Entscheidungsstichwort (Thema)
Bescheidrücknahme nach § 1 Abs 3 S 3 BVG. Ermessen. Rückwirkung. Zeitablauf
Leitsatz (amtlich)
1. Auch die besondere Ermächtigung der Versorgungsverwaltung, Verwaltungsakte zurückzunehmen, in denen eine Gesundheitsstörung unzweifelhaft zu Unrecht als Folge einer Schädigung anerkannt worden ist, wird durch die Pflicht zur Ermessensausübung eingeschränkt.
2. Die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung von inhaltlicher Richtigkeit und Rechtssicherheit geschieht hier im Rahmen des Ermessens; die Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB 10 sind als Ermessensgesichtspunkte beachtlich (Ergänzung von BSG vom 13.5.1987 - 9a RVi 4/85 = BSGE 61, 295 = SozR 3100 § 1 Nr 38).
Orientierungssatz
Die Versorgungsverwaltung hat bei der Rücknahme von Bescheiden nach § 1 Abs 3 S 3 BVG das Abwägungsgebot des § 45 Abs 2 SGB 10 und die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 SGB 10 im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu beachten.
In aller Regel wird zehn Jahre nach der Anerkennung von Schädigungsfolgen aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit die Ermessensentscheidung nur noch gegen die Aufhebung ausfallen dürfen (vgl für die Aufhebung bei Änderung der tatsächlichen Verhältnisse die 10-Jahresfrist in § 62 Abs 3 BVG). Das gilt um so mehr, wenn lediglich neue Erkenntnisse die Rechtswidrigkeit des Anerkennungsbescheides belegen und dem Begünstigten kein mitwirkendes Verschulden vorzuwerfen ist.
Normenkette
BVG § 1 Abs 3 S 3; SGB 10 § 45 Abs 2; SGB 10 § 45 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.01.1987; Aktenzeichen L 6 V 244/85) |
SG Köln (Entscheidung vom 06.11.1985; Aktenzeichen S 14 V 387/82) |
Tatbestand
Der Streit der Beteiligten betrifft die Anwendung von § 1 Abs 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), eingefügt durch Art II § 15 Nr 2 Buchst b des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I 1469, 2218).
Beim Kläger sind seit dem Bescheid vom 13. November 1948 krampfartige Schmerzanfälle in der linken Stirnseite als Schädigungsfolgen anerkannt. Im Laufe eines Klageverfahrens nahm der Beklagte mit Bescheid vom 25. Juli 1984 unter Bezug auf § 1 Abs 3 Satz 3 BVG die Anerkennung der Gesundheitsstörung "krampfartige Schmerzanfälle in der linken Stirnseite" mit Wirkung für die Vergangenheit zurück und hob einen Bescheid vom 15. Dezember 1954, der insoweit mit dem alten Bescheid von 1948 identisch war, auf. In der Begründung für die Aufhebung wird angeführt, daß nach jetzt vorliegenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen festzustellen sei, eine vom Kläger 1944 durchgemachte Malariaerkrankung habe diese ursprünglich anerkannten Schädigungsfolgen nicht hervorrufen können. Es sei auch ausgeschlossen, daß eine andere Kriegsbeschädigung, auf die sich der Kläger ebenfalls berief, ursächlich für die späteren schweren Schmerzattacken in der linken Gesichts- und Stirnhälfte gewesen sei. - Dieser Aufhebungsbescheid wurde Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 6. November 1985 der Klage stattgegeben und die Rücknahme des früheren Anerkennungsbescheides nach § 1 Abs 3 Satz 3 BVG deshalb für rechtswidrig gehalten, weil den Beklagten die volle Beweislast für die Unrichtigkeit des früheren Bescheides treffe. Es sei nach den Angaben eines Sachverständigen nicht völlig auszuschließen, daß die Schmerzanfälle auf eine andere Kriegsbeschädigung, nämlich eine 1943 erlittene Verschüttung, zurückgingen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten allein mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Aufhebungsbescheid deshalb rechtswidrig sei, weil der Beklagte verkannt habe, daß er durch § 1 Abs 3 BVG nicht zur Rücknahme verpflichtet, sondern nur berechtigt gewesen sei. In dem angefochtenen Bescheid fehlten Ermessenserwägungen (Urteil vom 13. Januar 1987).
Der Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und vorgetragen, daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) § 1 BVG nicht anwendbar sei, sondern die Verwaltungsverfahrensvorschriften, die im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides seine Rücknahme ermöglicht hätten (BSG SozR 1300 § 1 Nr 39). Jedenfalls enthalte § 1 Abs 3 BVG keine Ermessensvorschrift. Auch alle Vorläufer dieser Norm seien nicht als Ermessensvorschriften aufgefaßt worden.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, daß der vom Beklagten aufgehobene Bescheid nach den zutreffenden Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil nicht unzweifelhaft unrichtig gewesen sei.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß der Aufhebungsbescheid vom 25. Juli 1984 rechtswidrig ist.
