Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE durch Schäden des Sehvermögens. Gesichtsentstellung. Empfehlungen der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft (1981)
Orientierungssatz
1. Bei der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sind auch die von der Rechtsprechung und von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die allerdings nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, jedoch Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (vgl BSG 26.6.1985 2 RU 60/84 = SozR 2200 § 581 Nr 23).
2. Auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung gebildeten Erfahrungssätze über die Bewertung der MdE sind gegebenenfalls neuen Erkenntnissen anzupassen, die sich aus den technischen Entwicklungen, den Änderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie gewandelten sozialmedizinischen Anschauungen und neuen sozialmedizinischen Erkenntnissen ergeben. Bei der Beurteilung der MdE durch Augenverlust mit zusätzlicher Gesichtsentstellung ist daher zu prüfen, ob die Empfehlungen der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft vom September 1981 Niederschlag solcher Erkenntnisse sind, die zu einer anderen Bewertung der MdE bei Sehschäden geführt haben.
Normenkette
RVO § 581 Abs 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 26.07.1983; Aktenzeichen L 8 U 78/82) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 08.02.1982; Aktenzeichen S 4 U 123/79) |
Tatbestand
Der im Jahre 1924 geborene Kläger erlitt am 19. August 1940 einen Arbeitsunfall, der zum Verlust des linken Auges führte. Der linke Augapfel wurde durch eine Prothese ersetzt. Der Kläger erhielt von der Ausführungsbehörde für Unfallversicherung der Deutschen Reichsbahn eine Dauerrente nach einer MdE um 25 vH, die ihm die Beklagte nach seinem Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland in derselben Höhe nach dem Fremdrentengesetz durch Bescheid vom 22. Mai 1957 gewährte. Durch Bescheid vom 18. Februar 1971 wurde die Rente auf Antrag des Klägers gemäß § 604 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abgefunden.
Im Januar 1978 machte der Kläger eine Verschlimmerung der Unfallfolgen geltend. Die Beklagte lehnte es durch Bescheid vom 20. März 1978 ab, eine Teilrente zu gewähren, weil eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten sei, die unfallbedingte MdE vielmehr weiterhin 25 vH betrage. Den Widerspruch des Klägers wies sie zurück (Bescheid vom 10. April 1979).
Mit der Klage hat der Kläger ua geltend gemacht, durch die am 28. Februar 1978 durchgeführte Operation sei eine Verschlimmerung des Unfallfolgezustandes eingetreten. Das Sozialgericht (SG) Regensburg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Februar 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend verurteilt, dem Kläger vom 28. Februar 1978 an eine Verletztenrente in Höhe von 15 vH der Vollrente zu gewähren (Urteil vom 26. Juli 1983). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Die Berufung sei, obwohl sie die Neufeststellung der Dauerrente betreffe (§ 145 Nr 4 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), zulässig, weil bisher als Unfallfolgen nicht anerkannte Gesundheitsstörungen streitig seien. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 15 vH sei begründet, weil in den Unfallfolgen, verglichen mit den für die letzte bindende Feststellung der Dauerrente durch Bescheid vom 22. Mai 1957 maßgebend gewesenen Verhältnissen eine entsprechende wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei. Die Änderung in den Unfallfolgen liege darin, daß durch den als Heilmaßnahme zur Beseitigung unfallbedingter Beschwerden am 28. Februar 1978 vorgenommenen operativen Eingriff ein Lidschlußdefekt von ca 4 mm verblieben sei, der zu einer Verkrustung der Prothese und zu einer kosmetischen Gesichtsentstellung geführt habe. Die Verschlimmerung sei wesentlich im Sinne des § 605 Satz 2 RVO und mit 15 vH zu bemessen, obwohl Dr. B. und Prof. Dr. S. - für das Gericht nicht bindend - die nunmehr bestehende Gesamt-MdE des Klägers weiterhin auf 25 vH schätzten und Prof. Dr. L. eine Gesamt-MdE von - nur - 30 vH angenommen habe. Die Einschätzung dieser Augenärzte werde den unfallmedizinischen Erfahrungssätzen nicht gerecht. Der Verlust eines Auges mit Gesichtsentstellung sei mit einer MdE um 40 vH zu bewerten (Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 7. Aufl, S 93), und auch nach Sachsenweger (Augenärztliche Begutachtung, 1976, S 67 f) könne bei Entstellung der Physiognomie - zB bei Liddefekten - die MdE zusätzlich um 5 bis 40 vH erhöht werden. Von einer erheblichen Entstellung des Klägers durch den Lidschlußdefekt habe sich das LSG augenscheinlich überzeugen können.
Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision (Beschluß vom 27. Februar 1985 - 2 BU 207/83 -) eingelegt. Sie rügt, das LSG hätte die von ihr mit Schriftsatz vom 29. September 1982 in den Rechtsstreit eingeführten Empfehlungen der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft (DOG) vom September 1981 (Der Augenarzt 1981, 482) berücksichtigen müssen, nach denen bei unkomplizierter einseitiger Erblindung eine MdE um 25 vH anzunehmen sei und bei Komplikationen durch äußerlich in Erscheinung tretende Veränderungen die MdE, sofern hierdurch Einwirkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestünden, 30 vH betrage. Danach liege eine wesentliche Verschlimmerung im Sinne des § 605 Satz 2 RVO nicht vor.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Regensburg vom 8. Februar 1982 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Berufung ist zulässig. Sie betrifft zwar die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse (§ 145 Nr 4 SGG; s BSG SozR 1500 § 145 Nr 2), der Kläger macht jedoch im Sinne des § 145 Nr 4 SGG eine Verschlimmerung durch das Hinzutreten bisher nicht als Unfallfolgen anerkannter Leiden geltend (s BSG aaO Nr 1).
Nach § 605 Satz 1 RVO ist der Anspruch auf Verletztenrente trotz der Abfindung insoweit begründet, als die Folgen des Arbeitsunfalls sich nachträglich wesentlich verschlimmern. Als wesentlich gilt eine Verschlimmerung nur, wenn durch sie die Erwerbsunfähigkeit des Verletzten für länger als einen Monat um mindestens zehn vom Hundert weiter gemindert wird (§ 605 Satz 2 RVO). Die Vorschrift bezieht sich auf Abfindungen, die - wie hier - gemäß § 604 RVO vorgenommen worden sind. Anders als nach § 606 RVO lebt die abgefundene Rente allerdings bei einer durch die Verschlimmerung um insgesamt weniger als 50 vH geminderten Erwerbsfähigkeit nicht insgesamt wieder auf, es wird vielmehr eine Verletztenrente nur in Höhe des Verschlimmerungsanteils von mindestens zehn vH gezahlt (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 595 a; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 605 Anm 2, 4 , 7; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 605 Anm 3).
In den Verhältnissen, die für die Abfindung durch Bescheid vom 18. Februar 1971 maßgebend waren (s BSG SozR 1500 § 145 Nr 2) und bis dahin auch seit der Feststellung der Dauerrente durch Bescheid vom 22. Mai 1957 unverändert vorlagen (Verlust des linken Auges) ist nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG durch die am 28. Februar 1978 durchgeführte operative Revision der linken Augenhöhle insoweit eine Verschlimmerung eingetreten, als nunmehr zusätzlich am linken Auge ein Lidschlußdefekt von ca 4mm besteht, der zu einer Verkrustung der Prothese und zu einer kosmetischen Gesichtsentstellung geführt hat. Da der operative Eingriff nach den ebenfalls unangegriffenen Feststellungen des LSG dazu dienen sollte, unfallbedingte Beschwerden zu beseitigen, hat das LSG zu Recht angenommen, daß die hierdurch verursachten Veränderungen mittelbare Unfallfolgen sind (s BSG SozR 2200 § 548 Nr 59 mwN; Brackmann aaO S 488 f II). Andere unfallbedingte Verschlimmerungen im Gesundheitszustand des Klägers sind, wie das LSG festgestellt hat, nicht eingetreten.
Inwieweit der Kläger durch den Lidschlußdefekt und dessen Auswirkungen in seiner Erwerbsfähigkeit zusätzlich gemindert ist, richtet sich nach dem Umfang der dadurch eingetretenen Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens sowie dem Umfang der ihm dadurch zusätzlich verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (s BSG SozR 2200 § 581 Nr 23 mwN; Brackmann aaO S 568 g ff). Für die richterliche Schätzung der MdE, die sich nach den grundsätzlich der tatrichterlichen freien Beweiswürdigung unterliegenden gesamten Umständen des Einzelfalles zu richten hat, sind hinsichtlich der in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet liegenden Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, die ärztlichen Meinungsäußerungen zwar nicht verbindlich, aber doch eine wichtige und oft unentbehrliche Grundlage (s BSG aaO mwN). Das LSG ist der Auffassung der Gutachter, die auch nach dem operativen Eingriff und der dadurch bedingten weiteren Unfallfolgen die Gesamt-MdE des Klägers auf 25 vH (Dr. B. und Prof. Dr. S.) bzw auf 30 vH (Prof. Dr. L.) geschätzt haben, nicht gefolgt, weil sie den unfallmedizinischen Erfahrungssätzen nicht gerecht würden. Danach sei der Verlust eines Auges mit Gesichtsentstellung mit einer MdE um 40 vH zu bewerten (Günther/Heymmen, Unfallbegutachtung, 7. Aufl, S 93). Auch nach Sachsenweger (Augenärztliche Begutachtung, 1976 S 67 f) könne bei einer Entstellung der Physiognomie - zB bei Liddefekten - die MdE zusätzlich um 5 bis 40 vH erhöht werden. Darin, daß das LSG nicht den ärztlichen Sachverständigen gefolgt ist, liegt auch hier kein wesentlicher Verfahrensmangel (s Brackmann aaO S 244 o I).
Zutreffend ist zwar das LSG insoweit zunächst auch davon ausgegangen, daß bei der Bewertung der MdE auch die von der Rechtsprechung und von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten sind, die allerdings nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, jedoch Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (s BSG SozR 2200 § 581 Nr 23 mwN; Brackmann aaO S 570 b mwN). Danach hatte das LSG einerseits insbesondere hinsichtlich des unfallbedingten Liddefektes in freier Beweiswürdigung die dadurch bedingte MdE zu schätzen; andererseits sind bei dieser Schätzung die allgemeinen versicherungsrechtlichen Erfahrungssätze insbesondere hinsichtlich der MdE durch den Augenverlust und damit bedingte Entstellungen als Grundlage der Gesamt-MdE zu beachten. Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist aber nicht zu entnehmen, daß das LSG die - von der Beklagten mit Schriftsatz vom 29. September 1982 in das Verfahren eingeführten - Empfehlungen der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft (DOG) zur Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Schäden des Sehvermögens (Der Augenarzt 1981, 482) berücksichtigt hat. Da auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung gebildeten Erfahrungssätze über die Bewertung der MdE gegebenenfalls neuen Erkenntnissen anzupassen sind, die sich aus den technischen Entwicklungen, den Änderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie gewandelten sozialmedizinischen Anschauungen und neuen sozialmedizinischen Erkenntnissen ergeben (s BSG aaO), hätte das LSG prüfen müssen, ob die Empfehlungen der DOG vom September 1981 Niederschlag solcher Erkenntnisse sind, die zu einer anderen Bewertung der MdE bei Sehschäden geführt haben. Soweit etwa in den Empfehlungen der DOG die Erfahrungen über veränderte Arbeitsbedingungen berücksichtigt worden sind - zB stärkere Automatisation, vermehrte Verwendung von Computerausdrucken, Einsatz von Datensichtgeräten - und eine darauf gegründete Neubewertung der MdE vorgenommen worden ist, weil sich dadurch die Arbeitsmöglichkeiten Sehbehinderter verändert haben, kann darin ein bedeutsamer Anhaltspunkt für die Beurteilung liegen, ob die zusätzlichen Unfallfolgen des Klägers zu einer weiteren Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens zehn vom Hundert geführt haben.
Da das Revisionsgericht nicht seine - auf den besonderen Umständen des Einzelfalles beruhende - Schätzung der MdE an die Stelle der durch das Berufungsgericht setzen kann, war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen