Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschlußfrist bei rechtswidrigem Rücknahmebescheid. Beginn der Jahresfrist
Orientierungssatz
1. Die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 gilt uneingeschränkt auch für einen Rücknahmebescheid, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen bzw aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheids oder Rücknahmebescheids tritt (Aufgabe von BSG vom 26.8.1987 11a RA 30/86 = BSGE 62, 103 und BSG vom 24.2.1988 11 RAr 26/87 = BSGE 63, 37).
2. Zur Auslegung des Begriffs "Kenntnis der Tatsachen" aus § 45 Abs 4 S 2 SGB 10.
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs 4 S 2; VwVfG § 48 Abs 4 S 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 25.08.1987; Aktenzeichen L 7 Ar 283/85) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 27.08.1985; Aktenzeichen S 4 Ar 338/84) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) befugt war, die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. August bis 10. Dezember 1983 zurückzunehmen.
Der Kläger bezog Arbeitslosengeld bis zur Erschöpfung dieses Anspruchs am 29. Juni 1983. Anläßlich seines Antrags auf Anschluß-Alhi teilte er der Beklagten mit, er werde voraussichtlich zum 1. August 1983 eine selbständige Tätigkeit im Immobilien-, Finanzierungs- und Versicherungsbereich aufnehmen; diese Tätigkeit werde zunächst eine wöchentliche Arbeitszeit von 18 Stunden beanspruchen. Daraufhin bewilligte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 12. August 1983 Alhi ab 30. Juni 1983. Auf die Veränderungsmitteilung des Klägers vom 26. Juli 1983, er werde ab 1. August 1983 selbständig tätig werden, stellte die Beklagte die Leistungen ein. Am 19. September 1983 gab der Kläger gegenüber der Beklagten an, er arbeite bis 18 Stunden wöchentlich als Selbständiger. Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Oktober 1983 weiterhin Alhi ab 1. August 1983. Diese Bewilligung hob die Beklagte für die Zeit ab 1. August bis 10. Dezember 1983 gemäß § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) auf und machte für die Zeit eine Erstattungsforderung in Höhe von 4.895,16 DM geltend. Zur Begründung führte sie aus, es sei eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten. Denn der Kläger habe ab dem 1. August 1983 eine selbständige Tätigkeit von mehr als 20 Stunden wöchentlich ausgeübt und sei demzufolge nicht arbeitslos iS von § 101 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gewesen. Außerdem habe sein Einkommen bei weitem den Leistungssatz überstiegen, so daß er auch nicht bedürftig gewesen sei (Bescheid vom 9. Juli 1984; Widerspruchsbescheid vom 28. November 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid vom 9. Juli 1984 idF des Widerspruchsbescheides vom 28. November 1984 aufgehoben, soweit die Bewilligung der Alhi für die Zeit vom 1. August bis 10. Dezember 1983 aufgehoben und eine Rückerstattungsforderung festgestellt worden ist (Urteil vom 27. August 1985).
Im Berufungsverfahren nahm die Beklagte mit Bescheid vom 18. Juni 1986 die Bewilligung von Alhi gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB 10 für die Zeit vom 1. August bis 10. Dezember 1983 zurück, weil der Kläger ab 1. August 1983 nicht mehr arbeitslos und im Hinblick auf die Höhe seines Einkommens auch nicht bedürftig gewesen sei. Unter Berücksichtigung des nach § 45 SGB 10 auszuübenden Ermessens erscheine die Rücknahme der Alhi-Bewilligung ab 1. August 1983 geboten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat den Bescheid vom 18. Juni 1986, der als mit der Klage angefochten gelte und allein noch Gegenstand des Berufungsverfahrens sei, aufgehoben (Urteil vom 25. August 1987). Zur Begründung führte das LSG aus: Die einjährige Ausschlußfrist nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10, die spätestens am 9. Juli 1984 begonnen habe, sei bei Erlaß des Bescheides vom 18. Juni 1986 bereits abgelaufen gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 1986 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht den Rücknahmebescheid vom 18. Juni 1986 schon deswegen als rechtswidrig aufgehoben, weil die Rücknahmefrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 nicht gewahrt ist.
