Leitsatz (redaktionell)
Für die Frage, ob der Versicherte fähig ist, eine bestimmte (zumutbare) Tätigkeit auszuüben - und damit auf sie verwiesen werden kann - kommt es auf das Wissen und Können an, das er tatsächlich hat. Maßgebend ist hierbei nicht nur das Wissen und Können, das seinem bisherigen (versicherungspflichtigen ) Beruf entspricht oder das er durch versicherungspflichtige Beschäftigungen erworben hat; vielmehr ist hierbei auch das Wissen und Können zu berücksichtigen, das er sich während einer versicherungsfreien Erwerbstätigkeit angeeignet hat.
Orientierungssatz
Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Ruhestandsbeamten.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Oktober 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geboren ... 1920, erlernte vom April 1935 bis März 1939 das Buchdruckerhandwerk. Er legte darin die Gehilfenprüfung ab. Im September 1939 trat er als Aushilfsarbeiter in den Dienst der Deutschen Reichsbahn und wurde dort als Drucker beschäftigt; er war in der Arbeiterrentenversicherung pflichtversichert. Vom Oktober 1940 bis Juni 1943 leistete er Wehrdienst, er erlitt dabei eine Handverletzung und bezieht deshalb eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. Schon während des Wehrdienstes bewarb sich der Kläger um die Übernahme in die Beamtenlaufbahn bei der Deutschen Reichsbahn. Er wurde nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst als Reichsbahngehilfe im Angestelltenverhältnis beschäftigt; von August 1943 bis März 1947 (mit Unterbrechungen im Jahr 1945) leistete er Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung. Nach einer Ausbildung im Betriebs- und Verkehrsdienst und nach Ablegung der Fahrdienstprüfung wurde er im Fahr- und Abfertigungsdienst verwendet, zuletzt als Fahrdienstleiter; im September 1945 wurde er in das Sozialbüro der RBD Karlsruhe versetzt und arbeitete dort in der Reichsbahnbeamtenversorgung. Am 1. April 1947 wurde der Kläger als Reichsbahnbetriebswart in das Beamtenverhältnis übernommen und am 1. Oktober 1947 zum Reichsbahnassistenten befördert; er arbeitete u. a. in der Bücherei der Reichsbahndirektion. Vom 1. März 1949 bis 31. Oktober 1950 war er zur hauptamtlichen Tätigkeit bei einer Eisenbahner-Gewerkschaft beurlaubt. Seit 1. November 1950 war er in der Materialbeschaffung des bautechnischen Büros der Reichsbahndirektion beschäftigt. Am 1. Dezember 1950 wurde er zum Reichsbahnsekretär (später Bundesbahnsekretär) und am 17. Oktober 1957 zum Bundesbahnobersekretär befördert. Seit Juli 1961 war er wiederum in dem Sozialbüro der Bundesbahndirektion tätig und versah dort die Stelle eines Anspruchsachbearbeiters bei der Bundesbahn-Betriebskrankenkasse. Zum 31. März 1963 wurde er "mit seinem Einverständnis" in den Ruhestand versetzt, da nach ärztlicher Auffassung eine volle Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit nicht zu erwarten sei. Er beantragte im August 1963, ihm eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Dezember 1963 ab; der Kläger sei zwar nach den ärztlichen Äußerungen durch die Minderung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand infolge Granatsplitterverletzung sowie durch innere Leiden (Zuckerkrankheit, Gefäßverkalkung, Nierensteinleiden und Leberstörung) in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt, jedoch nicht in dem Maße, daß bereits Berufsunfähigkeit vorliege.
Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Karlsruhe durch Urteil vom 24. August 1965 ab. Die Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 24. Oktober 1966 zurück: Berufsunfähigkeit des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) liege nicht vor; der Kläger könne zwar aus gesundheitlichen Gründen den Beruf eines; Buchdruckers nicht mehr ausüben, dagegen könne er noch "Bürotätigkeiten gehobener Art" verrichten. Solchen Tätigkeiten sei er nach den ärztlichen Gutachten mindestens noch halbtags gesundheitlich gewachsen. Bei der Ermittlung des bisherigen Berufs seien zwar lediglich die versicherungspflichtigen Tätigkeiten des Klägers zugrunde zu legen, für die Verweisungsmöglichkeiten seien dagegen alle Tätigkeiten, die den Kräften und Fähigkeiten des Versicherten entsprechen und ihm nach seiner gesamten bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können, heranzuziehen. Der Kläger müsse sich also auch die Kenntnisse und Fähigkeiten anrechnen lassen, die er als Beamter erlangt habe. Er könne mit "Bürotätigkeiten gehobener Art", für die nach seinem bisherigen Berufsbild beispielsweise die Tätigkeit eines Gewerkschaftsangestellten, des Sachbearbeiters einer Versicherungsgesellschaft, eines Bibliotheksangestellten, eines Einkäufers für Druckereibedarf usw. in Betracht kämen, noch die gesetzliche Lohnhälfte verdienen. Solche Tätigkeiten seien auch in genügendem Umfang vorhanden. Der Kläger erleide gegenüber dem Lohn eines Bundesbahnbetriebsarbeiters (Buchdruckers) oder eines Bundesbahngehilfen (Verwaltungsangestellten) keine das Maß des § 1246 Abs. 2 RVO bzw. des § 23 Abs. 2 AVG übersteigende wirtschaftliche Einbuße. Das LSG ließ die Revision zu.
