Leitsatz (redaktionell)
Leistungen eines geschiedenen Versicherten an die frühere Ehefrau sind nur dann "Unterhalt" iS des RVO § 1265, wenn sie unabhängig von einer Gegenleistung der Empfängerin gewährt werden und mindestens 1/5 des notwendigen Lebensbedarfs decken (ständige Rechtsprechung).
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. Januar 1964 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin beansprucht als frühere Ehefrau des Versicherten F J Hinterbliebenenrente. Streitig ist, ob der Versicherte ihr in dem nach der Scheidung weitergeführten gemeinsamen Haushalt im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat (§ 1265 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1949 geschlossene Ehe der 1919 geborenen Klägerin mit dem 1888 geborenen Versicherten wurde im November 1957 rechtskräftig unter Alleinschuld der Klägerin geschieden. Der Versicherte ist am 21. Juni 1962 gestorben. Er bezog eine Invalidenrente seit 1949 und eine Sonderhilfsrente vom Wiedergutmachungsamt. Die Renten betrugen zuletzt monatlich 332,50 DM und 390,- DM.
Die Klägerin erhielt seit 1957 eine Versichertenrente von monatlich 89,80 DM im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten. Seit dem Tode des Versicherten bezieht sie Sozialhilfe.
Die Klägerin und der Versicherte lebten nach der Scheidung weiter in einem eheähnlichen Verhältnis mit gemeinsamer Lebens- und Haushaltsführung bis zum Tode des Versicherten. Der Versicherte bestritt aus seinen Renten Miete, Heizung, elektrischen Strom, Wäsche, Rundfunk, Fernsehen. Er gab der Klägerin wöchentlich 60,- DM zur Bestreitung der sonstigen Haushaltskosten für beide Personen. Die Klägerin konnte ihre eigene Rente voll für persönliche Dinge, wie Kleidung, verwenden. Die Klägerin besorgte die Haushaltsarbeiten. Der Versicherte half ihr dabei, da sie seit 1953 nach einer Kehlkopfoperation invalide war.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente ab: Die Geldmittel, die der Versicherte ihr zur Verfügung gestellt habe, seien nicht Unterhaltszahlungen im Sinne des § 1265 RVO, sondern Entgelt dafür, daß sie ihm den Haushalt geführt habe (Bescheid vom 25. Oktober 1962).
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verurteilt (Urteil vom 11. Juni 1963). Das LSG Hamburg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 30. Januar 1964). Es hat die letzte Alternative des § 1265 RVO - tatsächliche Unterhaltsleistung des Versicherten im letzten Jahr vor dem Tod - bejaht.
Die Beklagte beantragt mit der Revision, das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 1265 RVO und des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und ist der Auffassung, mit der Ehescheidung hätten die Klägerin und der Versicherte eindeutig zu erkennen gegeben, daß sie nicht mehr die gesetzlichen Rechte und Pflichten von Ehegatten für sich in Anspruch nehmen und erfüllen wollten. Die Vorschriften des BGB über die Ehe seien weder direkt noch entsprechend anzuwenden. Das LSG stelle einen nicht bestehenden Erfahrungssatz auf, wenn es meine, die Beziehungen zwischen Geschiedenen würden bei eheähnlichem Verhältnis mit gemeinsamer Lebens- und Haushaltsführung von der früheren ehelichen Bindung bestimmt. Es sei vielmehr von dem gegenteiligen Erfahrungssatz auszugehen, daß die zur Verfügung gestellten Geldmittel, soweit sie die Lebenshaltungskosten überstiegen, als Gegenleistung für die Haushaltsbesorgung gewährt würden.
Das LSG habe damit die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und so gegen § 128 SGG verstoßen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Senat hat sich bereits in mehreren Entscheidungen mit dem Begriff des Unterhalts in § 1265 RVO im Zusammenhang mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwieweit bei eheähnlicher gemeinsamer Haushaltsführung trotz Ehescheidung der Mann die Frau durch Hergabe von Geldmitteln und Bezahlung gemeinsamer Aufwendungen im Sinne des § 1265 RVO "unterhält":
Urteil vom 21. Juni 1963 - 12/4 RJ 170/60 (BSG 19, 185 = SozR RVO § 1265 Nr. 13),
Urteil vom 29. Oktober 1963 - 12/3 RJ 176/59 (SozR aaO Nr. 19),
Urteil vom 28. November 1963 - 12 RJ 98/62 (SozR aaO Nr. 16).
Der Senat hält auch nach neuer Prüfung an seiner Rechtsauffassung, die in diesen Entscheidungen ausgedrückt ist und der das LSG nicht beigetreten ist, fest.
