Leitsatz (amtlich)
Zum Bau eines Familienheims iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 15 S 1 gehört auch noch der einige Jahre nach der Bezugsfertigkeit des Wohnhauses nachgeholte - ebenfalls mit öffentlichen Mitteln geförderte - Anbau der Garage.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. Dezember 1966 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des Bauarbeiters H W (W.), der am 1. Oktober 1965 seinen bei dem Unfall vom 7. August 1965 davongetragenen Verletzungen erlegen ist. W. hatte sich 1960/61 ein mit öffentlichen Mitteln gefördertes Familienheim (Eigenheim) errichtet, dessen Planung damals noch keine Garage vorsah und an dessen Bau er mit einigen Angehörigen in Selbsthilfe mitgewirkt hatte. Das Wohnhaus war im August 1961 bezugsfertig geworden und wurde seitdem von W. und seiner Familie bewohnt. Anfang 1965 wurde dann der Plan zum Anbau einer Garage genehmigt, wofür W. erneut ein öffentliches Baudarlehn von DM 2.000,- erhielt. Der Garagenbau wurde in Selbsthilfe im Juli 1965 begonnen. Am 7. August 1965 wurde W., als er den Garagenfußboden zwecks Vorbereitung der Betonierung ebnete, von der einstürzenden Längswand, die gleichzeitig als Stützmauer gegen den Berghang diente, verschüttet und schwer verletzt.
Durch Bescheid vom 26. Oktober 1965 lehnte der Beklagte die Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung mit der Begründung ab, W. habe nicht unter dem Unfallversicherungs(UV)schut z gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestanden, da es sich bei der unfallbringenden Tätigkeit um Bauarbeiten gehandelt habe, die nicht der Schaffung von Wohnraum dienten.
Das Sozialgericht (SG) Speyer hat am 23. Juni 1966 unter Aufhebung dieses Bescheides den Beklagten verurteilt, den Klägern anläßlich des tödlichen Arbeitsunfalls des W. die gesetzlichen Leistungen zu gewähren: W. sei bei einer in Selbsthilfe verrichteten Tätigkeit am Bau eines Familienheimes, wodurch öffentlich geförderte Wohnungen geschaffen werden sollten, verunglückt. Der allerdings erst einige Jahre nach Fertigstellung des Wohnhauses begonnene Garagenbau sei doch als ein Teil des Gesamtbauvorhabens anzusehen. Die Errichtung der Garage sei zunächst nur aus finanziellen Gründen zurückgestellt worden, obwohl sie nicht nur zweckmäßig, sondern bei der Größe der Familie geradezu notwendig gewesen sei. Diese Erweiterung eines - im Rahmen des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG in der Fassung vom 1. August 1961, BGBl I 1121) öffentlich geförderten - Familienheimneubaus müsse auch noch als Schaffung neuen Wohnraums versichert sein.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 9. Dezember 1966 die Berufung des Beklagten zurückgewiesen: Zwar unterlägen nicht alle nach dem II. WoBauG geförderten Baumaßnahmen dem UVSchutz des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO. Insbesondere scheide der in § 17 II. WoBauG geregelte Wohnungsbau durch Ausbau oder Erweiterung eines bestehenden Gebäudes aus dem UVSchutz aus, da § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO auf diesen Tatbestand nicht Bezug nehme und auch den § 17 II. WoBauG nicht zitiere. Der von W. im Juli 1965 begonnene Garagenbau falle aber nicht unter § 17 II. WoBauG; diese Vorschrift gelte nicht für jeden Ausbau und jede Erweiterung eines Gebäudes im sprachlichen Sinne, sondern erfasse nur die Schaffung neuen Wohnraums, etwa durch Ausbau eines Dachgeschosses oder Aufstockung; die Begriffe Ausbau und Erweiterung im Sinne des § 17 II. WoBauG seien eng auszulegen. Würde man bei der Frage, ob der Garagenbau als Teil des Gesamtbauvorhabens "Errichtung eines Familienheimes" anzusehen sei, den zeitlichen Zusammenhang entscheiden lassen, führe das zu dem unsozialen Ergebnis, daß gerade solche Familien benachteiligt würden, die aus finanziellen Gründen außerstande seien, ein Familienheim in einem Zuge vollständig auf- und auszubauen, sondern für die Vollendung sämtlicher Bauabschnitte mehrere Jahre benötigten. Es komme daher darauf an, ob der Anbau der Garage seinem baulichen Zweck nach derart dem bereits errichteten Familienheim diente, daß die Garage mit dem Wohnhaus zusammen als eine bauliche Einheit zu betrachten sei. Entscheidend für die Bejahung dieser Frage sei, daß der Garagenbau vor allem dem Zweck diente, das Baugrundstück gegen das höher gelegene Nachbargelände und die eigene Bergseite abzusichern; die Wichtigkeit dieses Zweckes werde gerade durch den Unfall des W., der auf das Abrutschen von Erdmassen im Hang zurückzuführen sei, deutlich hervorgehoben. Sodann sei erst durch die Garage ein direkter Zugang von außen zu den Kellerräumen geschaffen worden. Damit habe also die Garage - ganz abgesehen davon, daß sie noch als Abstellraum für die große Familie nötig war - sowohl der Absicherung des ganzen Gebäudes als auch der praktischeren Benutzung der Wirtschaftsräume gedient. Aber auch wenn die Garage der Familie W. zur Unterstellung eines Kraftfahrzeugs hätte dienen sollen, müßte sie in Anbetracht der modernen Verkehrsverhältnisse als ein Teil des Familienheims angesehen werden. Der Garagenbau von 1965 stelle daher die Fortsetzung und Vollendung des Eigenheimbaus 1960/61 dar. Der UVSchutz erstrecke sich - wenn das Gesamtbauvorhaben der Schaffung einer öffentlich geförderten Wohnung diene - auf die an diesem Bauvorhaben arbeitende Person auch dann, wenn sie im konkreten Fall nicht gerade an Wohnräumen, sondern an Nebenräumen arbeite, die der Errichtung des gesamten Familienheimes dienten. Dahingestellt könne bleiben, ob die unfallbringende Tätigkeit des W. auch den Merkmalen des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 2 RVO entspreche, denn W. habe im Unfallzeitpunkt schon unter dem UVSchutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO gestanden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 9. Februar 1967 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. März 1967 Revision eingelegt und sie am 21. März 1967 wie folgt begründet:
Der Bau einer Garage unterstehe nur dann dem UVSchutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO, wenn er gleichzeitig mit dem Bau des Familienheimes selber erfolge, nicht jedoch, wenn er - wie hier - erst vier Jahre später zeitlich völlig unabhängig vom ursprünglichen Wohnhausbau begonnen werde. Der zeitliche Zusammenhang bilde - entgegen der Ansicht des LSG - gerade das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob eine Baumaßnahme dem UVSchutz unterliege. Die vom LSG für die bauliche Einheit von Familienheim und nachträglich angebauter Garage angeführten Gesichtspunkte überzeugten nicht. Wenn - wie auch das LSG annehme - alle in § 17 II. WoBauG geregelten Tatbestände vom UVSchutz ausgeschlossen seien, obwohl sie sich doch unmittelbar auf die Schaffung neuen Wohnraumes bezögen, dann müsse das erst recht für Baumaßnahmen wie den Garagenbau gelten, die mit dem eigentlichen Wohnen nichts mehr zu tun hätten. Das LSG habe die aus den §§ 539 Abs. 1 Nr. 15, 770 Satz 4 RVO abzuleitende Grenze des sozial Förderungswürdigen verkannt.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen Zurückweisung der Revision. Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Mit Recht trägt die Revision allerdings vor, das angefochtene Urteil sei nicht ganz folgerichtig, da es den nachträglichen Anbau einer Garage an das Familienheim als einen Teil des UVgeschützten Familienheimbaus ansehe, wogegen auf nachträgliche Ausbauten und Erweiterungen des Familienheims selbst zwecks Schaffens von Wohnraum (§ 17 des II. WoBauG) die Vorschrift des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO nicht anwendbar sein solle. Legt man den Begriff "Bau eines Familienheims" so eng aus, daß die in § 17 des II. WoBauG angeführten Baumaßnahmen von vornherein nicht hierzu gehören (vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1968, 199), so will es nicht einleuchten, weshalb ein nachträglicher Garagenbau, der keinen eigentlichen Wohnraum schafft, versicherungsrechtlich anders behandelt werden soll; vielmehr wäre in diesem Fall der UVSchutz erst recht zu verneinen (so auch SG Koblenz, Urteil vom 31. Januar 1966, mehrfach zitiert bei Vollmar, SozVers 1967, 280, 282, 283), denn die Errichtung einer Garage erscheint sozialpolitisch gewiß nicht schutzwürdiger als eine - durch Anwachsen der Familie bedingte - Gewinnung neuen Wohnraums durch Aufstockung, Ausbau des Dachgeschosses oder Anbau eines Wohnflügels.
