Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit eines Melkers
Orientierungssatz
Es ist die Tätigkeit konkret zu bezeichnen, auf die ein langjährig als Melker tätiger verwiesen werden kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.04.1978; Aktenzeichen L 2 J 193/77) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 15.07.1977; Aktenzeichen S 12 J 550/76) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. April 1978 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1929 geborene Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er war von 1944 bis 1946 als Melker im väterlichen Betrieb beschäftigt, übte danach bis 1961 verschiedene Tätigkeiten in der Landwirtschaft sowie als Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter aus und arbeitete von 1962 bis Mai 1975 als Melker. Insbesondere wegen einer Haltungsanomalie sowie Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, wegen Bronchitis, eines Emphysems sowie linksseitiger Sehschwäche kann er nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) keine mit dem Heben und Tragen von Lasten oder häufigem Bücken verbundenen Tätigkeiten sowie Arbeiten unter Zeitdruck mehr verrichten, er soll sich auch weder Kälte, Nässe und Zugluft noch starken Temperaturschwankungen aussetzen, ist sonst jedoch in der Lage, mindestens leichte Männerarbeit vollschichtig auszuüben.
Den im Dezember 1975 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 22. November 1976). Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die auf Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Juli 1977), das LSG Niedersachsen die Berufung zurückgewiesen und im Urteil vom 12 April 1978 ausgeführt:
Auch wenn man unterstelle, daß der Kläger wegen langjähriger Tätigkeit als Melker den Berufsschutz eines Facharbeiters genieße, müsse er sich auf berufsfremde, sogar ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen, sofern sich diese durch besondere Qualifikation aus den sonstigen ungelernten Tätigkeiten hervorhöben (Hinweis auf SozR Nr 107 zu § 1246; Urteil vom 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 -; Beschluß vom 3. Januar 1978 - 4 BJ 159/77 -). Die in vielen Wirtschaftsbereichen üblichen und von den jeweiligen Tarifverträgen erfaßten Prüfungs-, Kontroll- und ähnlichen Tätigkeiten könnten je nach Gestaltung des Arbeitsplatzes niedrig eingestuft, aber auch wie ein anerkannter Ausbildungsberuf bewertet sein. Es gebe keinen Erfahrungssatz, daß sich ein 48jähriger Melker in eine solche Tätigkeit eines Fertigungsbetriebes nicht mehr einarbeiten könne.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger, die Vorinstanz habe übersehen, daß sein Leistungsvermögen außer auf leichte Arbeiten noch erheblich weiter eingeschränkt sei insofern, als nur staubfreie Räume mit entsprechender Belüftung in Betracht kämen. Danach verbleibe nur ein kleiner Kreis von Verweisungstätigkeiten mit Anforderungen an die geistige Beweglichkeit hinsichtlich der Umschulung. Auch habe es das LSG unterlassen, die Tätigkeiten auf ihre Qualität hin anhand von Tarifverträgen zu prüfen. Zudem müßten seine wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Die Zeit seiner Arbeitslosigkeit lasse vermuten, daß er auch künftig keinen Arbeitsplatz finden werde. Bei einem Umzug in ein Industriegebiet müßte er überdies sein Eigenheim ohne die Möglichkeit gleichwertigen Ersatzes verkaufen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit seit 1. Januar 1976 zu gewähren.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG genügen nicht, um entscheiden zu können, ob der Kläger berufsunfähig ist (§ 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Das LSG hat den Kläger nicht für fähig gehalten, noch im "langjährig ausgeübten Beruf eines Melkers" tätig zu sein, ohne daß gegen diese Feststellung Einwände erhoben worden sind. Es hat weiter ausgeführt, der Kläger müsse sich aber auf andere zumutbare Tätigkeiten verweisen lassen, mit denen er die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne. Dies dürfte dahin aufzufassen sein, daß das Berufungsgericht die Melkertätigkeit als den "bisherigen Beruf" (Hauptberuf) des Klägers iS des § 1246 Abs 2 RVO angesehen hat. Ob der Kläger berufsunfähig ist, hängt somit davon ab, welche Tätigkeiten, die (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen, ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können" (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO).
Das Berufungsgericht hat aber die Qualität des bisherigen Berufs nicht näher untersucht, sondern auch für den Fall, daß man den Berufsschutz eines Facharbeiters unterstellt, Berufsunfähigkeit verneint. Diese Schlußfolgerung läßt sich indessen mit den getroffenen Feststellungen allein nicht begründen. Zwar können nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Facharbeiter nicht nur auf Tätigkeiten eines "angelernten" Arbeiters, sondern auch auf ungelernte Arbeiten verwiesen werden; dies aber nur, sofern sich solche Tätigkeiten aufgrund besonderer Merkmale - etwa durch eine Vertrauensstellung oder besondere Verantwortung - aus dem Kreis sonstiger einfacher Arbeiten herausheben (zB BSGE 19, 57; SozR Nrn 4, 35 zu § 1246 RVO; BSGE 41, 129, 134; SozR 2200 § 1246 Nrn 17 und 21; Urteile des Senats vom 29. April 1976 - 4 RJ 87/75 -, 19. Oktober 1977 - 4 RJ 141/76 - und 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 -). Das gilt jedenfalls für solche ungelernten Tätigkeiten, die wegen ihrer Qualität tariflich wie sonstige Ausbildungsberufe eingestuft sind (vgl Urteil des Senats vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 103/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 25). Auch der 1. Senat des BSG bezieht neben dem 5. Senat in erster Linie diejenigen Tätigkeiten ein, die wegen ihres qualitativen Wertes für den Betrieb wie ein sonstiger Ausbildungsberuf tariflich eingestuft sind; er meint, bei der Prüfung von Verweisungstätigkeiten werde die Tatsacheninstanz auf die Heranziehung von Tarifverträgen nicht verzichten können (Urteil vom 15. März 1978 - 1/5 RJ 128/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 29).
Hinsichtlich der subjektiven Zumutbarkeit von Überwachungs-, Kontroll- und ähnlichen Arbeiten kann sich das LSG nicht lediglich auf das Urteil des Senats vom 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 - berufen. Wenn auch dort unter Hinweis auf eine frühere Entscheidung des BSG (SozR Nr 107 zu § 1246 RVO) gesagt ist, die sich aus der Mechanisierung und Automation des Arbeitsprozesses ergebenden Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten höben sich aus dem Niveau der einfachen ungelernten Arbeiten heraus und seien Facharbeitern zumutbar, so sollte doch damit, worauf der Senat bereits mit Urteilen vom 20. Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 - und 28. März 1979 - 4 RJ 11/78 - hingewiesen hat, keine undifferenzierte, gleichsam pauschale Verweisung ohne nähere Prüfung und substantiierte Feststellungen gebilligt werden. Denn berufliche und gesundheitliche Voraussetzungen für das weite Feld der Kontroll- und Überwachungsarbeiten sind je nach der Art der zu kontrollierenden Gegenstände, der zu überwachenden Vorgänge und überhaupt der Gestaltung der jeweiligen Tätigkeit zu unterschiedlich hoch und dementsprechend verschieden bewertet und entlohnt, als daß mit ständig wiederholten allgemeinen Formeln ein ganzer Komplex von Tätigkeiten als beruflich zumutbar genannt werden könnte (vgl auch Urteil des 5. Senats vom 28. November 1978 - 5 RKn 10/77 - sowie Urteil des Senats vom 28. November 1978 - 4 RJ 127/77 -).
Die Umstände dieses Rechtsstreits geben besonderen Anlaß zur konkreten Prüfung der Tätigkeiten, auf die verwiesen werden soll. Es fragt sich nämlich, ob der Kläger, der bisher nahezu ausschließlich im landwirtschaftlichen Bereich und anscheinend weder in der technischen Fertigung noch im Handwerk beschäftigt gewesen ist, die Eignung und Befähigung für die vom Berufungsgericht ins Auge gefaßten Tätigkeiten mitbringt. Dem kann nicht schon, wie im angefochtenen Urteil geschehen, mit dem Fehlen eines Erfahrungssatzes begegnet werden, daß ein 48jähriger Melker zur Einarbeitung in entsprechende Tätigkeiten in Fertigungsbetrieben nicht mehr in der Lage sei. Eng mit den Fragen der beruflichen Eignung und Umstellung hängt zusammen, daß der Kläger aufgrund der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nur noch eingeschränkt einsatzfähig ist. Das LSG hat zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig für zumutbar gehalten und sich hierbei ua auf den Orthopäden Dr. B berufen, der in seinem Gutachten vom 18. August 1976 aber - anscheinend nur - Arbeiten im häufigen Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen als zumutbar ansah. Darüber hinaus macht der Kläger geltend, wegen seiner Bronchitis kämen nur Arbeiten in staubfreien, gut belüfteten Räumen in Betracht - Einschränkungen, die in etwa auch das LSG genannt hat und die möglicherweise neben dem Verbot von Arbeiten unter Zeitdruck die Verweisungsbreite für Kontrolltätigkeiten zusätzlich einengen. Das gilt auch für die erwähnte linksseitige Sehschwäche (teilweise in Gutachten als praktische Blindheit des linken Auges bezeichnet); sie dürfte Arbeiten die räumliches Sehen erfordern, ausschließen und könnte bei manchen Prüf- und Kontrolltätigkeiten zumindest hinderlich sein.
Das LSG wird nunmehr die noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Diese dürften sich aber nicht in Ermittlungen bezüglich der Kontroll- und Überwachungstätigkeiten erschöpfen, falls der Kläger in diesem Bereich als nicht mehr einsatzfähig angesehen werden müßte. Das LSG wird zweckmäßigerweise zunächst den Vorgang hinsichtlich der beabsichtigten Berufsförderungsmaßnahmen beiziehen und möglicherweise schon daraus Hinweise auf geeignete und dem Kläger zumutbare Tätigkeiten entnehmen können. Finden sich derartige Tätigkeiten nicht, läge Berufsunfähigkeit nur vor, wenn der "bisherige Beruf" des Klägers als Facharbeiterberuf zu werten wäre; die Beantwortung dieser Frage darf dann nicht mehr offenbleiben. Im übrigen kommt entgegen der Ansicht des Klägers bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit grundsätzlich nicht nur der Arbeitsmarkt im näheren oder weiteren Wohnbereich in Betracht (SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 22).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen