Orientierungssatz
Die Abwägung zwischen den öffentlichen und den beteiligten privaten Interessen führt in der Rentenversicherung dazu, die Beitragsnachforderung grundsätzlich für zulässig zu erachten. Das Interesse des Versicherten an der tatsächlichen Beitragsentrichtung überwiegt das des Arbeitgebers auf Schutz vor nachträglicher Inanspruchnahme (vergleiche BSG vom 1964-04-28 3 RK 9/60 = BSGE 21, 52, 55).
Das gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber nur wegen des auf ihn entfallenden Arbeitgeberanteils der Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch genommen wird.
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 03.11.1961) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. November 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Bei der Klägerin, einer offenen Handelsgesellschaft, war der Sohn Otto des Gesellschafters St. als Zweiggeschäftsleiter beschäftigt, und zwar gegen ein monatliches Entgelt von 375,- DM im Jahre 1953 und von 393,75 DM im Jahre 1954. Die Klägerin verbuchte die Zahlungen als Betriebsausgaben und führte für sie die Lohnsteuer ab.
Die Klägerin teilte der beklagten Ersatzkasse mit Schreiben vom 31. Juli 1953 mit, Otto St. werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Betrieb einmal übernehmen. Daraufhin erklärte die beklagte Ersatzkasse Otto St. mit Schreiben vom 5. August 1953, er sei ua auch in der Rentenversicherung versicherungsfrei.
Späterhin kam die beklagte Ersatzkasse zu der Rechtsauffassung, ein bei einer offenen Handelsgesellschaft beschäftigter Sohn eines Gesellschafters sei jedenfalls als "Meistersohn" nur dann versicherungsfrei, wenn dessen Eltern die einzigen Gesellschafter seien. Sie widerrief ihre Erklärung vom 5. August 1953, erhob vom 1. November 1954 an wieder Pflichtbeiträge zur Kranken-, Angestellten- und Arbeitslosenversicherung und verlangte Nachzahlung der Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV) für die Zeit von August 1953 an (Schreiben vom 28. Oktober 1954). Otto St. entrichtete den auf ihn entfallenden Arbeitnehmeranteil in Höhe von 292,50 DM, während die Klägerin den entsprechenden Arbeitgeberanteil nur unter Vorbehalt zahlte und gegen ihre Inanspruchnahme Widerspruch erhob mit der Begründung, die beklagte Ersatzkasse habe mit Schreiben vom 5. August 1953 die Versicherungsfreiheit des Otto St. festgestellt und diesen Irrtum erst im Oktober 1954 richtiggestellt. Die Widerspruchsstelle der beklagten Ersatzkasse wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 29. April 1958).
Die Klage - gerichtet auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 28. Oktober 1954 idF des Widerspruchsbescheids vom 29. April 1958 und Verurteilung der Beklagten zur Rückzahlung von 292,50 DM (zuzüglich einer gleichfalls von der Klägerin entrichteten Verzugsgebühr von 2,90 DM) - wurde vom Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 1958). Auch die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 3. November 1961). Das LSG führte in der Begründung seines Urteils aus, Otto St. sei in der fraglichen Zeit - 1. August 1953 bis 31. Oktober 1954 - versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Der Bescheid der beklagten Ersatzkasse über seine Versicherungsfreiheit vom 5. August 1953 sei somit falsch gewesen. Er sei jedoch nicht bindend i. S. des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geworden. Als Einzugsstelle sei die beklagte Ersatzkasse jederzeit befugt gewesen, ihre Rechtsansicht zur Frage der Versicherungspflicht eines Beschäftigten zu ändern und der wirklichen Rechts- und Sachlage anzupassen. Sie sei auch nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gehindert gewesen, die für die Vergangenheit nicht gezahlten Versicherungsbeiträge nachzufordern, weil ohne die Geltendmachung der Nachforderung die Rechtsstellung des Versicherten in erheblichem Maße verschlechtert würde. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Sie hat gerügt, das LSG habe verkannt, daß die irrige Annahme der zeitweiligen Versicherungsfreiheit des Otto St. ausschließlich von der beklagten Ersatzkasse zu vertreten sei. Die nachträgliche Inanspruchnahme der Klägerin wegen des Arbeitgeberanteils der Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. August 1953 bis 31. Oktober 1954 verstoße gegen Treu und Glauben.
Die beklagte Ersatzkasse und die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) haben
Zurückweisung der Revision
beantragt.
Die beigeladene BfA weist darauf hin, daß die nachträgliche Anforderung des Arbeitgeberanteils der Sozialversicherungsbeiträge von der Klägerin schon deshalb nicht zu beanstanden sei, weil diese nachträglich nur zu zahlen brauche, was sie von vornherein geschuldet habe. Abgesehen davon, daß eine Berufung auf Treu und Glauben gegenüber der Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung überhaupt nicht durchgreife sei auch nicht ersichtlich, welche Nachteile die Klägerin durch die verspätete Geltendmachung der Beitragsforderung erlitten habe.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG den Rückerstattungsanspruch der Klägerin für unbegründet erachtet.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß Otto St. in der Zeit vom 1. August 1953 bis zum 31. Oktober 1954 bei der Klägerin als Angestellter versicherungspflichtig beschäftigt war. Selbst wenn Otto St. Sohn des alleinigen Betriebsinhabers - und nicht nur eines Mitgesellschafters der Klägerin - gewesen wäre, hätte die sichere Erwartung der späteren Betriebsübernahme die nach den Merkmalen des Beschäftigungsverhältnisses klar gegebene Versicherungspflicht nicht ausgeräumt (BSG 3, 30). Der die Versicherungsfreiheit des Otto St. feststellende Bescheid der beklagten Ersatzkasse vom 5. August 1953 war somit unrichtig.
Dessenungeachtet war die beklagte Ersatzkasse berechtigt, die nicht erhobenen Sozialversicherungsbeiträge zur AV nachzufordern. Der genannte Bescheid der beklagten Ersatzkasse ist vor Inkrafttreten des SGG ergangen, so daß § 77 SGG auf ihn nicht angewendet werden kann. Jedoch könnte die nachträgliche Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle, wie der erkennende Senat in seinen Entscheidungen vom 4. Juli 1962 (BSG 17, 173, 175) und vom 28. April 1964 (BSG 21, 52, 55) näher dargelegt hat, nach dem auch für das öffentliche Recht gültigen Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Die hiernach gebotene differenzierende Beurteilung und Abwägung zwischen den öffentlichen und den beteiligten privaten Interessen führt jedoch in der Rentenversicherung dazu, die Beitragsnachforderung grundsätzlich für zulässig zu erachten. Das Interesse des Versicherten an der tatsächlichen Beitragsentrichtung überwiegt das des Arbeitgebers auf Schutz vor nachträglicher Inanspruchnahme (vgl. dazu im einzelnen BSG 21, 52, 55 ff).
Das muß insbesondere dann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Arbeitgeber nur wegen des auf ihn entfallenden Arbeitgeberanteils der Sozialversicherungsbeiträge in Anspruch genommen wird. Hier entfällt die Problematik, die darin liegt, daß der Arbeitgeber für die gesamten Sozialversicherungsbeiträge einstehen muß und bei Nachforderung nicht immer in der Lage ist, den auf den Versicherten entfallenden Beitragsanteil vom Entgelt einzubehalten. Die Belastung der Klägerin beschränkte sich im vorliegenden Fall darauf, daß sie eine Beitragsschuld von verhältnismäßig geringer Höhe erst geraume Zeit nach ihrer Fälligkeit zu begleichen brauchte.
Demnach ist die Klägerin zu Recht auf Zahlung des Arbeitgeberanteils für die Beiträge zur AV des Otto St. in der Zeit vom 1. August 1953 bis 31. Oktober 1954 in Anspruch genommen worden. Ihr Rückerstattungsanspruch ist unbegründet. Die Revision mußte zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Fundstellen