Diese Erwägungen führen jedoch nicht zur Klagabweisung, vielmehr trifft das angefochtene Urteil trotz dieser widersprüchlichen Begründung im Ergebnis zu. Der erkennende Senat ist freilich im Unterschied zum LSG der Auffassung, daß als Bau eines Familienheims im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO unter bestimmten Voraussetzungen auch der Ausbau oder die bauliche Erweiterung eines bestehenden Familienheims anzusehen ist. In dieser Hinsicht wird in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 27. Juni 1968 (2 RU 263/67), das die oben angeführte Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. September 1967 (Breithaupt 1968, 199) aufgehoben hat, insbesondere folgendes ausgeführt: Daß in § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 3 RVO bestimmte Vorschriften des II. WoBauG als für die Begriffsbestimmungen maßgebend bezeichnet würden, lasse die Frage offen, was unter "Bau" eines Familienheims im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO zu verstehen sei. Ein Ausschluß der in den §§ 16 (Wiederaufbau) und 17 (Ausbau und Erweiterung) des II. WoBauG normierten Tatbestände vom Anwendungsbereich des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO entspräche nicht dem Zweck des Gesetzes, den Bau von Familienheimen zu fördern. Der UVSchutz für die im Rahmen der Selbsthilfe tätigen Personen könne sich - entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Ansicht - nicht allein auf Selbsthilfetätigkeiten bei Neubauten beschränken; als "Bau" seien vielmehr bei natürlicher Betrachtungsweise nicht nur ein Neubau, sondern auch ein Wiederaufbau und schließlich auch unter Umständen der Ausbau und die Erweiterung eines bestehenden Familienheims anzusehen.
Von diesem - berichtigten - Ausgangspunkt her ist den Ausführungen, mit denen das LSG den UVSchutz für W. begründet hat, im wesentlichen beizupflichten. Mit Recht hat das LSG als bedeutsam erachtet, daß die Errichtung der Garage u. a. auch den Zweck verfolgte, das Wohnhaus gegen den Berghang insofern abzusichern, als die Längsaußenwand der Garage zugleich als Stützmauer gegen das abschüssige Erdreich diente. Diese von der Revision nicht angegriffene Feststellung erlaubt den Schluß, daß die Garage eine für die Bewohnbarkeit und Erhaltung des Familienheims unbedingt erforderliche Ergänzung des gesamten öffentlich geförderten Bauvorhabens darstellte. Der Bau der auf der Stützmauer ruhenden Garage kann daher unbedenklich - trotz des zeitlichen Abstandes - noch dem Bau des Familienheims selbst zugerechnet werden.
W. hatte sich nun freilich im Unfallzeitpunkt nicht gerade an der - bereits fertiggestellten - Garagenaußenwand betätigt, sondern war dabei, den Fußboden zu ebnen. Dies rechtfertigt jedoch keine abweichende Beurteilung. Das LSG hat zutreffend den weiteren Gesichtspunkt hervorgehoben, unter den modernen Verkehrsverhältnissen sei eine Garage allgemein als notwendiges Zubehör zur zeitgemäßen Ausstattung eines Familienheims anzusehen. Die von der Revision hiergegen gerichteten Angriffe sind unbegründet. Schon vor nunmehr fast drei Jahrzehnten wurde mit dem Erlaß der - auch jetzt noch geltenden (vgl. BVerwG 2, 122) - Reichsgaragenordnung (RGaO) vom 17. Februar 1939 (RGBl I 219) die große Bedeutung hervorgehoben, die - angesichts der Zunahme der Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr - der ausreichenden Bereitstellung von Einstellplätzen außerhalb der öffentlichen Verkehrsflächen zukommt. Zwar ist seither bei Errichtung von Wohnstätten in erster Linie nur die Schaffung von Einstellplätzen zwingend vorgeschrieben (§ 2 RGaO), während eine Garagenbaupflicht nur unter bestimmten Voraussetzungen besteht (§ 3 RGaO), die bei dem von W. errichteten Familienheim wohl kaum vorgelegen haben dürften. Dies hindert indessen nicht, den nachträglichen Anbau der Garage an das seit vier Jahren bewohnte Familienheim nach der herrschenden Verkehrsauffassung (vgl. neuerdings auch § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe e des Bundesbaugesetzes vom 23. Juni 1960, BGBl I 341) als eine sachgemäße Ergänzung und Vollendung des Familienheimbaus zu betrachten, die versicherungsrechtlich nicht anders zu behandeln ist, als wenn die Garage seinerzeit bei der Schaffung der öffentlich geförderten Wohnung gleich mit angefügt worden wäre. Daher ist es auch mit dem LSG nicht als entscheidungserheblich anzusehen, daß die zum Unfall führende Tätigkeit des W. nicht unmittelbar dem Bau eines Wohnraums gedient hat.
Über die sonstigen in § 539 Abs. 1 Nr. 15 Satz 1 RVO aufgestellten Anspruchsvoraussetzungen - insbesondere zur Frage der Merkmale einer durch diese Vorschrift geschützten Selbsthilfetätigkeit (vgl. hierzu das Urteil vom 27. Juni 1968, 2 RU 212/67) - besteht zwischen den Beteiligten dieses Verfahrens kein Streit. Die Revision des Beklagten ist hiernach unbegründet und muß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen