Beteiligte
… Klägerin und Revisionsklägerin |
Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg, Regensburger Straße 104, Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin höheres Arbeitslosengeld (Alg) zu beanspruchen hat, weil ihr wegen ihrer Schwerbehinderung nach § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) ein Steuerfreibetrag zustand und sie deshalb vor Beginn der Arbeitslosigkeit höhere Nettoeinkünfte hatte.
Die Klägerin ist als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung um 70 vH anerkannt. Sie war zuletzt bei der Stadt D. als Verwaltungsangestellte beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete am 31. Dezember 1984, weil der Klägerin kein behinderungsgerechter Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden konnte.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin ab 1. Januar 1985 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 630,-- DM Alg in Höhe von 291,60 DM wöchentlich für 468 Tage (Bescheid vom 16. Januar 1984). Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 29. März 1985).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Duisburg - SG - vom 31. Januar 1986; Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - LSG - vom 1. Juli 1987).
Das LSG hat bestätigt, daß die Berechnung der Beklagten dem § 111 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der damals maßgeblichen Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes (HBegleitG) 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532, 1556) entsprach.
Der Auffassung der Klägerin, daß ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG vorliege, weil der ihr wegen der Schwerbehinderung zustehende Steuerfreibetrag nicht berücksichtigt worden sei, ist das LSG nicht gefolgt, weil der Gesetzgeber nicht dazu verpflichtet gewesen sei, die Berücksichtigung dieses Freibetrages typisierend in die Regelung des § 111 Abs 2 Satz 2 AFG und die nach § 1111 Abs 2 Satz 1 AFG erlassene AFG-Leistungsverordnung einzuarbeiten.
Die in § 111 AFG zum Ausdruck gebrachte Differenzierung nur nach dem Familienstand sei nicht willkürlich, zumal steuerrechtliche Vorschriften einen anderen rechtlichen Ausgangspunkt hätten als das Leistungsrecht des AFG.
Mit der Revision macht die Klägerin weiterhin geltend, daß § 111 Abs 2 AFG verfassungswidrig sei, soweit er den Steuerfreibetrag für Schwerbehinderte nach § 33b ES4G unberücksichtigt lasse, weil Schwerbehinderte, die eines besonderen Schutzes bedürften, im Vergleich zu den übrigen Arbeitnehmern benachteiligt würden (Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG). Der streitige Steuerfreibetrag habe den besonderen Zweck, die Erschwernisse auszugleichen, denen Schwerbehinderte ausgesetzt seien. Dem sei auch beim Alg Rechnung zu tragen. Die Berücksichtigung dieses Steuerfreibetrages biete keine besonderen verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten, auch seien Manipulationsmöglichkeiten ausgeschlossen, da die Freibeträge nach § 33b EStG gemäß § 39a Abs 2 EStG von Amts wegen in die Lohnsteuerkarten eingetragen würden.
Die Klägerin beantragt,die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Januar 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. März 1985 zu verurteilen, bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes den der Klägerin zustehenden Steuerfreibetrag für Schwerbehinderte von monatlich 145,-- DM zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Sie beruft sich im, wesentlichen auf die angefochtene Entscheidung und den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 3. April 1979 - 1 BvL 30/76 - SozR 4130 § 112 Nr 10.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet. Die Nichtberücksichtigung des steuerlichen Freibetrages für Schwerbehinderte bei der Berechnung von Alg ist nicht verfassungswidrig.
Die Klägerin rügt, § 111 Abs 2 AFG verstoße gegen Art 3 Abs 1 GG, weil der Freibetrag für Schwerbehinderte nach § 33b EStG bei der Bemessung des Alg nicht berücksichtigt und diesen dadurch bei Arbeitslosigkeit ein prozentual höherer Nettoeinkommensverlust zugemutet werde als anderen Arbeitnehmern.
Der Schwerbehinderte verdient in der Tat bei gleichem Bruttolohn und im übrigen gleichen Steuermerkmalen (laufend monatlich) netto mehr als der nicht Schwerbehinderte, weil er weniger Steuern zu zahlen hat. Dennoch erhält er Alg nur in der Höhe, die auch dem nicht Schwerbehinderten zusteht. Beim Schwerbehinderten ergibt sich also eine größere Differenz zwischen Nettoarbeitsentgelt und Alg.
Der Steuerfreibetrag nach § 33b EStG führte in der Gehaltsgruppe der Klägerin zur Erhöhung des Nettoentgelts um durchschnittlich 50,-- DM monatlich. Ohne Freibetrag hätte sie um 2.000,-- DM, monatlich erhalten, mit Freibetrag rund 2.050.-- DM. Insgesamt bewegen sich die Differenzen in den verschiedenen Einkommensgruppen zwischen ca 35,-- DM und 97,-- DM monatlich.
