate vergangen, dann beschränkt sich die Verpflichtung zur Rückzahlung auf 91 v.H. zuzüglich 6/12 von 9 v.H. der Abfindungssumme.

Da die Beklagte § 612 RVO bei der Rückforderung der Abfindungssumme nicht angewendet hat, war die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Abfindungssumme unter Berücksichtigung dieser Vorschrift zurückzuzahlen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669214

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