Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter löst sich nicht im Rechtssinne von seinem bisherigen - erlernten Beruf, wenn er ihn aufgeben muß, weil er wegen eines körperlichen oder geistigen Mangels iS des BergPolO § 308 Abs 1 sich oder andere gefährdet.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; BergPolO § 308 Abs. 1 Fassung: 1935-05-01

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Mai 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs 1 Nr 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zusteht.

Der im Jahre 1921 geborene Kläger, der im September 1949 die Hauerprüfung abgelegt hatte, war in diesem Beruf mit einer kurzen Unterbrechung bis Juli 1960 tätig. Danach war er bis zum 23. Mai 1973 Rangierer. Er wurde seit dem 1. Oktober 1960 als erster Rangierer und seit dem 1. Juni 1971 als Rangierer 1 geführt. Seit dem 5. März 1974 ist er als Kauenwärter tätig. Er wird seit dem 1. Juni 1974 als angelernter Handwerker geführt.

Die Beklagte lehnte den am 14. August 1973 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 15. März 1974 ab, weil der Kläger nicht vermindert bergmännisch berufsfähig sei. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 30. Mai 1975 den Bescheid der Beklagten vom 15. März 1974 und den Widerspruchsbescheid geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Bergmannsrente vom 1. Juni 1973 an zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 11. Mai 1976 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Ansicht vertreten, "bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit" des Klägers sei die Hauertätigkeit. Von dieser Tätigkeit habe der Kläger sich nicht freiwillig gelöst, sondern aus Gründen, für die die knappschaftliche Rentenversicherung ihrem Wesen nach einzustehen habe. Der Kläger habe in der Zeit von Mai 1959 bis Februar 1960 fünf Unfälle erlitten, die jeweils Zeiten der Arbeitsunfähigkeit von unterschiedlicher Dauer zur Folge gehabt hätten. Diese Unfälle hätten zur Herausnahme des Klägers aus dem Untertagebetrieb der Zeche R. M. geführt. Dieser betrieblichen Anordnung habe sich der Kläger nicht widersetzen können. Er habe zwar danach auf einer Kleinzeche die Gedingearbeit wiederaufgenommen, jedoch hätten sich in kürzester Zeit drei weitere Unfälle ereignet, so daß ihm die Kündigung nahegelegt worden sei. Die Unfallanfälligkeit des Klägers sei einem körperlichen oder geistigen Mangel iS des § 308 Abs 1 der seinerzeit gültig gewesenen Bergpolizeiverordnung für die Steinkohlenbergwerke im Verwaltungsbezirk des Oberbergamts D vom 1. Mai 1935 (BPVO) gleichzuerachten. Eine solche unfreiwillige Aufgabe der qualifizierten Berufstätigkeit sei einer Aufgabe des Hauptberufs aus zwingenden gesundheitlichen Gründen mindestens gleichzustellen. Der Kläger könne auf eine im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht mehr verwiesen werden. Unter Tage sei er nicht mehr einsatzfähig. Über Tage seien der Hauertätigkeit lediglich die Lohngruppen 05 und höher im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig. Davon schieden aber alle Vorarbeitertätigkeiten, die Arbeiten der gelernten Handwerker, die anerkannten Anlernberufe sowie die qualifizierten Maschinistentätigkeiten und auch die Tätigkeiten eines Laboratoriumshelfers, Probenehmers 2 und Stellwerkswärters aus, weil der Kläger nicht die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten habe. Als Probenehmer 1 könne der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten. Die Tätigkeit eines Instrumentenablesers sei in der Lohnordnung nicht aufgeführt und scheide daher aus. Die Tätigkeiten eines Verwiegers 1 und Maschinenwärters, die der Kläger noch verrichten könnte, seien dem Hauerberuf gegenüber nicht qualitativ gleichwertig. Die Entlohnung des Klägers nach der Lohngruppe 06 schließe die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit ebenfalls nicht aus, auch wenn sie nach Ansicht des Arbeitgebers tariflich vertretbar sei. Der Kläger sei tatsächlich als Kauenwärter in der Jugendkaue eingesetzt. Neben den üblichen Arbeiten (Reinigungsarbeiten, Bedienung der Wasserzufuhr und Aufsicht während des Schichtwechsels) habe er zusätzlich die dort anfallenden einfachen handwerklichen Arbeiten im Waschkauenbereich (Instandhaltung der Rollen und Ketten, einfache Installationsarbeiten, Beseitigung von Verstopfungen) übernommen. Diese Tätigkeiten erforderten aber keine besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten, so daß ein Hauer darauf nicht verwiesen werden könne.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, es sei von der Tätigkeit eines Rangierers auszugehen, weil der Kläger sich von der Hauertätigkeit gelöst habe. Das LSG habe das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und seine Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es unterlassen habe, die vorhandene Zeugenaussage kritischer zu würdigen, den Zeugen zu vereidigen und weitere Beweise zu den Gründen des Arbeitsplatzwechsels des Klägers zu erheben. Das LSG hätte auch die Ursache der häufigen Unfälle aufklären müssen. Im übrigen schließe die Unfallhäufigkeit die rechtlich erhebliche Lösung von der Hauertätigkeit nicht aus, denn der Kläger sei auch nach Aufgabe der Hauertätigkeit fähig geblieben, diese Arbeit zu verrichten. Gehe man aber von der Tätigkeit eines Rangierers aus, so könne der Kläger noch auf die Tätigkeiten eines Lampenwärters, Magazinarbeiters, Hilfsarbeiters im Büro und im Magazin verwiesen werden. Der Kläger sei schließlich aber auch dann nicht vermindert bergmännisch berufsfähig, wenn man von der Hauertätigkeit ausgehe, denn er verrichte als angelernter Handwerker eine Tätigkeit, auf die auch ein Hauer verwiesen werden könne.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen;

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil zurückgewiesen. Der Kläger ist nach § 45 Abs 2 RKG vermindert bergmännisch berufsfähig und hat daher nach § 45 Abs 1 Nr 1 RKG einen Anspruch auf die Bergmannsrente.

Das LSG hat zutreffend angenommen, "bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit" des Klägers sei die Hauertätigkeit. Der Kläger hat diese Tätigkeit nach Ablegung der Hauerprüfung mehr als 10 Jahre lang ausgeübt. Durch die Aufgabe dieser Arbeit im Jahre 1960 und die Aufnahme der Tätigkeit als Rangierer hat er sich im Rechtssinne vom Hauerberuf nicht gelöst. Bei Aufgabe der Hauertätigkeit hatte der Kläger zwar möglicherweise noch nicht die gesundheitliche Fähigkeit verloren, diesen Beruf weiterhin auszuüben. Die in der Unfallhäufigkeit zum Ausdruck kommende Unfallanfälligkeit des Klägers ist aber nach Ansicht des Berufungsgerichts einem körperlichen oder geistigen Mangel im Sinne des § 308 Abs 1 der BPVO gleichzuerachten, so daß der Kläger nicht mehr als Hauer weiter beschäftigt werden durfte. Soweit sich die Beklagte mit ihrer Revision gegen diese Rechtsansicht des LSG wendet, kann sie schon deshalb keinen Erfolg haben, weil nach § 162 SGG die Revision nicht auf eine Verletzung der BPVO gestützt werden kann. Die Rechtsvorschriften der BPVO für die Steinkohlenbergwerke im Verwaltungsbezirk des Oberbergamts in D vom 1. Mai 1935 in der im Jahre 1960 gültig gewesenen Fassung vom 1. Juli 1953 galten nur im Bezirk des Oberbergamts D und damit lediglich im Land Nordrhein-Westfalen, erstreckten ihren Geltungsbereich also nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Die Rechtsnormen der BPVO sind daher iS des § 162 SGG nicht revisibel (vgl BSGE 3, 171, 175), so daß das Revisionsgericht von der Auslegung und Anwendung durch das LSG ausgehen muß. Ist die Aufgabe der Hauertätigkeit und die Aufnahme einer anderen knappschaftlichen Arbeit aber darauf zurückzuführen, daß der Versicherte die bisherige knappschaftliche Arbeit aus Gründen nicht mehr verrichten kann, die einem körperlichen oder geistigen Mangel iS des § 308 Abs 1 BPVO gleichstehen, so hat er sich nicht in rechtlich erheblicher Weise von der bisherigen knappschaftlichen Arbeit gelöst. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß ein Versicherter trotz bestehender Befähigung von medizinischem Standpunkt aus im Sinne des § 35 RKG alter Fassung nicht mehr zur Verrichtung von Arbeiten unter Tage imstande ist, wenn er nach § 308 Abs 3 BPVO nicht unter Tage beschäftigt werden darf (vgl BSGE 3, 171, 175; 14, 207, 211). Das gleiche muß auch für die Gründe des § 308 Abs 1 BPVO gelten. Zwar steht bei dem Beschäftigungsverbot nach § 308 Abs 3 BPVO die gesundheitliche Gefährdung des einzelnen Arbeitnehmers im Vordergrund, während bei dem Beschäftigungsverbot nach § 308 Abs 1 BPVO neben der Eigengefährdung auch die Gefährdung anderer bedeutsam ist. Darin liegt für die Lösung vom Hauptberuf jedoch kein wesentlicher Unterschied. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann ein Versicherter nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden, wenn er nicht den Sicherheitsanforderungen entspricht (vgl BSGE 20, 241). Kann der Versicherte aber trotz weiterbestehender Befähigung aus medizinischer Sicht aus Sicherheitsgründen auf eine Tätigkeit nicht mehr verwiesen werden, so kann er sich durch die Aufgabe dieser Tätigkeit nicht in rechtlich erheblicher Weise von ihr lösen.