Auf das Alg wirkt sich diese Differenz in der Gehaltsgruppe der Klägerin mit etwa 31,20 DM (= 2,6 Prozent) im Monat aus. Bewilligt wurden ihr nämlich 291,60 DM pro Woche oder 1.264,-- DM pro Monat. Bei Berücksichtigung des durch den Steuerfreibetrag erhöhten Nettoentgelts hätten ihr etwa 298,80 DM zugestanden. Der Unterschiedsbetrag macht wöchentlich 7,20 DM oder monatlich 31,20 DM aus. Diese als ungleich empfundene Behandlung ist wegen der relativ geringen Auswirkung unter dem Gesichtspunkt der Pauschalierung hinzunehmen.
Allerdings ist der Klägerin einzuräumen, daß die geltende Regelung zu Benachteiligungen Schwerbehinderter führt, die verfassungsrechtliches Gewicht haben. Der Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG enthält die allgemeine Weisung, bei steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken im wesentlichen Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln (BVerfGE 3, 135 f; vgl ferner BVerfGE 1, 52; 9, 244; 18, 46; 37, 114; 38, 257; 42, 72; 45, 62; 49, 283). Hierbei sind die in den einzelnen Grundrechten zum Ausdruck kommenden besonderen Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu beachten. Diese schränken die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers ein, selbst zu bestimmen, was "gleich" und "ungleich" sein soll (vgl BVerfGE 17, 210, 217; 26, 325; 28, 324, 347; 36, 330 f; 69, 188, 205 f). Eine Verfassung, die Grundrechte statuiert und sachwidrige Ungleichbehandlung ausschließt, kann nur dahin verstanden werden, daß insbesondere im Bereich der Grundrechte Ungleichheiten besonders schwerwiegender und zwingender Gründe bedürfen.
Der beim Schwerbehinderten größere Unterschiedsbetrag zwischen Nettolohn und Alg bewirkt, daß dieser dem wirtschaftlichen Druck, die nächstbeste Verdienstmöglichkeit zu ergreifen, ungeachtet der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit der Berufs- und Arbeitsplatzwahl (Art 12 Abs 1 GG) in stärkeren Maße ausgesetzt wird als ein nicht Schwerbehinderter (auch wenn das Arbeitsangebot an sich unzumutbar ist). Unter dem Blickwinkel des Art 12 GG hat die Arbeitslosenversicherung die Wirkung, daß sie durch Sicherung des Lebensunterhalts des Arbeitslosen in den Grenzen der Zumutbarkeit zur Verwirklichung einer freien Berufs- und Arbeitsplatzwahl beiträgt. Sie schafft den notwendigen finanziellen Hintergrund, der es den Arbeitnehmern zumindest in begrenztem Rahmen ermöglicht, sich zunächst um eine ihren Wünschen, Kenntnissen und Fähigkeiten angemessene Tätigkeit zu bemühen (vgl Steinneyer in Gagel AFG § 103 Anm 39 ff mwN).
Unterschiedliche Differenzen zwischen bisherigem Nettoarbeitsentgelt und Alg führen dementsprechend auch zu unterschiedlichen Möglichkeiten, eine Zeit der Arbeitsplatzsuche durchzustehen und damit zu unterschiedlichem Druck auf den Einzelnen, alsbald auch eine dem Berufs- oder Arbeitsplatzwunsch nicht entsprechende Arbeit aufzunehmen. Dies gilt hier um so mehr, als der Steuerfreibetrag bei Schwerbehinderten nicht der Anregung eines bestimmten wirtschaftlichen Verhaltens, sondern zum Ausgleich erhöhter und unausweichlicher Bedürfnisse dient. Dadurch entsteht eine dreifache Benachteiligung (größerer Verlust beim Nettoeinkommen - höhere Bedürfnisse - geringere Arbeitsmarktchancen), die den Druck auf diese Arbeitnehmer, von ihrem Recht auf Arbeitsplatzwahl keinen Gebrauch zu machen, verstärkt.
Das verfassungsrechtliche Gewicht des beschriebenen Unterschiedes wird darüber hinaus dadurch vergrößert, daß im Rahmen des Gleichheitssatzes auch das Sozialstaatsprinzip (Art 20 Abs 1 GG) eine prägende Bedeutung hat (BVerfGE 38, 187, 198; 39, 316, 327), Das Sozialstaatsprinzip ist ein allgemeiner die Verfassung durchdringender Grundsatz, der bei der Anwendung der Grundrechte, insbesondere des Art 3 Abs 1 CG, in die Wertung einzubeziehen ist.
Aus dieser Verbindung von Art 3 Abs 1, 12 Abs 1 und 20 Abs 1 GG ergeben sich Bedenken, wenn die Arbeitsplatz- und Berufswahl für Behinderte, die nach dem Sozialstaatsgrundsatz besonderer Hilfen und finanzieller Absicherung bedürfen, gegenüber den Gesunden durch eine größere Differenz zwischen Nettoentgelt und Alg eingeengt wird.
Trotz der den Ungleichheiten nicht hinreichend Rechnung tragenden gesetzlichen Regelung vermochte der erkennende Senat den auf Art 3 Abs 1 GG gestützten Bedenken der Klägerin jedoch nicht zu folgen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nämlich nur vor, wenn der Gesetzgeber tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse nicht berücksichtigt, die so bedeutsam sind, daß sie - auch unter Anerkennung eines im Bereich der Leistungsgewährung besonders weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers - bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen, wenn der Gesetzgeber also diesen Spielraum überschritten hat (BVerfGE 17, 319, 330; 50, 177, 186). Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstiger sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung, nicht finden läßt, wenn die Bestimmung also als willkürlich bezeichnet werden muß (st Rspr des BVerfG).
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zwar mag es zutreffen, daß die Berücksichtigung des Steuerfreibetrags für Schwerbehinderte bei der Alg-Berechnung keinen sehr hohen Verwaltungsaufwand erfordert. Der Gesetzgeber hat aber gerade im Bereich der Alg-Bemessung einen erheblichen Regelungsspielraum zur Pauschalierung und Typisierung, von dem er bei der geltenden Regelung des Alg durch Nichtberücksichtigung zahlreicher Entgeltteile, durch pauschalen Abzug von Steuern (auch dort, wo zB keine Kirchensteuer zu zahlen ist), sowie durch Orientierung an den in die Steuerkarte eingetragenen Daten und an dem Verdienst der letzten Abrechnungszeiträume Gebrauch gemacht hat. Bei einem derart generalisierten Berechnungsverfahren liegt es im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers auch sonstige Besonderheiten, die sich nicht sehr erheblich auf die Höhe des Alg auswirken - bei der Klägerin mit etwa 2,6 Prozent - zur weiteren (wenn auch geringfügigen) Verringerung des Verwaltungsaufwandes unberücksichtigt zu lassen. Dies gilt besonders, weil damit die Möglichkeit nicht, ausgeschlossen wird, diese Besonderheiten im Lohnsteuerjahresausgleich oder bei der Einkommensteuerveranlagung zu berücksichtigen. Ein Verfassungsverstoß kann darin nicht erblickt werden.
Daß insgesamt gegen die aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und im Interesse der zügigen Abwicklung der Aufgaben einer Massenverwaltung gesetzlich vorgesehene weitgehende Pauschalierung und Typisierung verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen, ist durch die Rechtsprechung bereits in Zusammenhang mit mehreren dieser Regelungen bestätigt worden. Das BVerfG hat entschieden (BVerfGE 63, 255 = SozR 4100 § 111 Nr 6), daß sich steuerliche Vergünstigungen für Kinder in Ausbildung nicht beim Alg niederschlagen müssen, und zur Begründung ausgeführt, die Berücksichtigung dieser sog "Kinderadditive" beim Alg widerspreche dessen Zweckbestimmung, erfordere einen zu hohen Verwaltungsaufwand und sei deshalb nur nachträglich in einem dem Lohnsteuerjahresausgleich entsprechenden Verfahren möglich. Zuvor hatte das BVerfG bereits die Nichtberücksichtigung von Überstunden bei der Bestimmung des Bemessungsentgelts nach § 112 AFG für verfassungsgemäß erachtet (BVerfGE 51, 115 = SozR 4100 § 112 Nr 10), weil bei der zur Ordnung von Massenerscheinungen notwendigen Typisierung selbst im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot erhebliche Unterschiede im Einzelfall hinnehmbar seien und der Gesetzgeber sachgerecht handele, wenn er durch Nichtberücksichtigung der Überstunden das Alg an dem Ausfall eines tariflich bezahlten Arbeitsplatzes orientiere. Ebenso hat das BSG entschieden (SozR 4100 § 112 Nr 14 S 63), es widerspreche nicht der Lohnersatzfunktion des Alg, wenn es sich nicht in jedem Fall vollständig an dem bisherigen Verdienst orientiere, sondern diejenige Arbeitszeit zugrunde lege, die nach Arbeitszeitordnung und Tarifverträgen in Zukunft dauerhaft vereinbart werden könne. Alle Entscheidungen haben darauf hingewiesen, daß in der nicht vom Äquivalenzprinzip geprägten Arbeitslosenversicherung Unterschiede zwischen dem Bemessungsentgelt für die Beiträge und dem Bemessungsentgelt für die Leistungen hinzunehmen seien (s auch BSGE 45, 49, 58 f).
Allerdings sind die in diesen Entscheidungen angeführten Gründe nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragbar. Sie rechtfertigen aber insgesamt eine grobmaschige Berechnungsmethode in deren Rahmen dann auch kleinere, für sich genommen nicht zu rechtfertigende Unterschiede hinzunehmen sind.
Aus diesen Gründen vermochte der erkennende Senat der Auffassung der Klägerin nicht zu folgen, so daß die Revision keinen Erfolg haben konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 517948 |
BSGE, 214 |