Dieser Bescheid beruht auf der Rechtsansicht, § 1 Abs 3 Satz 3 BVG gebe der Verwaltung die Befugnis, die rechtswidrige Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge auch dann noch zurückzunehmen, wenn diese Anerkennung schon vor mehreren Jahrzehnten (hier vor 36 Jahren) erfolgt ist. Es müsse nur unzweifelhaft feststehen, daß die Gesundheitsstörung nicht Folge einer Schädigung ist. Diese Rechtsansicht trifft nicht zu.
Richtig ist allerdings, daß das Gesetz für einen besonderen Fall der Rechtswidrigkeit, nämlich der unzweifelhaft falschen Feststellung der Ursächlichkeit zwischen einer Schädigung und einer Gesundheitsstörung, der Verwaltung eine besondere Rücknahmebefugnis gibt, die von der sonst bestehenden Rücknahmebefugnis erheblich abweicht, weil sie ihrem Wortlaut nach im Unterschied zu der zur gleichen Zeit in Kraft getretenen allgemeinen Rücknahmeregelung des § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) weder durch Fristen noch durch Vertrauensschutzregelungen eingeschränkt ist.
Trotzdem darf die Verwaltung auch bei unzweifelhaft falscher Kausalitätsbeurteilung in begünstigenden Verwaltungsakten mit Dauerwirkung diese Verwaltungsakte nicht einschränkungslos zurücknehmen. Da die Verwaltung unter den gesetzlichen Voraussetzungen des § 1 Abs 3 Satz 3 BVG nicht zurücknehmen muß, sondern nur zurücknehmen kann, hat sie nach pflichtgemäßem Ermessen die Gesichtspunkte abzuwägen, die für die Durchsetzung der inhaltlichen Richtigkeit einerseits und für die Bestandskraft des Verwaltungsakts andererseits sprechen. Sie wird sich hierbei an die Gesichtspunkte anschließen können, die das Gesetz in der allgemeinen Rücknahmevorschrift des § 45 SGB 10 ausdrücklich hervorhebt.
Es besteht kein Grund anzunehmen, der Gesetzgeber habe im vollständigen Gegensatz nicht nur zu der allgemeinen Rücknahmeregelung, sondern auch zu den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts und den entsprechenden Regeln im Verwaltungsverfahrensgesetz dem Interesse an der Rechtsbeständigkeit eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ausnahmslos keine Bedeutung beimessen wollen. Eine solche Regelung würde auch dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 des Grundgesetzes -GG-) ergebenden Gebot widersprechen, dem Vertrauen in bindende Verwaltungsakte und damit zugleich der Rechtssicherheit den gebührenden Rang einzuräumen (vgl BVerfGE 13, 261; 22, 241, 248; 30, 250, 267f; 63, 152, 175; 63, 312, 328f).
Dementsprechend hat die Rechtsprechung schon die Vorgängervorschrift des § 1 Abs 3 Satz 3 BVG, nämlich § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) verfassungskonform ausgelegt. Im sozialen Entschädigungsrecht war das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Vertrauensschutz bei Bescheiden, die Beurteilungen des medizinischen Ursachenzusammenhangs zum Gegenstand hatten, dahin gelöst, rückwirkende Aufhebungen zwar grundsätzlich zuzulassen, sie in ihren finanziellen Auswirkungen jedoch auf die Zukunft zu beschränken, weil die Rückforderung erbrachter Leistungen ausgeschlossen war. Vertrauensschutz und Rechtssicherheit wurden aber auch dadurch erreicht, daß bei der Frage der unzweifelhaften Unrichtigkeit der Kausalitätsbeurteilung nur auf die bei der Anerkennung bestehenden ärztlichen Erkenntnismöglichkeiten abzustellen war (BSGE 29, 37, 39; BSG SozR 3900 § 41 Nr 5; SozR 3100 § 1 Nr 39 - vgl auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 22. Januar 1975 Beilage Nr 4/75 zum Bundesanzeiger Nr 23 zu § 41 Nr 3). Fortschritte der medizinischen Wissenschaft berührten somit bestandskräftige Bescheide nicht. § 41 KOVVfG enthielt allerdings keine Vertrauensschutzregelung in Form von Fristen. Dennoch haben die Kriegsopfersenate des Bundessozialgerichts (BSG) unter Hinweis auf den Verwirkungsgesichtspunkt die Rücknahmebefugnis eingeschränkt und erwogen, auch den reinen Zeitablauf für ein Rücknahmeverbot genügen zu lassen (BSGE 35, 91, 96).
Diese rechtsstaatlich gebotene Abwägung ist damals nicht im Rahmen des Ermessens berücksichtigt worden, denn § 41 KOVVfG ist nicht als Ermessensvorschrift bewertet worden (BSGE 9, 199, 203; 21, 7, 10). Der Senat versteht aber mit dem LSG nunmehr § 1 Abs 3 Satz 3 BVG als Ermessensvorschrift.
Für diese Auslegung ist maßgeblich, daß - wie bisher - auch im sozialen Entschädigungsrecht das Interesse des einzelnen an der Bestandskraft von Verwaltungsakten, sein schutzwürdiges Vertrauen, gebührend zu berücksichtigen ist. Das geschieht überwiegend durch Anwendung des auch im Versorgungsrecht maßgeblichen § 45 SGB 10, gilt aber ebenso bei fehlerhafter Kausalitätsbeurteilung. Denn die rechtlichen Voraussetzungen für die Rücknahme nach § 1 Abs 3 Satz 3 BVG sind im Ergebnis nicht strenger als für die Rücknahme nach § 45 SGB 10. Der erkennende Senat hat zwar in seiner ersten zu § 1 Abs 3 Satz 3 BVG ergangenen Entscheidung (BSGE 61, 295, 298 = SozR 3100 § 1 Nr 38) ausgeführt, der Berechtigte genieße einen gewissen Vertrauensschutz, wenn die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes davon abhängig gemacht werde, daß er "unzweifelhaft" unrichtig ist. Der Senat hat aber inzwischen in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht entschieden, daß auch bei Rücknahmen nach § 45 SGB 10 Zweifel an der Rechtswidrigkeit ebensowenig bestehen bleiben dürfen wie bei der Rücknahme nach § 1 Abs 3 Satz 3 BVG (BSG SozR 1300 § 45 Nr 41). Deshalb muß gegenüber der ersten Entscheidung des Senats zu § 1 Abs 3 Satz 3 BVG klargestellt werden, daß die Rücknahme einer über zwei Jahre zurückliegenden Anerkennung ohne Auseinandersetzung mit den für die Bestandskraft sprechenden Gründen nicht zulässig ist.
Bei dieser Auslegung des § 1 Abs 3 Satz 3 BVG finden die rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit über die Ermessensklausel Eingang in die Entscheidung der Verwaltung über die Rücknahme. Jedenfalls dort, wo der Zeitablauf die Rücknahmebefugnis der Verwaltung nicht im Sinne fester Vorgaben einschränkt, müssen sie in die Ermessensabwägung bei Aufhebung begünstigender Verwaltungsakte einfließen (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 24).
Diese Ansicht drängt sich vor allem deshalb auf, weil es der Gesetzgeber unterlassen hat, im einzelnen aufzuführen, welcher Maßstab für die verfassungsrechtlich erforderliche Abwägung von materieller Richtigkeit und Rechtssicherheit zugrundezulegen ist. Der Ermessensspielraum ist in § 1 Abs 3 Satz 3 BVG größer als in § 45 SGB 10, wo zahlreiche Abwägungsgesichtspunkte im einzelnen und bindend aufgeführt sind. Die Verwaltung wird bei der Prüfung, ob nach § 1 Abs 3 Satz 3 BVG ein Verwaltungsakt zurückgenommen werden soll, jedenfalls auch die Gesichtspunkte zu erwägen haben, die in § 45 SGB 10 aufgeführt sind. Sie fallen nur insoweit nicht ins Gewicht, wie § 1 Abs 3 Satz 3 BVG erkennbar Abweichungen vom allgemeinen Rücknahmerecht des § 45 SGB 10 festlegen will. Der erkennende Senat hat bisher nur festgestellt, daß der Gesetzgeber die Versorgungsverwaltung von der Beachtung der Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 SGB 10 freistellen will (BSGE 61, 295 = SozR 3100 § 1 Nr 38), nicht aber, daß der Gesetzgeber die Rücknahmebefugnis der Versorgungsverwaltung in noch größerem Umfang erweitern wollte. Die Versorgungsverwaltung wird daher das Abwägungsgebot des § 45 Abs 2 SGB 10 und die Zehnjahresfrist des § 45 Abs 3 SGB 10 im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu beachten haben.
Im vorliegenden Fall ist dennoch die Entscheidung des LSG, die § 1 Abs 3 Satz 3 BVG zutreffend als Ermessensnorm qualifiziert hat, nicht dahin zu bestätigen, daß allein wegen unterlassener Ermessensausübung der Bescheid aufzuheben wäre. In aller Regel wird zehn Jahre nach der Anerkennung von Schädigungsfolgen aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit die Ermessensentscheidung nur noch gegen die Aufhebung ausfallen dürfen (vgl für die Aufhebung bei Änderung der tatsächlichen Verhältnisse die 10-Jahresfrist in § 62 Abs 3 BVG). Das gilt um so mehr, wenn lediglich neue Erkenntnisse die Rechtswidrigkeit des Anerkennungsbescheides belegen und dem Begünstigten kein mitwirkendes Verschulden vorzuwerfen ist. Mehr als 30 Jahre nach der erstmaligen Anerkennung ist schon nach einer allgemeinen Rechtsüberzeugung, die auch in gewissen Maximalfristen im Zivilrecht (§§ 195, 218 BGB) zum Ausdruck kommt, eine Aufhebung immer ausgeschlossen.
Mit der Entscheidung des Senats, daß die Rücknahme auch nach § 1 Abs 3 Satz 3 BVG von Erwägungen abhängig ist, wie sie in § 45 SGB 10 geregelt sind, erübrigt sich das Bemühen, die sogenannten Altfälle übergangsrechtlich zu lösen, wie das der - nicht mehr für Versorgungsstreitigkeiten zuständige - 4. Senat getan hat (BSG SozR 3100 § 1 Nr 39).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen