Leitsatz (redaktionell)

1. Das Recht des GG wirkt nicht auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück und regelt auch keine Sachverhalte neu, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen.

2. Die Wirkungen der Rechtskraft erstrecken sich auch auf ein materiell unrichtiges Urteil.

3. Die Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Ehemannes müssen die überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau bedingt und darum schon vor ihrem Tode bestanden haben.

 

Orientierungssatz

Bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist der Gebrauch des Telegramms bei der Einlegung von Rechtsmitteln zulässig.

 

Normenkette

SGG § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; AVG § 28 Abs. 4 Fassung: 1934-05-17; GG Art. 3 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23; RVO § 1257 Fassung: 1934-05-17; SGG § 141

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1960 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt Witwerrente. Seine Ehefrau ist in der Rentenversicherung der Angestellten versichert gewesen und hat seit 1951 ein Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit bezogen. Sie ist im November 1952 gestorben.

Der Kläger beantragte die Witwerrente erstmals im Jahre 1952. - Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz sah ihn nicht als bedürftig im Sinne von § 28 Abs. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF an und lehnte den Rentenantrag ab (Bescheid vom 27. April 1953). Die Rechtsbehelfe des Klägers blieben im Ergebnis erfolglos. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf wies die Klage ebenfalls mit der Begründung ab, der Kläger sei nicht bedürftig. Das Urteil (vom 24. Februar 1956) wurde rechtskräftig.

Die Beklagte lehnte auch den im Mai 1957 erneuerten Rentenantrag ab, weil der Anspruch des Klägers bereits rechtskräftig abgewiesen worden sei (Bescheid vom 6. November 1957). Das SG Düsseldorf beurteilte den Anspruch nach § 28 Abs. 4 AVG aF, hielt jedoch für die Zeit vom 1. Januar 1957 an eine Bedürftigkeit nicht mehr für erforderlich. Es verurteilte die Beklagte zur Zahlung von Witwerrente vom 1. Januar 1957 an (Urteil vom 24. Oktober 1958). Die Beklagte legte mittels eines Telegramms Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab: Die telegrafische Einlegung der Berufung sei zulässig; diese Auffassung sei heute auf allen Gebieten der Rechtsprechung anerkannt. Nach der rechtskräftigen Ablehnung des Witwerrentenanspruchs sei weder eine auf den entschiedenen Versicherungsfall zurückwirkende Rechtsänderung noch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten, die bei der erneuten Beurteilung des Anspruchs zu berücksichtigen seien. § 43 AVG in der Fassung des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) könne auf den Versicherungsfall aus dem Jahre 1952 nicht angewendet werden. Der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG -) und die darauf beruhenden Rechtsänderungen seien schon vor dem rechtskräftig gewordenen Urteil des SG Düsseldorf vom 24. Februar 1956 in Kraft getreten und könnten daher ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Außerdem sei der Kläger nicht bedürftig im Sinne des § 28 Abs. 4 AVG aF. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 9. November 1960).

Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag,

das Urteil des LSG aufzuheben und ihm die Witwerrente vom 1. Januar 1957 an zuzusprechen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das SG in Düsseldorf zurückzuverweisen.

Er beanstandete, daß in seinem Falle § 43 AVG nicht angewendet worden sei und rügte die Verletzung des § 28 Abs. 4 AVG aF, des Art. 3 Abs. 2 GG und des § 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Verfahrensrüge begründete er damit, die Einlegung der Berufung mit Telegramm entspreche nicht der Form des § 151 SGG; auch sei das Rechtsmittel verspätet begründet worden.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

Die Revision des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.

Das LSG hat die Berufung gegen das Urteil des SG, welche die Beklagte mit einem Telegramm eingelegt hatte, mit Recht als rechtzeitig und formrichtig angesehen. § 151 SGG steht nicht entgegen. Danach muß allerdings die Berufungsschrift, um dem Erfordernis der Schriftlichkeit zu genügen, regelmäßig handschriftlich unterzeichnet sein; eine Erklärung, der die eigenhändige Unterschrift fehlt oder die eine bloß beglaubigte Unterschrift oder einen Faksimilestempel aufweist, ist nicht ausreichend (BSG 1, 243; 5, 110; 6, 256, 259; 8, 142, 145; 19, 192). Dies folgt aus dem Wesen der Schriftlichkeit, die in § 151 SGG zum Ausdruck kommt und die für die sog. bestimmenden Schriftsätze die eigenhändige Unterschrift des Urhebers oder seines Bevollmächtigten verlangt. Hiervon besteht aber eine Ausnahme: Um den neuzeitlichen Einrichtungen und Eilfällen Rechnung zu tragen, läßt die Rechtsprechung aller Gerichtsbarkeiten schon seit längerer Zeit die Einreichung von bestimmenden Schriftsätzen, insbesondere von Rechtsmittelschriften auf telegrafischem Wege zu (BSG 5, 3 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch die neuere, den Bedürfnissen der Praxis noch weiter entgegenkommende Rechtsprechung über fernmündlich dem Gericht zugesprochene Telegramme in den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts in NJW 1954, S. 1135; 1956, S. 605 und in DVBl. 1964 S. 236; des Bundesgerichtshofes in NJW 1960, S. 1310 und des Bundesfinanzhofes in BStBl. 1954 III, S. 27). So ist auch bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit der Gebrauch des Telegramms bei der Einlegung von Rechtsmitteln allgemein als zulässig anerkannt. Dem steht nicht entgegen, daß das im Jahre 1953 verkündete SGG hierüber ausdrücklich nichts bestimmt. Was den Erfordernissen der Schriftform genügt, ist in keiner Verfahrensordnung gesagt; auch die noch jüngere Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt nicht besonders, daß Rechtsmittel durch Telegramme eingelegt werden können; trotzdem sieht auch die Rechtsprechung der allgemeinen Verwaltungsgerichte die Einlegung von Rechtsmitteln durch Telegramme allgemein als zulässig an (BVerwGE 2, 190; 3, 56; 13, 141). Es handelt sich, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, um eine auf allen Gebieten der Rechtsprechung anerkannte Auffassung und ein seit vielen Jahren herausgebildetes gerichtliches Gewohnheitsrecht. Es besteht kein Anlaß, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzugehen. Da das die Berufung der Beklagten enthaltende Telegramm nach den Feststellungen des LSG vor Ablauf der Berufungsfrist beim LSG eingegangen ist, und das Aufgabe-Telegramm die eigenhändige Unterschrift der Sachbearbeiterin enthält, bestehen gegen die ordnungsmäßige Einlegung der Berufung keine Bedenken.

Die Berufung der Beklagten ist auch nicht verspätet begründet worden. § 151 Abs. 3 SGG, der die Begründung der Berufungsschrift vorsieht, ist lediglich eine Sollvorschrift. Deren Nichteinhaltung zieht keine prozessualen Folgen nach sich, insbesondere hängt die Zulässigkeit der Berufung nicht davon ab, ob und wann sie vom Berufungsführer begründet wird (vgl. SozR SGG § 151 Bl. Da 1 Nr. 2).

In der Sache selbst ist mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, daß der Anspruch des Klägers auf Witwerrente vom SG Düsseldorf in seinem Urteil vom 24. Februar 1956 rechtskräftig abgewiesen worden ist. Die Rechtskraft dieses klageabweisenden Urteils steht der Erhebung einer neuen Klage nur dann nicht entgegen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage inzwischen zu Gunsten des Klägers geändert hätte (BSG 8, 284 ff). Ist eine solche Änderung nicht eingetreten, so ist die Klage bereits wegen der materiellen Rechtskraft des früheren Urteils abzuweisen; das Gericht hat in eine neue Prüfung der (unveränderten) Sach- und Rechtslage nicht einzutreten (BSG 8, 185 ff; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 121 Anm. c); es hat jedoch in jedem Falle festzustellen, ob und in welchem Umfange sich die Sach-oder Rechtslage zugunsten des Klägers geändert hat; insoweit liegt eine Gleichheit des Streitgegenstandes nicht vor.

Der Kläger beruft sich auf eine solche Rechtsänderung; er stützt den im Mai 1957 gestellten Rentenantrag auf § 43 AVG, der - im Gegensatz zum früheren Recht (§ 28 Abs. 4 AVG aF) - die Entstehung des Anspruchs auf Witwerrente nicht mehr von der "Erwerbsunfähigkeit" und "Bedürftigkeit" des Witwers abhängig macht. Der Kläger übersieht jedoch, daß die am 1. Januar 1957 in Kraft getretene Vorschrift den bereits früher eingetretenen Versicherungsfall nicht berührt. Rentenansprüche sind, wenn nicht besondere Vorschriften etwas anderes besagen, nach dem Recht zu beurteilen, das zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles gilt. Der Versicherungsfall, der den Anspruch auf die Witwerrente auslöst, ist der Tod der Versicherten; er ist im Jahre 1952 eingetreten. Nach Art. 2 § 6 AnVNG sind für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend, soweit in den darauf folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Eine Vorschrift, die den § 43 AVG auch auf in der Vergangenheit eingetretene Versicherungsfälle für anwendbar erklärt, ist aber nicht ergangen. Die Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers bildet daher nicht § 43 AVG nF, sondern die zur Zeit des Versicherungsfalles gültige Vorschrift in § 28 Abs. 4 AVG aF.

Die besonderen Anspruchsvoraussetzungen des § 28 Abs. 4 AVG aF sind auch nicht mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungssatzes am 1. April 1953 weggefallen, soweit es sich um Ansprüche handelt, die sich auf vorher eingetretene Versicherungsfälle gründen. Das Recht des GG wirkt nicht auf die Zeit vor seinem Inkrafttreten zurück und regelt auch keine Sachverhalte neu, die abgeschlossen in der Vergangenheit liegen; es kennt insbesondere keine Rückwirkung des Gleichberechtigungssatzes. Das GG bewirkte zwar Rechtsänderungen für die Zukunft, hat aber nicht die Funktion, auch die nachteiligen Folgen früherer Rechtslagen zu beseitigen. Dies hat der erkennende Senat schon in früheren Urteilen klargestellt (Urteil vom 29. März 1962 - 1 RA 188/56 -; Urteil vom 29. Mai 1963 - 1 RA 22/58 - vgl. auch Urteil des 11. Senats vom 18. Februar 1964 - 11/1 RA 208/56 -).

Das LSG hat im übrigen richtig erkannt, daß eine Änderung des rechtskräftigen Urteils des SG Düsseldorf selbst dann nicht möglich wäre, wenn das SG die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 GG rechtsfehlerhaft ausgelegt hätte; denn die Wirkungen der Rechtskraft würden sich auch auf ein materiell unrichtiges Urteil erstrecken.

Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine nachträgliche Änderung der Sachlage berufen. Nach § 28 Abs. 4 AVG aF erhält Witwerrente der erwerbsunfähige, bedürftige Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Die gleichlautende Vorschrift des § 1257 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG 5, 17 ff) nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn dahin ausgelegt, daß die Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Ehemannes die überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau bedingt und darum schon vor ihrem Tode bestanden haben müssen. Der erkennende Senat hat sich dieser Auslegung für § 28 Abs. 4 AVG aF bereits in seinem Urteil vom 29. März 1962 (1 RA 188/56) angeschlossen; er hält an dieser Rechtsauffassung auch nach erneuter Prüfung der Rechtslage fest. Danach mußte der von § 28 Abs. 4 AVG aF geregelte Tatbestand - Erwerbsunfähigkeit und Bedürftigkeit des Mannes, überwiegende Unterhaltsgewährung durch die Frau - im Falle des Klägers beim Tode seiner Ehefrau im Jahre 1952 vollständig vorgelegen haben, da sonst kein Rentenanspruch entstand; eine erst nach diesem Zeitpunkt etwa eintretende Bedürftigkeit kann den Anspruch auf Witwerrente nicht begründen.

Da weder eine Änderung der Rechtslage zugunsten des Klägers erfolgt ist noch eine Änderung der Sachlage den Anspruch des Klägers begründen kann, muß es bei den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des SG Düsseldorf vom 24. Februar 1956 verbleiben und die Revision des Klägers gegen das zutreffende Urteil des LSG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374892

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