Die Rüge der Beklagten, das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und seine Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es unterlassen habe, die vorhandene Zeugenaussage kritischer zu würdigen, den Zeugen zu vereidigen und weitere Beweise zu den Gründen des Arbeitsplatzwechsels des Klägers zu erheben, ist nicht begründet. Das LSG hielt sich im Rahmen der ihm nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung, wenn es aufgrund der erhobenen Beweise annahm, daß der Kläger wegen der Unfallhäufigkeit als unfallgefährdet galt und daher nicht den Sicherheitsvorschriften entsprach. Es brauchte den Zeugen nach § 118 Abs 2 SGG auch nicht zu vereidigen. Schließlich brauchte das LSG unter Berücksichtigung der nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung auch keinen weiteren Beweis über die Gründe des Arbeitsplatzwechsels zu erheben. Da für das LSG bereits feststand, daß in der Unfallhäufigkeit eine besondere Unfallgefährdung und damit aus Sicherheitsgründen eine Ungeeignetheit für die Tätigkeit zum Ausdruck kam, brauchte es nicht noch weiter nachzuforschen, welcher Art die Unfälle waren und auf welchen Ursachen sie beruhten.

Geht man danach von der Hauertätigkeit aus, so kann der Kläger auf die Tätigkeiten, zu deren Verrichtung er nach den insoweit unangegriffenen und für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG noch in der Lage ist, nicht verwiesen werden. Der erkennende Senat hat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung wegen der veränderten Verhältnisse insbesondere in der Lohnentwicklung entschieden, daß im Sinne des § 45 Abs 2 RKG im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig nur solche Tätigkeiten sind, bei denen die Differenz zwischen dem Tariflohn des Hauptberufs und dem der Verweisungstätigkeit bis zu etwa 12,5 vH beträgt (Urteil vom 30. März 1977 - 5 RKn 13/76 -). Bei solchen Hauern, die ihre Tätigkeit vor dem 1. Juni 1971 aufgegeben haben, ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats von der Lohngruppe 10 auszugehen (vgl SozR 2600 Nr 4 zu § 45). Im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig sind daher nur die Tätigkeiten bis abwärts zur Lohngruppe 07, bei der die Lohndifferenz zur Lohngruppe 10 in der streitigen Zeit stets weniger als 12,5 vH betragen hat. Die Lohndifferenz zwischen der Lohngruppe 10 und der Lohngruppe 06 beträgt mehr als 15 vH, so daß die Tätigkeiten der Lohngruppe 06 für eine Verweisung ausscheiden. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob es sich bei der vom Kläger tatsächlich ausgeübten und nach der Lohngruppe 06 entlohnten Tätigkeit um eine solche von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten handelt. Nach den unangegriffenen und insoweit für den Senat bindenden Feststellungen des LSG kann der Kläger von den in den Lohngruppen 07 aufwärts enthaltenen Tätigkeiten allenfalls die eines Verwiegers 1 verrichten. Diese Fähigkeit schließt jedoch die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit nicht aus, weil es sich nicht um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten im Sinne des § 45 Abs 2 RKG handelt. Die Tätigkeit eines Verwiegers 1 gehört zu den ungelernten Tätigkeiten, die keine besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten und weder eine Ausbildung noch eine Anlernung, sondern lediglich eine Einweisung und Einarbeitung erfordert. Zwar ragt die Tätigkeit eines Verwiegers, die vor dem 1. Juni 1971 in der Lohngruppe III enthalten war, wegen der damit verbundenen Verantwortung und der erforderlichen Zuverlässigkeit aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervor, so daß ein Hauer im Rahmen des § 46 Abs 2 RKG darauf verwiesen werden kann (vgl BSGE 11, 206, 208). Eine ungelernte Tätigkeit, die an der unteren Grenze der Verweisungsberufe bei der Berufsunfähigkeit steht, kann aber nicht geeignet sein, die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit auszuschließen, zumal es sich bei der Tätigkeit eines Verwiegers 1 um die geringerwertige der ursprünglich gemeinsam in der Lohngruppe III befindlichen Verwiegertätigkeiten handelt.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 7

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