Entscheidungsstichwort (Thema)
Beginn der Rente bei Nachentrichtung
Leitsatz (redaktionell)
Jedenfalls dann, wenn der Versicherte die nachzuentrichtenden Beiträge nicht in angemessener Frist nach Erhalt des Bescheids über die Zulassung der Nachentrichtung gezahlt hat - hier: sie wurden erst nach Ablauf von 6 Monaten erbracht - und er überdies vom Versicherungsträger darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß sie innerhalb von 6 Monaten nach Erhalt des Bescheids zu erbringen waren, kann die erhöhte Rente nicht rückwirkend gezahlt werden.
Normenkette
WGSVG § 8 Fassung: 1970-12-22, § 10 Fassung: 1970-12-22; WGSVGÄndG Art. 4 § 2 Abs. 2 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 12.05.1976; Aktenzeichen L 6 J 175/75) |
SG Berlin (Entscheidung vom 05.09.1975; Aktenzeichen S 24 J 2298/72) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Mai 1976 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. September 1975 zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin führt als Rechtsnachfolgerin ihres am 1. Juni 1973 verstorbenen Ehemannes (Versicherter) ein von diesem eingeleitetes Verfahren fort. Unter den Beteiligten ist streitig, ob eine durch Nachentrichtung von Beiträgen gemäß §§ 9 und 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG) bedingte Erhöhung der Erwerbsunfähigkeitsrente des Versicherten ab 1. Mai 1971 oder ab 1. September 1972 zu zahlen ist.
Am 23. April 1971 beantragte der Versicherte bei der Beklagten die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach den Vorschriften des WGSVG und erklärte sich zur Zahlung weiterer Beiträge gemäß §§ 8 ff WGSVG bereit. Die Beklagte gab den Antrag zuständigkeitshalber an die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz zur weiteren Bearbeitung ab. Mit Bescheid vom 8. Februar 1972 entschied die LVA Rheinprovinz, der Versicherte sei nach Art. 1 §§ 9 und 10 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (NVÄndG) - Art. 1 dieses Gesetzes enthält eine Neufassung des WGSVG - berechtigt, sich ab 1. Februar 1971 in der Rentenversicherung der Arbeiter freiwillig weiterzuversichern; außerdem wurde für bestimmte im Bescheid angegebene Zeiten die Nachentrichtung von Beiträgen zugelassen. Ua heißt es dann in diesem Bescheid: "In Ihrem Interesse empfehlen wir Ihnen, die Beitragsentrichtung in angemessener Zeit - das sind höchstens 6 Monate nach Zustellung dieses Bescheides - vorzunehmen." Der Bescheid wurde am 8. Februar 1972 an den Bevollmächtigten des Versicherten abgesandt. Aus den Akten ergibt sich, daß dieser ihn am 10. Februar 1972 erhalten hatte.
Mit Schreiben vom 8. Mai 1972 fragte der Bevollmächtigte bei der LVA Rheinprovinz an, ob die Beitragsnachentrichtung bei ihr oder bei der Beklagten erfolgen solle. Mit Schreiben vom 3. Juli 1972 antwortete die LVA Rheinprovinz, sie sei bereit, die nachentrichteten Beiträge entgegenzunehmen, wenn diese jedoch von der Beklagten angenommen würden, betrachte sie die Angelegenheit als erledigt. Der Versicherte übersandte darauf der Beklagten am 18. August 1972 einen Verrechnungsscheck über 238,- DM für je einen Beitrag der Klasse 700 (zu 119,- DM) für die Monate Oktober und November 1951. Der Betrag wurde am 24. August 1972 bei der Beklagten verbucht.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 1972 berechnete die Beklagte die dem Versicherten bereits gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Einbeziehung der für Oktober und November 1951 nachentrichteten Beiträge neu und gewährte die dadurch erhöhte Rente vom 1. September 1972 an. Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin, nachdem anstelle des Versicherten dessen Ehefrau als Rechtsnachfolgerin getreten war, mit Urteil vom 5. September 1975 abgewiesen. Nach der in diesem Urteil getroffenen Kostenentscheidung hatte unter den Beteiligten keine Kostenerstattung zu erfolgen. Einen Antrag auf Ergänzung der Kostenentscheidung nach § 140 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG mit Beschluß vom 28. November 1975 zurückgewiesen. Mit der gegen das Urteil des SG von der Klägerin eingelegten Berufung hat diese zusätzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, einen Bescheid auf den Antrag vom 23. April 1971 auf Zulassung zur Beitragsnachentrichtung zu erteilen. Insoweit hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin die Berufung als unzulässig verworfen. Im übrigen hat es mit Urteil vom 12. Mai 1976 die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG vom 5. September 1975 und des Beschlusses des SG vom 28. November 1975 und unter Änderung des Bescheids der Beklagten vom 15. Dezember 1972 verurteilt, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes die diesem infolge der Beitragsnachentrichtung bewilligte erhöhte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits vom 1. Mai 1971 an zu gewähren. Außerdem wurde entschieden, daß die Beklagte der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten habe. Das LSG ist der Ansicht, die Nachzahlung habe dem Versicherten bereits vom 1. Mai 1971 zugestanden, nachdem sich dieser im April 1971 zur Nachentrichtung der Beiträge bereit erklärt gehabt habe und danach in entsprechender Anwendung des § 1420 Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) innerhalb einer "angemessenen Frist" vorgenommen habe. Diese Frist werde als unbestimmter Rechtsbegriff von dem beteiligten Versicherungsträger in Auslandsfällen regelmäßig mit 6 Monaten nach Zulassung zur Nachentrichtung bemessen. So handhabe es auch die Beklagte und so erkenne sie es auch im vorliegenden Falle an. Darin liege eine Selbstbindung des Versicherungsträgers, der der Versicherte entsprochen habe. Nach Auffassung des LSG reicht es zu dieser Fristwahrung aus, daß der Versicherte in dem Monat gezahlt hat, in dem die als angemessen "empfohlene" Frist abgelaufen sei. Der Versicherte habe also für den Beginn der höheren Rente noch bis zum Ablauf des vollen 6. Monats nach Erteilung des Bescheids vom 8. Februar 1972 rechtzeitig nachentrichten können und habe dies am 18. August 1972 auch getan. Deshalb stehe ihm die höhere Rente bereits ab 1. Mai 1971 zu. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits hat das LSG die Revision zugelassen.
Zur Begründung der von ihr eingelegten Revision trägt die Beklagte vor, Art. 4 § 2 Abs. 2 NVÄndG normiere in eindeutiger Weise, daß in Fällen des Art. 1 §§ 8 und 10 NVÄndG die höhere Rente frühestens vom 1. d. M. an, der auf die Beitragsnachentrichtung folge, im übrigen frühestens vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an zu zahlen sei. Im vorliegenden Fall sei aber die Beitragszahlung nicht einmal binnen angemessener Frist nach der Erteilung der Erlaubnis zur Nachentrichtung vorgenommen worden. Der Kläger habe die Empfehlung der LVA Rheinprovinz nicht befolgt, die Beitragsnachentrichtung in angemessener Zeit - das seien höchstens 6 Monate nach Zustellung des Bescheids vom 8. Februar 1972 - vorzunehmen. Deshalb könne ihm die erhöhte Rentenleistung erst vom 1. des der Beitragsnachentrichtung folgenden Monats, dh ab 1. September 1972 und nicht bereits ab 1. Mai 1971 gezahlt werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Mai 1976 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 5. September 1975 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Mai 1976 zurückzuweisen.
Nach dem Vorbringen der Klägerin zahlen sämtliche Versicherungsträger bei derartigen Beitragsnachentrichtungen die sich daraus ergebende höhere Rente vom 1. d. M. nach dem Antrag auf Beitragsnachentrichtung an, wenn der Versicherte nach Stattgabe seines Antrages die Beiträge in angemessener Frist erbringt. Diese Handhabung werde auch in Urteilen des ersten Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Februar 1975 und 1. Oktober 1975 gebilligt. Der Kläger habe die Beiträge in angemessener Zeit nachentrichtet. Der Antrag auf Zulassung der Beitragsnachentrichtung sei im April 1971 gestellt worden, die LVA Rheinprovinz habe hierüber erst mit Bescheid vom 8. Februar 1972 entschieden. Sie hätte aber gemäß § 88 SGG hierüber binnen eines halben Jahres, also bis Oktober 1971, entscheiden müssen. Wenn durch die Versicherungsträger gesetzlich normierte Fristen um mehr als 3 Monate überschritten würden, so sei es rechtsmißbräuchlich und dolos, wenn sich diese hinsichtlich einer nicht konkret bestimmten, sondern nur empfohlenen Zahlungsfrist darauf beriefen, diese Frist sei um einige Tage überschritten. Der Kläger beantragt deshalb noch zusätzlich, der Beklagten gemäß § 192 SGG besondere Kosten aufzuerlegen. Im übrigen habe eine "angemessene Frist" zur Einzahlung der nachzuentrichtenden Beiträge auch deshalb nicht zu laufen begonnen, weil Unklarheit darüber bestanden habe, ob die Nachzahlung an die Beklagte oder an die LVA Rheinprovinz, welche die Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung ausgesprochen habe, zu zahlen gewesen sei.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Nach Art. 4 § 2 Abs. 2 NVÄndG vom 22. Dezember 1970 (BGBl I, 1846) ist in Fällen des Art. 1 §§ 8 und 10 dieses Gesetzes die höhere Rente frühestens vom 1. des Monats an, der auf die Beitragsnachentrichtung folgt, im übrigen frühestens vom Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Februar 1971) an zu zahlen. Hiernach wäre die erhöhte Rente - wie geschehen - ab 1. September 1972 zu zahlen. Auch hinsichtlich von Beiträgen, die nach Art. 2 § 50 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) und nach Art. 2 § 52 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) nachentrichtet worden sind, hat das BSG eine Anrechnung der nachentrichteten Beiträge auf Renten erst vom Beginn des Monats der Nachentrichtung an für möglich angesehen (vgl. BSG 21, 193, 198 = SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 52 ArVNG und SozR Nr. 13 zu Art. 2 § 52 ArVNG).