Die Stellungnahme des LSG zu der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geht zunächst insofern unzweifelhaft fehl, als das LSG davon ausgegangen ist (S. 8 des angefochtenen Urteils), das BSG sei der Auffassung, daß der geschiedene Mann mit seinen Geldleistungen an seine den gemeinsamen Haushalt führende frühere Ehefrau deren Dienste im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses entlohnen wolle. Der Senat ist vielmehr in BSG 19, 185, 186 ausdrücklich dem Berufungsgericht in jenem Rechtsstreit darin beigetreten, daß dort von einem Arbeitsverhältnis nicht gesprochen werden könne; eine solche rechtliche Konstruktion würde den tatsächlichen Beziehungen der Partner sicherlich nicht gerecht. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß die Leistungen des geschiedenen Versicherten Unterhalt im Sinne des § 1265, letzte Alternative, RVO darstellen.
Die Meinung des LSG, die Beziehungen zwischen früheren Eheleuten würden bei gemeinsamer Haushaltsführung nach wie vor von der früheren ehelichen Bindung bestimmt, wird der Bedeutung der Ehescheidung mit ihren einschneidenden Rechtswirkungen und dem objektiv bestehenden rechtlichen Unterschied zwischen einer Ehe und einem eheähnlichen Verhältnis nicht gerecht. Die Geschiedenen können die rechtlichen Auswirkungen der Scheidung und ihre Bedeutung nicht nach ihrem Belieben mit Wirkung für andere Rechtsverhältnisse hinfällig machen, indem sie in ihrem Verhältnis zueinander über die Rechtsfolgen der Scheidung und die Unterschiede zwischen Ehe und eheähnlichem Verhältnis hinweggehen.
Der Senat geht bei der Auslegung des § 1265 RVO von dem Begriff des "Unterhalts" aus, wie ausführlich in BSG 19, 185 und den übrigen obengenannten Entscheidungen dargelegt ist. Der Begriff "Unterhalt" wird im täglichen Leben und in Rechtsvorschriften vielfältig gebraucht, wie z. B. Unterhalt zwischen Verwandten - ohne Gegenleistung - (§ 1601 BGB), Unterhalt der Familie durch die Ehegatten. (§§ 1360, 1360 a BGB), Unterhalt als Entgelt für Beschäftigung (§ 1228 Abs. Nr. 2 RVO), Unterhalt der Haushaltführerin (§ 1288 Abs. 3 RVO). Die Sach- und Rechtslage, bei der in diesen Fällen von "Unterhalt" gesprochen wird, ist jeweils verschieden. Deshalb ist unter "Unterhalt" im Zusammenhang mit den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen und Rechtsvorschriften nicht immer das gleiche zu verstehen.
In § 1265 RVO ist die tatsächliche Unterhaltsleistung der im Zusammenhang mit der Scheidung begründeten Unterhaltspflicht des einen geschiedenen Ehegatten in ihren Rechtswirkungen völlig gleichgestellt. Die Unterhaltspflicht, die auf Grund der Scheidung nach dem Ehegesetz oder aus sonstigem Rechtsgrund entstanden ist, hängt nicht von einer Gegenleistung des Unterhaltsempfängers ab. Sie ist eine Auswirkung der Scheidung, die einseitig denjenigen früheren Ehegatten belastet, der zur Unterhaltsleistung verpflichtet ist. Infolge der Gleichstellung der Unterhaltspflicht mit der tatsächlichen Leistung von Unterhalt in § 1265 RVO muß auch diese - erwiesenermaßen - unabhängig von einer Gegenleistung des Empfängers erbracht werden, um "Unterhalt" im Sinne dieser Vorschrift sein zu können. Dazu kommt: Leben geschiedene Eheleute wieder in gemeinsamem Haushalt zusammen, ohne nochmals geheiratet zu haben, und besteht weder nach dem Ehegesetz noch aus sonstigem Grund eine Unterhaltspflicht des Mannes gegenüber seiner früheren Ehefrau, so leistet der Mann seiner früheren Ehefrau jedenfalls dann keinen Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO, wenn der Wert des Beitrages, den er zu dem gemeinsamen Haushalt beisteuert, nicht höher ist als der Wert des Beitrages der Frau einschließlich des Wertes der Haushaltsführung (SozR aaO Nr. 16). Bei der Haushaltsgemeinschaft stehen in der Regel die Geldhergabe des Mannes und die Haushaltsarbeiten der Frau einander objektiv als Leistung und Gegenleistung gegenüber.