Mit der fristgerecht und formgerecht eingelegten Revision beantragte der Kläger,
die Entscheidung der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Der Kläger rügte, das LSG habe die §§ 1246 RVO, 23 AVG verletzt. Das LSG habe bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten zu Unrecht auch seine Kenntnisse und Fähigkeiten berücksichtigt, die er in seiner versicherungsfreien Beamtentätigkeit erworben habe. Im übrigen habe er berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten für Verwaltungstätigkeiten und Büroarbeiten nur unter der besonderen Verhältnissen des Eisenbahnbetriebes erworben; herausgehobene oder leitende Positionen habe er nicht innegehabt; er könne daher nicht auf "Büroarbeiten gehobener Art im herkömmlichen Sinne" verwiesen werden.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, § 153 Abs. 1 SGG, § 165 SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist statthaft (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist jedoch unbegründet. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO, § 23 AVG) verneint.
Das LSG hat festgestellt, der Kläger könne gehobene Bürotätigkeiten mindestens halbtags ausüben. Dabei handelt es sich um Verweisungstätigkeiten (Verweisungsberufe), gleichviel, ob der "bisherige Beruf" des Klägers im Sinne der §§ 1246 RVO, 23 AVG derjenige des Buchdruckers bzw. Bundesbahnarbeiters oder derjenige des Bundesbahngehilfen (vgl. hierzu auch BSG SozR Nr. 63 zu § 1246 RVO gewesen ist; es kann dies im vorliegenden Fall offen bleiben; der Kläger macht nämlich mit der Revision nur geltend, das LSG habe bei der Prüfung, ob er - nach seinem Wissen und Können - fähig sei, den Verweisungsberuf, also eine "Bürotätigkeit gehobener Art" auszuüben, zu Unrecht nicht nur sein "versicherungsrechtliches Berufsbild", d. h. seine versicherungspflichtigen Beschäftigungen als Arbeiter und Angestellter zugrunde gelegt, sondern auch seine versicherungsfreie Beamtentätigkeit berücksichtigt. Dieser Einwand ist unbegründet.
Nach §§ 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO, 23 Abs. 2 Satz 2 AVG umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Danach soll bei der Ermittlung der Erwerbsmöglichkeiten ("Verweisungstätigkeiten"), die der Versicherte ausnutzen muß, bevor er eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten kann, durch die Berücksichtigung von Ausbildung, bisherigem Beruf und den bisherigen Berufsanforderungen sichergestellt werden, daß dem Versicherten keine Tätigkeiten zugemutet werden, die zu einem wesentlichen sozialen Abstieg gegenüber den bisher verrichteten (versicherungspflichtigen) Tätigkeiten führen. Die Berücksichtigung "der Kräfte und Fähigkeiten" soll dagegen nur verhindern, daß der Versicherte auf Arbeiten verwiesen wird, denen er nicht gewachsen ist. Die Tätigkeiten, auf die der Versicherte verwiesen wird, müssen seinen Fähigkeiten, d. h. seinem Wissen und Können, entsprechen; sie dürfen den Versicherten nicht nur gesundheitlich, sondern auch im Wissen und Können nicht überfordern.
Für die Frage, ob der Versicherte fähig ist, eine bestimmte (zumutbare) Tätigkeit auszuüben- und damit auf sie verwiesen werden kann- kommt es auf das Wissen und Können an, das er tatsächlich hat; maßgebend ist hierbei nicht nur das Wissen und Können, das seinem bisherigen (versicherungspflichtigen) Beruf entspricht oder das er durch versicherungspflichtige Beschäftigungen erworben hat, vielmehr ist hierbei auch das Wissen und Können zu berücksichtigen, das er sich während einer versicherungsfreien Erwerbstätigkeit angeeignet hat (vgl. auch BSG 11, 123, 125; BSG 22, 265; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 670; RVO Gesamt-Kom. Anm. 13 zu § 1246).
Das LSG ist somit von zutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen, wenn es bei der Prüfung der Frage, ob der Kläger nach seinem Wissen und Können der "Verweisungstätigkeit" gewachsen ist, auch die Kenntnisse und Erfahrungen berücksichtigt hat, die er während seines (mittleren)Verwaltungsdienstes als Assistent, Sekretär und Obersekretär erworben hat. Soweit das LSG danach zu dem Ergebnis gekommen ist, der Kläger sei - nach seiner gesamten bisherigen Berufstätigkeit - fähig, "Bürotätigkeiten gehobener Art", wie die eines Sachbearbeiters bei Versicherungen, Gewerkschaften, eines Bibliotheksangestellten, eines Einkäufers für Druckereibedarf u. a. zu verrichten, hat es eine tatsächliche Feststellung getroffen. Der Kläger meint zwar demgegenüber, das LSG sei insoweit zu einem unrichtigen Ergebnis gekommen, weil es verkannt habe, daß die im wesentlichen auf die Verhältnisse des Eisenbahnbetriebs ausgerichtete Berufstätigkeit des Klägers ihm keine ausreichenden Kenntnisse "für herkömmliche Büroarbeiten" vermittelt habe; eine substantiierte Verfahrensrüge hat der Kläger damit jedoch nicht vorgebracht (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Es ist nicht dargelegt- und auch nicht ersichtlich -, daß und inwiefern das LSG mit der Feststellung, der Kläger sei beruflich fähig, die genannten Verweisungstätigkeiten auszuüben, die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis frei zu würdigen (§ 128 Abs. 1 SGG) überschritten hat. Das LSG hat aus den Aufgaben, die einem Verwaltungsangestellten des öffentlichen Dienstes und einem Beamten des mittleren Verwaltungsdienstes allgemein obliegen, sowie aus den Angaben des Klägers über die Tätigkeiten, mit denen er im besonderen betraut gewesen ist (Sachbearbeiter im Sozialbüro, im Einkaufsbüro, Verwalter einer größeren Bücherei), auf die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers schließen dürfen. Das LSG hat nicht annehmen müssen, der Kläger habe bei der Bundesbahn nur "eisenbahnbetriebsbedingte Aufgaben" erledigt und deshalb keine ausreichenden Kenntnisse in der "herkömmlichen Büroarbeit" erworben; es hat vielmehr davon ausgehen dürfen, daß die Verwaltungstätigkeiten des Klägers bei der Bundesbahn jedenfalls im wesentlichen Tätigkeiten gewesen sind, die in ähnlicher Art bei jeder größeren Verwaltung oder in jedem größeren privatwirtschaftlichen Betrieb vorkommen, so daß sich die erworbenen Fähigkeiten des Klägers nicht auf die Ausführung von "Eisenbahnverwaltungsaufgaben" beschränkt. Wenn das LSG festgestellt hat, der Kläger sei "Bürotätigkeiten gehobener Art" gewachsen, so hat es damit sagen wollen, der Kläger könne nicht nur Büroarbeiten einfacher, schematischer oder mechanischer Art verrichten, er sei vielmehr auch qualifiziert, Bürotätigkeiten auszuüben, die längere Berufserfahrung sowie bestimmte Fachkenntnisse und Fähigkeiten erfordern.
Das LSG hat den Kläger damit nicht auf eine "leitende Position" verwiesen, es hat ihn auch nicht auf eine Tätigkeit verwiesen, für die er sich das erforderliche Wissen und Können nur durch Erfüllung von Aufgaben des gehobenen Verwaltungsdienstes hätte aneignen können. Das ergibt sich auch daraus, daß das LSG als in Betracht kommende Tätigkeiten beispielhaft die des Gewerkschaftsangestellten, Sachbearbeiters einer Versicherungsgesellschaft, Bibliotheksangestellten, Einkäufers für Druckereibedarf, genannt hat. Die Feststellungen des LSG sind danach nicht zu beanstanden.
Auch soweit das LSG angenommen hat, die "Verweisungstätigkeiten" seien dem Kläger zuzumuten im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO, § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG, ist die Entscheidung des LSG im Ergebnis nicht zu beanstanden. Soweit bei der Beurteilung dieser Frage die bisherige Berufstätigkeit des Klägers eine Rolle gespielt hat, hat allerdings nur eine solche berücksichtigt werden dürfen, in der er versichert gewesen ist. Auch dann sind aber "gehobene Bürotätigkeiten" für den Kläger zumutbar, und zwar einerlei, ob man von dem "bisherigen Beruf" als Buchdrucker oder als Bundesbahngehilfen ausgeht. Gegen die Feststellung des LSG, der Kläger könne mit "gehobenen Bürotätigkeiten" in Halbtagsbeschäftigung die "gesetzliche Lohnhälfte" verdienen, d. h. seine (eingeschränkte) Erwerbsfähigkeit sei nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Tätigkeiten herabgemindert - gleichviel, ob von der Erwerbsfähigkeit eines gesunden Buchdruckers oder eines gesunden Bundesbahngehilfen auszugehen ist - sind keine Einwendungen erhoben, diese Feststellung ist auch nicht zu beanstanden. Das LSG hat somit die Sach- und Rechtslage im Ergebnis zutreffend gewürdigt. Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen.
Fundstellen