Die Aufhebung der Alhi-Bewilligung ist an § 45 SGB 10 zu messen, wie die Beklagte in der Begründung des Rücknahmebescheides vom 18. Juni 1986 zutreffend erkannt hat, und nicht an § 48 SGB 10, auf den die Beklagte ihren ersten Aufhebungsbescheid vom 9. Juli 1984 zu Unrecht gestützt hatte. Die Alhi-Bewilligung für den streitigen Zeitraum war schon bei Erlaß des Bewilligungsbescheides iS des § 45 SGB 10 rechtswidrig und ist nicht erst durch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB 10 später rechtswidrig geworden. Die wesentlichen Umstände, aus welchen die Beklagte den Wegfall des Alhi-Anspruchs wegen der Ausübung einer mehr als kurzfristigen selbständigen Tätigkeit des Klägers herleitet, waren sämtlich schon vor dem Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 3. Oktober 1983 eingetreten.
Im streitigen Bescheid vom 18. Juni 1986 wurde die Alhi-Bewilligung iS des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 "mit Wirkung für die Vergangenheit" zurückgenommen, nämlich für die Zeit vom 1. August 1983 bis zum 10. Dezember 1983. Das LSG hat die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 als nicht gewahrt angesehen. Die Beklagte habe spätestens bei Erteilung des Bescheides vom 9. Juli 1984 die den Fristbeginn auslösende Kenntnis gehabt. Der inzwischen rechtskräftig aufgehobene erste Aufhebungsbescheid sei für den Fristablauf ohne Bedeutung. Demgegenüber beruft sich die Beklagte auf eine in etwa zeitgleich mit dem Berufungsurteil ergangene Entscheidung des erkennenden Senats, daß die Jahresfrist auch dann gewahrt sei, wenn ein fristgemäßer erster Aufhebungsbescheid nach seiner rechtskräftigen Aufhebung "alsbald" durch einen zweiten Aufhebungsbescheid ersetzt werde, da das von der Jahresfrist geschützte Vertrauen in die Bindungswirkung des früheren Bescheides schon durch den ersten Änderungsbescheid erschüttert worden sei (BSGE 62, 103, 108 = SozR § 48 Nr 39).
Der Senat beantwortet nach nochmaliger Prüfung die angeführte Rechtsfrage dahin, daß die einjährige Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 auch für einen Rücknahmebescheid uneingeschränkt gilt, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen bzw aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheides oder Rücknahmebescheides tritt. Er gibt damit seine in der oben angeführten Entscheidung vertretene Rechtsauffassung (BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39 und ebenso BSGE 63, 37, 43 = SozR 1300 § 45 Nr 34) auf.
Der Senat hat in den genannten Entscheidungen hervorgehoben, daß die Jahresfrist dem Vertrauensschutz diene und ein schutzwürdiges Vertrauen durch den ersten Aufhebungsbescheid erschüttert werde. Die Jahresfrist bewirkt jedoch, daß die Behörde ein Jahr nach Kenntnis von einem Rücknahmegrund das Recht verliert, den Verwaltungsakt aus diesem Grunde mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese zeitliche Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit dient der Rechtssicherheit.
Im allgemeinen mag es zwar zutreffen, bei den auf dem Rechtsgrundsatz der Verwirkung beruhenden Ausschlußfristen das Zeitmoment und die für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bedeutsamen Umstände als in etwa gleichwertig anzusehen. Bei der für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit geltenden Jahresfrist ist jedoch von entscheidender Bedeutung, daß diese Frist nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB 10 allein für Fälle vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens des Begünstigten gilt, weil das Gesetz bei Schuldlosigkeit oder in Fällen einfacher Fahrlässigkeit eine rückwirkende Rücknahme nicht vorsieht. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 greift - anders als die des § 48 Abs 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) - selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung ein. Sie betrifft damit gerade die Fallgestaltungen, in denen eine Verwirkung nur im Hinblick auf den Zeitablauf, nicht aber wegen des Verhaltens des Begünstigten in Betracht kommen kann. Das schließt es aus, der vertrauensmindernden Wirkung der ersten - rechtswidrigen - Rücknahme entscheidende Bedeutung beizumessen; es kommt vielmehr allein auf den Zeitablauf an.