§ 122 des Bundessozialhilfegesetzes, wonach Personen in eheähnlicher Gemeinschaft hinsichtlich Voraussetzung und Umfang der Sozialhilfe nicht besser als Ehegatten gestellt werden (vgl. dazu BVerwG in DÖV 1963, 617), und § 149 Abs. 5 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (siehe dazu BVerfG 9, 20, 29, 35) stehen nicht entgegen. Diese fürsorgerechtlichen und verwandten Vorschriften knüpfen an die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Unterstützung begehrenden Personen an und verhindern eine grundgesetzwidrige Benachteiligung von Ehegatten gegenüber Personen in eheähnlicher Gemeinschaft (Art. 6 GG). Der Ausgangspunkt bei § 1265 RVO - die Auswirkungen einer Ehescheidung auf den Unterhalt der Geschiedenen - ist jedoch ein ganz anderer: "Unterhalt" im Sinne des § 1265, letzte Alternative, RVO wird aus einem i n der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Tatbestand - geschiedene Ehe - heraus geleistet, ohne daß es auf das spätere Verhalten des Unterhaltsempfängers ankommt. Bei den Beiträgen zur fortgesetzten gemeinsamen Haushaltsführung steht dagegen die gegenwärtige gemeinschaftliche Bestreitung des Haushalts im Vordergrund, und diese führt in erster Linie zum gegenseitigen Geben und Nehmen.
Tatsächliche Unterhaltsgewährung liegt also nur vor, wenn und soweit die Leistungen des Versicherten an seine frühere Ehefrau unabhängig davon erbracht worden sind, ob diese eine Gegenleistung erbringt.
Hinzukommt ferner, daß eine Leistung nur dann als Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO angesehen werden kann, wenn ihre Höhe die Lebensführung des Empfängers merklich verbessert. Dies ist in der Regel nur dann der Fall, wenn der Unterhaltsbetrag etwa 25 v. H. des notwendigen Lebensbedarfs deckt (SozR § 1265 RVO Nr. 26).
Soweit nicht nur der Versicherte Leistungen an die Klägerin erbracht hat, sondern auch die Klägerin Leistungen für den Versicherten, kommt es mithin darauf an, ob vom Versicherten im letzten Jahr vor seinem Tode zur Klägerin so viel mehr an Leistungen geflossen ist, daß der Wert der Mehrleistungen des Versicherten die Voraussetzungen eines Unterhalts im Sinne des § 1265 RVO erfüllt, d. h. ob Mehrleistungen des Versicherten, die ohne Rücksicht auf eine Gegenleistung der Klägerin erbracht sind, mindestens 25 v. H. des notwendigen Lebensbedarfs deckten.
Die Feststellungen im angefochtenen Urteil sind nicht klar genug, um zu entscheiden, ob der Versicherte seinen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt ohne Gegenleistung beigesteuert hat bzw. ob sein Beitrag die Gegenleistungen der Klägerin in einem Ausmaß überstiegen hat, daß seine Mehrleistungen für sich allein einen Betrag erreichten, der 25 v. H. des notwendigen Lebensbedarfs der Klägerin deckte.
Das angefochtene Urteil enthält zwar gewisse Wendungen, die dahin aufgefaßt werden könnten, als habe das LSG als erwiesen angesehen, daß der Versicherte Leistungen an die Klägerin unabhängig davon erbracht habe, ob diese eine Gegenleistung erbringe, wie z. B. den Hinweis auf die Fortzahlung des wöchentlichen Wirtschaftsgeldes während der Kuraufenthalte des Versicherten 1958 und 1960. Diese Ausführungen des LSG in tatsächlicher Hinsicht sind jedoch nicht genügend klar und eindeutig, um daraus zu entnehmen, was an Tatsachen festgestellt ist und was nur beiläufig im Zusammenhang mit der Stellungnahme zu der Rechtsprechung des BSG gesagt ist.
Das LSG hat ferner nur den Wert der Geldleistungen des Versicherten für Miete usw. sowie die Zahlungen an die Klägerin für die Bestreitung des Haushalts wertmäßig festgestellt. Es wird, abgestellt auf das letzte Jahr vor dem Tode des Versicherten, insbesondere weiter feststellen müssen, welchen Geldwert die Haushaltsarbeit der Klägerin gehabt hat, ferner welchen Geldwert Hilfeleistungen des Versicherten im Haushalt hatten. Bei der Gegenüberstellung dieser verschiedenen geldlichen Werte wird sich ergeben, ob der Wert der Leistungen des Versicherten zur gemeinsamen Haushaltsführung den Wert des Beitrages der Klägerin so weit übersteigt, daß der Mehrwert Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO darstellen kann.
Der Rechtsstreit ist daher an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung ist dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen