Verfahrensgang

SG Würzburg (Urteil vom 16.07.1975)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 16. Juli 1975 sowie die Bescheide der Beklagten vom 9. Mai 1974 und 21. November 1974 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Ehefrau des Klägers ist in dessen Betrieb als Verkäuferin beschäftigt. Nach Art. 4 § 2 des Zweiten Krankenversicherungs-Änderungsgesetzes (2. KVÄG) vom 21. Dezember 1970 (BGBl I 1770) ist sie antragsgemäß für dieses Beschäftigungsverhältnis von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung befreit worden.

Die Beklagte, bei der der Kläger freiwilliges Mitglied ist, weigert sich, vom 30. Juni 1974 an (Bescheid vom 9. Mai 1974 und Widerspruchsbescheid vom 21. November 1974) Familienhilfeleistungen für seine Ehefrau zu gewähren. Das Sozialgericht (SG) hat die auf die Aufhebung der vorgenannten Bescheide und die Feststellung des weiterhin bestehenden Familienhilfeanspruchs gerichtete Klage abgewiesen und ausgeführt: Das Bundessozialgericht –BSG– (BSGE 32, 13) habe einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts formuliert, daß beitragspflichtige Kassenmitglieder nicht den über den Familienhilfeanspruch gewährten Versicherungsschutz von Personen mit zu finanzieren hätten, die der Gesetzgeber auf den Weg der Selbstvorsorge verwiesen habe. Wenn die Ehefrau des Klägers die an sich eintretende Versicherungspflicht (Aufhebung des § 175 der Reichsversicherungsordnung –RVO– durch Art. 1 Nr. 3 des 2. KVÄG) für sich durch den Befreiungsantrag ausgeschlossen habe, so sei dies in der Überlegung geschehen, auf diesen Versicherungsschutz nicht angewiesen zu sein.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der durch das SG zugelassenen Sprungrevision, der die Beklagte zugestimmt hat. Er meint, der Fall der Befreiung sei nicht mit dem von dem BSG entschiedenen Fall der Versicherungsfreiheit wegen Überschreitens der Versicherungspflichtgrenze vergleichbar. Es bestehe kein überzeugender Grund, § 205 RVO in dem von dem SG befürworteten Sinne einzuschränken.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 30. Juni 1974 hinaus für seine Ehefrau Familienhilfeleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zur Begründung nimmt sie Bezug auf das angefochtene Urteil.

Die Beteiligten sind mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist begründet.

Entgegen der Meinung der Beklagten und des SG steht dem Anspruch auf Familienhilfe für die Ehefrau eines Versicherten nicht entgegen, daß diese sich von der Versicherungspflicht nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG hat befreien lassen. Es trifft nicht zu, daß der Gesetzgeber diese Personen auf den Weg der Selbstvorsorge verwiesen hat, so daß die „Mitversicherung” bei dem Ehegatten als damit in Widerspruch stehend beurteilt werden könnte.

Art. 4 § 2 des 2. KVÄG ist in Verbindung mit der Aufhebung des § 175 RVO zu sehen. Nach dieser Vorschrift begründete die Beschäftigung eines Ehegatten durch den anderen keine Versicherungspflicht. Mit dem Außerkrafttreten der genannten Vorschrift (aufgrund des Art. 1 Nr. 3 des 2. KVÄG) am 1. Januar 1971 (Art. 4 § 5 des 2. KVÄG) wurden die Ehegatten-Beschäftigungsverhältnisse wie die anderen Beschäftigungsverhältnisse nach § 165 Abs. 1 Nr. 1 und 2 RVO der Versicherungspflicht unterworfen. Damit war die Beitragspflicht und die Leistungsberechtigung nach eigenem Recht verbunden. Mit dem Eintritt der Versicherungspflicht entfiel aber auch der bisher bestehende Anspruch auf Familienhilfe über die Versicherung des Ehegatten, soweit dieser, obwohl Arbeitgeber, in der gesetzlichen Krankenversicherung – freiwillig – versichert war. Das ergibt sich aus § 205 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 RVO, wonach für diejenigen unterhaltsberechtigten Angehörigen keine Familienhilfe gewährt wird, die anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben.

Gegenüber dem bisherigen Rechtszustand konnte die Aufhebung des § 175 RVO im Einzelfall als Belastung empfunden werden. Art. 4 § 2 des 2. KVÄG hat erkennbar den Sinn, denjenigen Ehegatten – Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, den bisherigen Rechtszustand aufrechtzuerhalten, die den Eintritt der Versicherungspflicht trotz gleichbleibender Verhältnisse als für sich nachteilig beurteilen. Denn auf Antrag befreien lassen konnten sich lediglich Ehegatten, die bei ihrem Ehepartner bereits bei Eintritt der Versicherungspflicht beschäftigt waren, und die Befreiung beschränkte sich auf eben dieses Beschäftigungsverhältnis. Zu dem bisherigen Rechtszustand gehört als schützenswerter Besitzstand nicht nur die Beitragsfreiheit, sondern auch der Schutz des § 203 RVO, soweit er gegeben war.

Es besteht kein Anhalt dafür, die als Rechtswohltat gedachte Vorschrift des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG habe zur Folge, daß bisher gegebene Familienhilfeansprüche entfallen. Der Verlust des bisher ohne besondere Beitragsleistung gewährten Krankenschutzes infolge der Befreiung läßt sich weder aus dem Wortlaut des Art. 4 § 2 des 2. KVÄG herleiten noch ist er mit dem Charakter dieser Übergangsvorschrift als Besitzstandsschutzregelung zu vereinbaren.

Es ist zwar richtig, daß Art. 4 § 2 des 2. KVÄG auch der Gedanke zugrunde liegt, daß sich Ehegatte-Beschäftigte in der Zeit der Geltung des § 175 RVO vielfach privat ausreichend gegen Krankheit versichert hatten. Durch die Befreiung sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich einen erworbenen anderen Versicherungsschutz zu erhalten (vgl. Bundestags-Drucks. VI/1130 Anl. 2 Nr. 4 i.V.m. BT-Drucks. V/1047 und VI/1297). Das bedeutet aber nicht, daß der Gesetzgeber die Ehegatten-Beschäftigten ausschließlich auf eine solche Krankheitsvorsorge verwiesen hätte mit der Folge, daß der bisher gewährte Schutz des § 205 RVO entfällt, zumal der Gesetzgeber – im Gegensatz zu den Fällen der §§ 173 a bis c RVO – als Voraussetzung für die Befreiung nicht ein privates Versicherungsverhältnis mit Vertragsleistungen fordert, das der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entspricht. Der Familienhilfeanspruch könnte vielmehr gerade, wie der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 4. Juni 1975 in SozR 5420 § 32 KVLG Nr. 1 ausgeführt hat, im Einzelfall das Motiv für den Befreiungsantrag nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG gewesen sein. Im Unterschied zu denjenigen unterhaltsberechtigten Ehegatten, die als Angestellte wegen Überschreitens der Versicherungspflichtgrenze nach § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO versicherungsfrei sind, kann die Schutzbedürftigkeit der nach Art. 4 § 2 des 2. KVÄG Befreiten nicht wegen dieser Befreiung in Zweifel gezogen werden. Es ist kein Grund ersichtlich, sie im Hinblick auf ihren Befreiungsantrag nicht nur von der eigenen Versicherung freizustellen, sondern ihnen noch zusätzlich den Schutz über § 205 RVO zu nehmen.

Die Beklagte hat somit in den angefochtenen Bescheiden zu Unrecht die Feststellung getroffen, daß eine Leistungspflicht im Wege der Familienhilfe für die Ehefrau des Klägers nicht mehr bestehe. Mit der Aufhebung dieser Bescheide ist dem Rechtsschutzinteresse des Klägers genügt, denn die Aufhebung enthält die Feststellung, daß die Beklage nicht befugt ist, einen Verwaltungsakt gleichen Inhalts zu erlassen (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl., 21. Nachtrag § 141 Anm. 3 b bb S. II 257). Den zusätzlichen Feststellungsantrag – wie er vor dem SG gestellt wurde – bzw. den Verpflichtungsantrag – wie er vor dem BSG gestellt wird – faßt der Senat lediglich als klarstellende Äußerung auf. Eine teilweise Klageabweisung ist daher nicht geboten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926382

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