Bei dieser eindeutigen zeitlichen Orientierung vermag die Jahresfrist der mit ihr erstrebten Rechtssicherheit aber nur dann wirksam zu dienen, wenn ihr Anwendungsbereich möglichst eindeutig und streitfrei bestimmt wird. Anders als die aufgegebene Rechtsauffassung vermeidet die jetzt vertretene deshalb auch Zweifel dahin, ob in Fällen des § 48 SGB 10 eine fehlerfreie Wiederholung schon während oder erst nach Abschluß eines hinsichtlich der ersten - fehlerhaften - Aufhebung anhängigen Gerichtsverfahrens zulässig ist (vgl hierzu die Urteile des 7. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 24. August 1988 - 7 RAr 53/86 -, BSGE 64, 36 = SozR 1300 § 48 Nr 2, vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87 - und vom 23. November 1988 - 7 RAr 126/87 -). Außerdem entspricht es dem Verfassungsgrundsatz eines effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG), Rechtsvorschriften im Zweifel so auszulegen, daß ein wegen Rechtswidrigkeit aufgehobener Verwaltungsakt für den Betroffenen auch mittelbar keine nachteiligen Folgen hat. Diesem Grundsatz würde die Annahme der Fristwahrung durch einen rechtswidrigen ersten Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid zuwiderlaufen.
Demgegenüber kann die Revision nicht mit dem Hinweis durchdringen, wenn nach § 211 des Bürgerlichen Gesetzbuches durch eine später als unzulässig abgewiesene Klage die Verjährung eines Anspruchs unterbrochen werde, müsse auch ein später als verfahrensfehlerhaft aufgehobener Bescheid die Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 wahren. Verjährungsvorschriften sind nämlich auf Ausschlußfristen nur nach Maßgabe des besonderen Charakters der jeweils eingreifenden Ausschlußfrist anwendbar (vgl BSGE 64, 153 = SozR 1300 § 27 Nr 4 - zur Anwendung der Wiedereinsetzung nach § 27 Abs 5 SGB 10 auf materielle Ausschlußfristen). In der Ausschlußfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 hat der Gesetzgeber bereits die Frage geregelt, inwieweit sich ein Irrtum der Behörde über das einzuschlagende Verfahren auf den Fristablauf auswirkt, worauf noch näher einzugehen ist. Das schließt einen Rückgriff auf § 211 BGB aus.
Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von der Rechtsprechung anderer Senate iS des § 42 SGG ab. Insoweit wird auf die Ausführungen in der Entscheidung des erkennenden Senats ebenfalls vom 27. Juli 1989 - 11/7 RAr 115/87 - Bezug genommen.
Die bei der Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 zu beachtende Jahresfrist beginnt mit der "Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen".
Obwohl der Gesetzeswortlaut auf die Kenntnis der Tatsachen abhebt, und nicht ausdrücklich die Kenntnis ihrer rechtlichen Bedeutung fordert, kommt nach Sinn und Zweck der Vorschrift auch eine ausdehnende, die Kenntnis der Rechtsfolgen einbeziehende Auslegung in Betracht, insbesondere wenn die Frist als Entscheidungsfrist verstanden wird, die nach dieser Zielsetzung erst mit der völligen Klärung der Sach- und Rechtslage beginnt. Dabei kann die Frage, ob auch die Kenntnis der Rechtsfolge zu fordern ist, hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes als Grundvoraussetzung der Rücknahme anders zu beantworten sein als hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme. Damit kann für den Fristbeginn maßgebend sein (1.) die Kenntnis der die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes begründenden Tatsachen, (2.) die Kenntnis aller die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen, (3.) die Rechts- und Tatsachenkenntnis hinsichtlich der Grundvoraussetzung der Rücknahme (der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes), während hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen die Tatsachenkenntnis genügt oder (4.) die Kenntnis aller Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, und ihrer rechtlichen Bedeutung. Die Fragestellung "Bearbeitungsfrist oder Entscheidungsfrist" betrifft nur die Zielsetzung der Vorschrift als einen Aspekt der Auslegung und erschließt damit nicht alle zu erwägenden Auslegungsmöglichkeiten.
Der vorliegende Sachverhalt zwingt nicht, sich für eine der Auslegungsmöglichkeiten 2. oder 3. zu entscheiden. Die Revision der Beklagten wäre nur begründet, wenn der weitesten Auslegungsmöglichkeit zu 4. (hinsichtlich aller Rücknahmevoraussetzungen volle Tatsachen- und Rechtskenntnis) zu folgen wäre. Nur dann wäre es erheblich, ob die Beklagte über die Pflicht zur Ermessensausübung irrte. Die von der Revision befürwortete Auslegung zu 4. ist indes ebenso wie die Auslegung zu 1., der das LSG gefolgt ist, abzulehnen. Ob der Auslegung zu 2. (nur Tatsachenkenntnis) oder zu 3. (hinsichtlich der Grundvoraussetzung auch Rechtskenntnis) zu folgen ist, läßt der Senat offen, so daß auch offen bleibt, ob diese Frage zum VwVfG anders als zum SGB 10 entschieden werden kann.
Gegen die Auslegung zu 1., daß die Frist schon mit Kenntnis der Tatsachen beginne, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes ergibt, hat sich der Große Senat des BVerwG in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1984 zu der entsprechenden Fristbestimmung in § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG ausgesprochen (BVerwGE 70, 356 ff). Das BSG hat sich dem zur Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB 10 angeschlossen (BSGE 60, 239, 240 und BSGE 62, 103, 108), auch zur entsprechenden Anwendung der Jahresfrist nach § 48 SGB 10 (SozR 1300 § 48 Nr 47 S 132/133). Dafür spricht insbesondere der Gesetzeswortlaut. Dieser nennt im VwVfG die Voraussetzungen der Rücknahme, im SGB 10 die Voraussetzungen der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit. Hätte der Gesetzgeber nicht auf die im SGB 10 und im VwVfG unterschiedlich umschriebenen Voraussetzungen für die Rücknahme abstellen wollen, sondern auf die in beiden Gesetzen einheitlich umschriebene Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes, so hätte er eine einheitliche Formulierung gewählt, zumal der Unterschied, daß die Jahresfrist nach dem SGB 10 nur die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit betrifft, während das VwVfG auch die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft an die Frist bindet, die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes als Grundvoraussetzung der Rücknahme nicht berührt.
Abzulehnen ist auch die Auslegungsmöglichkeit zu 4., die hinsichtlich aller Voraussetzungen der Rücknahme neben der Tatsachenkenntnis die Kenntnis der jeweiligen Rechtsfolge verlangt. Selbst wenn entsprechend der dritten Auslegungsmöglichkeit die Kenntnis hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes Tatsachen und Rechtsfolge umfassen muß, kann dies unter Berücksichtigung der hierfür maßgebenden Überlegungen jedenfalls nicht auf die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme im Sinne der Auslegung zu 4. übertragen werden. Mit dem Gesetzeswortlaut wäre es noch zu vereinbaren, die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes wie eine Tatsache zu behandeln, zumal das Gesetz auch in anderem Zusammenhang zwischen der rechtlichen und der tatsächlichen Rechtswidrigkeit (unrichtige Rechtsanwendung; unrichtiger Sachverhalt) eines Verwaltungsaktes nicht unterscheidet. Darauf weist das Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zu Recht hin (BVerwGE 70, 356, 359). Die im Gesetz angeordnete Unterscheidung zwischen Tatsachen und Rechtsfolgen wird in der 3. Auslegungsmöglichkeit nur hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes eingeschränkt, behält aber gleichwohl für die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme ihre Bedeutung. Würde ein Rechtsanwendungsfehler auch hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen den Fristbeginn ausschließen, so bliebe die im Gesetz angeordnete Beschränkung auf Tatsachen völlig unbeachtet. Hätte der Gesetzgeber das gewollt, so hätte er - kürzer - von der Kenntnis der Voraussetzungen der Rücknahme gesprochen.
Die entsprechende Fristvorschrift in § 48 Abs 4 VwVfG soll nach ihrer amtlichen Begründung nur die Fälle erfassen, in denen die Behörde durch tatsächliche Ereignisse auf die Rechtswidrigkeit eines konkreten Verwaltungsaktes hingewiesen wird, so daß allgemeine Hinweise ohne konkreten Fallbezug - wie zB das Bekanntwerden höchstrichterlicher Entscheidungen, die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit einer bestimmten Verwaltungspraxis oder einer bestimmten Parallelentscheidung - die Rücknahmefrist nicht in Lauf setzen (BT-Drucks 7/910, S 71; BVerwGE 70, 356, 361 f). Der Wille des Gesetzgebers, die Jahresfrist nicht mit dem Bekanntwerden höchstrichterlicher Entscheidungen beginnen zu lassen, beruht auf der Annahme, daß die Jahresfrist erst mit der Kenntnis der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes beginne. In diesem Zusammenhang deutet jedoch nichts darauf hin, daß der Gesetzgeber auch hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme bei Rechtsanwendungsfehlern den Fristbeginn ausschließen wollte.
Würden Rechtsanwendungsfehler auch hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme den Fristbeginn ausschließen, so bliebe für die Frist kaum ein Anwendungsbereich. Schon gegen die Auslegung zu 3. ist eingewandt worden, damit laufe die Jahresfrist leer, da die Behörde jederzeit Tatsachen, die bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden durften, neu ermitteln könne (vgl Kopp, DVBl 1985, 525 ff und Schoch NVwZ 1985, 880 ff). Hätte der Gesetzgeber des SGB 10 die Jahresfrist des VwVfG noch weitergehend im Sinne der Auslegung zu 4. verstanden, so hätte er die Frist wegen des unbedeutenden Anwendungsbereichs entweder zur Rechtsvereinfachung überhaupt nicht in das SGB 10 übernommen, oder er hätte sie wegen der erstrebten Übereinstimmung unverändert, also auch für die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft, in das SGB 10 übertragen.
An dieser Auslegung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 ist der Senat durch die bereits angeführte Entscheidung des Großen Senats des BVerwG nicht gehindert. Diesem war die Rechtsfrage vorgelegt, ob § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG auch den Fall erfasse, daß die Behörde nachträglich erkennt, den beim Erlaß eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt zu haben und deswegen unrichtig entschieden zu haben (BVerwGE 70, 356, 357). Gefragt war, ob in diesen Fällen die Jahresfrist bereits mit dem Erlaß des zurückgenommenen Verwaltungsaktes beginnt. Dies hat der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts verneint (aaO S 365). Das wird damit begründet, daß der Fristbeginn neben der Kenntnis derjenigen Tatsachen, die die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts begründen, die Rechtswidrigkeit selbst umfassen müsse und überdies die Tatsachen, die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen. Insoweit stimmt die vom Senat erörterte Auslegungsmöglichkeit zu 3. zum Fristbeginn mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts überein. Hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme läßt auch der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Kenntnis der Tatsachen genügen. Die Entscheidung verlangt neben der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts nicht die Kenntnis der übrigen Voraussetzungen der Rücknahmeentscheidung, sondern - jeweils ausdrücklich - die Kenntnis sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung erheblicher "Tatsachen" (aaO S 362), ein gewichtiges Anzeichen dafür, daß das Bundesverwaltungsgericht keinen weitergehenden Rechtssatz aufstellen wollte.
Gleichwohl soll vieles dafür sprechen, daß nach Auffassung des Großen Senats des BVerwG die fristauslösende Entscheidungsreife nach einer gerichtlichen Aufhebung eines fristgemäßen Rücknahme oder Widerrufsbescheides wegen unzureichender Ermessensausübung erst nach Kenntnis der Entscheidungsgründe gegeben sei, weil erst sie der Behörde im Sinne des angeführten Beschlusses "vollständige Kenntnis" über die für die Rücknahme- oder Widerrufsentscheidung erheblichen Tatsachen verschaffe (BVerwG vom 20. Mai 1988 - 7 B 79/88 - DÖV 1988, 975; ähnlich BSG SozR 1300 § 48 Nr 47 S 133). Ein solcher Rechtssatz ist indes der Entscheidung des Großen Senats des BVerwG jedenfalls nicht mit der für eine Divergenzanrufung erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen. Lediglich das zur Begründung verwandte Argument, es handele sich um eine Entscheidungsfrist und nicht um eine Bearbeitungsfrist (aaO S 363), könnte in diesem Sinne zu verstehen sein. Dieses trägt indes nicht die Entscheidung des Großen Senats, sondern wird nur unterstützend herangezogen. Die Entscheidung stützt sich in erster Linie auf den Gesetzeswortlaut, der zwar für die dort getroffene Entscheidung spricht, daß die Kenntnis der Tatsachen nicht ausreicht, die die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes ergeben, der aber einem weitergehenden Rechtssatz, daß auch hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen die Kenntnis der Rechtsfolge erforderlich sei, widersprechen würde. Eine Divergenz scheidet daher schon deshalb aus, weil der Entscheidung zu § 48 VwVfG ein abweichender Rechtssatz nicht zu entnehmen ist. Damit kann offenbleiben, ob beide Vorschriften einer unterschiedlichen Auslegung zugänglich sind (vgl hierzu einerseits SozR 1300 § 48 Nr 47 und andererseits Dörr Komp 1986, 97, 103; Hendler JuS 1985, 947, 950; Buriahnek JA 1985, 518, 519; Frehse ZfS 1988, 225).