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kann es dahingestellt bleiben, ob die genannte gesetzliche Regelung es nach der Rechtsprechung des BSG in den Urteilen vom 6. Februar 1975 und vom 1. Oktober 1975 - 1 RA 127/74 und 1 RA 7/75 - nicht ausschließt, die Rente rückwirkend vom 1. des Monats nach dem Antrag auf Beitragsnachentrichtung zu zahlen, wenn sich der Antragsteller - wie im vorliegenden Fall - mit der Antragstellung zur Nachentrichtung von Beiträgen bereiterklärt hat und die Beiträge in angemessener Zeit nach der Entscheidung über den Antrag auf Zulassung der Nachentrichtung entrichtet worden sind. Der Versicherte hat im vorliegenden Fall nicht in angemessener Zeit nachentrichtet. Mit Recht ist die Beklagte davon ausgegangen, daß dies nicht der Fall ist, weil die nachentrichteten Beiträge erst später als 6 Monate nach der Zustellung des Bescheids über die Zulassung der Nachentrichtung gezahlt worden sind, zumal der von der LVA Rheinprovinz erteilte Bescheid vom 8. Februar 1972 die Empfehlung enthielt, die Beitragsentrichtung in angemessener Zeit - das seien höchstens 6 Monate nach der Zustellung des Bescheids - vorzunehmen. Wenn dennoch erst nach Ablauf von 6 Monaten gezahlt wurde, so ist damit auch unter Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes des Versicherten die Grenze überschritten, die ein sorgfältig und aufmerksam handelnder Mensch unter den Umständen des Einzelfalles eingehalten hätte (vgl. hierzu auch SozR Nr. 3 zu § 1420 RVO). Eine angemessene Frist ist keine feste Frist, sie kann daher auch nicht - wie das LSG meint - nach den Grundsätzen bestimmt werden, nach denen feste Fristen, zB Verjährungsfristen oder prozessuale Fristen, zu berechnen sind.
Der Versicherte kann sich auch nicht darauf berufen, daß er nach der Erteilung des Bescheids über die Berechtigung der Nachentrichtung nicht gewußt habe, an welchen Versicherungsträger er zahlen sollte, denn auch für einen rechtsunkundigen Versicherten bot es sich an, ohne Rückfrage an denjenigen Versicherungsträger zu zahlen, der die Erlaubnis zur Nachentrichtung erteilt hatte.
Für die Entscheidung ist es auch ohne Bedeutung, ob die LVA Rheinprovinz über den Antrag des Versicherten auf Nachentrichtung schneller hätte entscheiden können und daß kein hinreichender Grund dafür vorlag, daß der Bescheid nicht binnen einer Frist von 6 Monaten nach Antragstellung erlassen war, so daß eine Untätigkeitsklage nach § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfolgreich gewesen wäre. Hierin kann jedenfalls kein Grund dafür gesehen werden, die Beiträge erst nach Ablauf einer angemessenen Zeit nach Erhalt des Bescheids der LVA Rheinprovinz vom 8. Februar 1972 nachzuentrichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es besteht keine Veranlassung, der Beklagten, wie vom Kläger beantragt, besondere Kosten aufzuerlegen.
Fundstellen