Ob der vom BVerwG zu § 48 Abs 4 VwVfG geäußerten Rechtsauffassung, die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsaktes müsse die Kenntnis der Tatsachen und der Rechtsfolge umfassen (Auslegungsmöglichkeit zu 3.), auch zu § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 zu folgen ist, kann beim vorliegenden Sachverhalt offenbleiben. Die Beklagte hatte nämlich diese Kenntnis. Der Senat sieht deshalb von einer abschließenden Beurteilung ab. Die Rechtssicherheit wird dadurch nicht wesentlich betroffen. Denn es ist zweifelhaft, ob überhaupt Fälle denkbar sind, in denen diese Frage fallentscheidend wird. Das BVerwG wollte in denjenigen Fällen die Rücknahme nicht an der Jahresfrist scheitern lassen, in denen der Behörde der Sachverhalt schon bei Erlaß des begünstigenden Verwaltungsaktes bekannt war, die Rechtswidrigkeit aber erst später nach Bildung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung oder aufgrund einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bekannt wurde. In diesen Fällen scheitert im Bereich des SGB 10 eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit in aller Regel schon am Fehlen grober Fahrlässigkeit auf Seiten des Bürgers, so daß es auf die Frist nicht mehr ankommt. Die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft ist nach dem SGB 10 frei von dieser Frist möglich, so daß die Auslegung der Fristvorschrift auch hier nicht entscheidungserheblich werden kann. In der Praxis wird die Frist nur auf Sachverhalte anzuwenden sein, in denen sie nach der Auslegung zu 2. mit der Kenntnis der Tatsachen beginnt, die die Rücknahme rechtfertigen.
Auch wenn der Senat damit der Rechtsauffassung des LSG insofern nicht gefolgt ist, als er für den Beginn der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 neben der Kenntnis der Tatsachen, welche die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts begründen, auch die Kenntnis der Tatsachen verlangt, die die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts rechtfertigen, reichen die mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG doch aus, um das der Klage stattgebende Urteil zu bestätigen. Danach wußte die Beklagte bereits vor dem 17. Juni 1985 - nämlich spätestens seit dem 9. Juli 1984 -, daß der zurückgenommene Bewilligungsbescheid vom 3. Oktober 1983 bei seinem Erlaß wegen Nichtberücksichtigung der mehr als kurzzeitigen selbständigen Tätigkeit des Klägers so nicht hätte ergehen dürfen und damit rechtswidrig war. Ebenso waren ihr die Tatsachen zur Vertrauensabwägung und zur Ermessensausübung, die nach dem Rücknahmebescheid vom 18. Juni 1986 die Rücknahme rechtfertigen sollten, bereits vor dem 17. Juni 1985 bekannt. Die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 war mithin bei Erlaß des Rücknahmebescheides am 18. Juni 1986 abgelaufen. Wie vom erkennenden Senat bereits eingangs ausgeführt worden ist, greift die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 - anders als die des § 48 Abs 4 des VwVfG - selbst in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung ein. Der Senat hat deshalb nicht der Frage nachzugehen, ob der Kläger durch arglistige Täuschung den Bewilligungsbescheid erwirkt hat.
Da das LSG somit zu Recht den Rücknahmebescheid vom 18. Juni 1986 aufgehoben hat, war die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen