Leitsatz (amtlich)
Zu der Frage, wann eine KK durch einen Rentneranteil von mehr als einem Drittel der gesamten Mitgliederzahl "wirtschaftlich unangemessen belastet war (Art 2 § 6 des KVdRG).
Leitsatz (redaktionell)
Zur Anwendung des KVdRG Art 2 § 6:
1. Nach KVdRG Art 2 § 6 konnte die Grundlohnkürzung (RVO § 381 Abs 2 aF) nur dann ganz oder teilweise aufgehoben werden, wenn die Zahl der Rentner mehr als ein Drittel der gesamten Mitgliederzahl betrug und die KK durch diesen hohen Rentneranteil wirtschaftlich unangemessen belastet wurde.
2. Eine wirtschaftlich unangemessene Belastung iS von KVdRG Art 2 § 6 lag vor, wenn bei einer KK jedes Mitglied der allgemeinen Krankenversicherung mindestens 4 bis 5 vH des auf den einzelnen Rentner im Durchschnitt entfallenden Defizits aus der KV der Rentner zu tragen hatte.
Normenkette
RVO § 381 Abs. 2 Fassung: 1911-07-19, § 385 Abs. 2 Fassung: 1956-06-12; KVdRG Art. 2 § 6 Fassung: 1956-06-12
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Februar 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die klagende Krankenkasse hatte 1963 beim Bundesversicherungsamt (BVA) beantragt zuzulassen, daß die von den Rentenversicherungsträgern zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR) zu zahlenden Beiträge für das Jahr 1962 nicht nach einem um 15 v. H. gekürzten Durchschnittsgrundlohn (§§ 381 Abs. 2, 385 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), sondern nach dem ungekürzten Grundlohn bemessen werden (Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR vom 12. Juni 1956, BGBl I 500). Die Klägerin hatte dabei vor allem auf ihren hohen Anteil von Rentnern (37,7 v. H. aller Mitglieder) und den erheblichen Fehlbetrag in der KVdR, der nach ihren Berechnungen im Jahre 1962 bei 7 v. H. lag, hingewiesen. Das BVA hatte den Antrag abgelehnt, weil der Rentneranteil bei der Klägerin zwar mehr als ein Drittel betrage, sie jedoch durch den - unterhalb der zumutbaren "Interessenquote" von 10 v. H. liegenden - Fehlbetrag wirtschaftlich nicht unangemessen belastet werde (Bescheid vom 19. März 1963).
Die Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung des Bescheides des BVA beantragt hat, ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat ausgeführt, bei den Gesetzesberatungen habe man eine Beteiligung der Krankenkassen an den Aufwendungen für die KVdR in Höhe von 8 bis 10 v. H. als zumutbar angesehen. Diese Erwägungen könnten unbedenklich auch bei Beantwortung der Frage, ob eine Krankenkasse durch ihre Rentner "wirtschaftlich unangemessen belastet" werde (Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR), herangezogen werden. Die insoweit von der Klägerin angeführten Gesichtspunkte (höheres Rentnerdefizit als bei anderen vergleichbaren Krankenkassen, Zonenrandlage) hätten dagegen im Gesetz keinen Niederschlag gefunden und seien deshalb nach geltendem Recht nicht zu berücksichtigen (Urteil vom 8. Februar 1965).
Die Klägerin hat hiergegen die zugelassene Revision eingelegt und u. a. geltend gemacht, die angenommene Interessenquote von 8 bis 10 v. H. könne allenfalls bei einer - vom Gesetzgeber seinerzeit für die nahe Zukunft erwarteten - gleichmäßigen Verteilung der Rentner auf alle Krankenkassen gelten. Die Klägerin hat beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck vom 23. März 1964 und den Bescheid des BVA vom 19. März 1963 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Wegfall der 15 %igen Grundlohnkürzung zuzulassen,
hilfsweise,
die Grundlohnkürzung um einen angemessenen Vomhundertsatz zu ermäßigen.
Die Bundesrepublik - BVA - hält das angefochtene Urteil für zutreffend und hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Der Senat hat zunächst die Bezeichnung der Beklagten richtiggestellt. Entgegen der Ansicht des LSG kann hier die Stelle, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat (BVA), als solche nicht am sozialgerichtlichen Verfahren teilnehmen. § 5 des Schleswig-Holsteinischen Ausführungsgesetzes zum Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. d. F. vom 4. August 1965 (GVOBl Schleswig-Holstein S. 53), der Behörden für fähig erklärt, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein (vgl. § 70 Nr. 3 SGG), gilt nicht für Bundesbehörden (BSG 15, 127, 129). Nach Bundesrecht kann nur die Bundesrepublik Deutschland selbst, nicht eine Bundesbehörde, am Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit beteiligt sein (§ 70 Nr. 1 SGG). Die Bundesrepublik ist daher die richtige Beklagte.
In der Sache ist die Revision der klagenden Krankenkasse unbegründet; denn das LSG hat den angefochtenen Bescheid des BVA zutreffend für rechtmäßig gehalten.
Nach §§ 381 Abs. 2, 385 Abs. 2 RVO in der Fassung, die vom 1. August 1956 (vgl. Art. 1 und 4 des Gesetzes über KVdR) bis zum Inkrafttreten des Finanzänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1967 galt, wurden die von den Rentenversicherungsträgern zu leistenden KVdR-Beiträge nach einem um 15 v. H. gekürzten Durchschnittsgrundlohn des betreffenden Landes bemessen. Ziel dieser Regelung war, die Krankenkassen, d. h. die Gesamtheit ihrer Mitglieder, mit einer bestimmten "Interessenquote" an den Aufwendungen für die Rentnerkrankenversicherung zu beteiligen, die Beitragslast insoweit also zwischen den Trägern der Rentenversicherung und den "aktiven" Mitgliedern der Krankenkassen aufzuteilen. In den Gesetzesberatungen wurde dabei eine Quote von 8 bis 10 v. H. als angemessen angesehen und demgemäß die Kürzung des durchschnittlichen Grundlohnes auf 15 v. H. festgelegt (vgl. BSG 20, 10,15 f; Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik zum Entwurf eines Gesetzes über KVdR, zu Drucksache 2256, Deutscher Bundestag 2. Wahlper. 1952, S. 4 linke Spalte unten). Da diese Regelung sich für die einzelnen Krankenkassen wegen ihrer stark voneinander abweichenden Rentneranteile wirtschaftlich sehr verschieden ausgewirkt hätte - es gab Krankenkassen mit mehr als der Hälfte Rentner, während der durchschnittliche Rentneranteil etwa bei einem Fünftel lag (vgl. Heyn, Die Rentnerkrankenversicherung, S. 25 und 30 f) - und eine gleichmäßigere Verteilung der Rentner aufgrund der Vorschriften des Gesetzes über KVdR erst in einigen Jahren erwartet wurde (vgl. Heyn aaO S. 20), wurde in Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR eine Übergangsregelung für Krankenkassen mit besonders hohen Rentneranteilen geschaffen. Nach dieser - zunächst bis Ende 1960, später "bis zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung" befristeten - Übergangsvorschrift konnte der Bundesarbeitsminister oder die von ihm bestimmte Stelle auf Antrag einer Krankenkasse zulassen, daß die Grundlohnkürzung für eine bestimmte Zeit ganz oder teilweise unterblieb, wenn die Zahl der pflichtversicherten Rentner mehr als ein Drittel der gesamten Mitgliederzahl betrug und die Kasse dadurch wirtschaftlich unangemessen belastet wurde. Die vom Bundesarbeitsminister bestimmte Stelle war seit 1959 das BVA (Bekanntmachung des Bundesarbeitsministers vom 13. Juli 1959, BABl 1959, 500). Durch das Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967 (BGBl I 1259), das für den Bereich der KVdR erstmals einen Finanzausgleich der Krankenkassen untereinander vorsieht (vgl. § 385 Abse. 2 und 3 RVO nF), ist die bisherige Ausgleichsregelung, die lediglich das Verhältnis der Krankenkassen zu den beitragspflichtigen Rentenversicherungsträgern betraf, mit Wirkung vom 1. Januar 1968 aufgehoben worden (Art. 2 § 12 Finanzänderungsgesetz 1967).
Hiernach ergibt sich für die Anwendung der Ausgleichsvorschrift in Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR aus Wortlaut, Sinnzusammenhang und Entstehungsgeschichte, daß der Gesetzgeber einerseits die Krankenkassen mit einem - durch Beiträge der Rentenversicherungsträger nicht gedeckten, also aus dem allgemeinen Beitragsaufkommen zu finanzierenden - Defizit von 8 bis 10 v. H. der Ausgaben für die KVdR belasten wollte, andererseits aber eine solche Belastung grundsätzlich nur für vertretbar hielt, solange der Rentneranteil ein Drittel der Gesamtmitgliederzahl der Kasse (= ein Rentner auf zwei Nichtrentner) nicht überstieg. Das gesetzlich vorgesehene Defizit von 8 bis 10 v. H. der Ausgaben für den einzelnen versicherten Rentner sollte mithin jeweils von mindestens zwei Nichtrentnermitgliedern getragen werden; oder anders ausgedrückt: auf jeden Nichtrentner sollte höchstens die Hälfte des Defizits (4 bis 5 v. H.) entfallen. Diese Belastungsgrenze wurde überschritten, wenn bei einer Krankenkasse der Fehlbetrag der KVdR 8 bis 10 v. H. (oder mehr) betrug und der Rentneranteil höher als ein Drittel war. Die Belastungsgrenze konnte jedoch - entgegen der anscheinend vom BVA vertretenen Ansicht - auch schon dann überschritten werden, wenn zwar der Rentnerdefizit bei einer Krankenkasse die genannte Zahl von 8 bis 10 v. H. nicht erreichte, diese Minderbelastung der Krankenkasse aber durch einen Rentneranteil, der wesentlich über einem Drittel lag, ausgeglichen wurde, so daß die betreffende Kasse im wirtschaftlichen Ergebnis nicht weniger oder sogar noch stärker belastet war, als eine Krankenkasse mit einem Rentnerdefizit von 8 bis 10 v. H., aber einem nur knapp über der Drittelgrenze liegenden Rentneranteil. Daß diese an der wirtschaftlichen Gesamtbelastung orientierte Betrachtung auch der Absicht des Gesetzgebers entsprach, ist im Gesetzeswortlaut deutlich zum Ausdruck gekommen ("... und wird die Kasse dadurch wirtschaftlich unangemessen belastet ..."). Auf der anderen Seite war die fragliche Vorschrift nach ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzgebers nur anwendbar, wenn der Rentneranteil mehr als ein Drittel betrug. Insofern konnte also die Minderbelastung einer Krankenkasse (ein Drittel oder weniger Rentner) nicht durch ein über 8 bis 10 v. H. liegendes KVdR-Defizit "kompensiert" werden.
Wortlaut und Sinn von Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR ließen es auch - entgegen der Ansicht der klagenden Krankenkasse - nicht zu, die Belastungsgrenze entsprechend der erst für die Zukunft erwarteten gleichmäßigeren Rentnerverteilung nach dem dann erreichten durchschnittlichen Rentneranteil zu bestimmen, mithin eine unangemessene wirtschaftliche Belastung schon anzunehmen, wenn auf jedes Nichtrentnermitglied eine höhere Defizitquote entfiel, als sich bei einer ausgeglichenen Rentnerverteilung ergeben hätte (unter Zugrundelegung eines "normalen" Rentneranteiles von 1:4 hätte die Belastungsgrenze ein Viertel des Rentnerdefizits von 8 bis 10 v. H. = 2 bis 2,5 v. H. betragen). Art. 2 § 6 des Gesetzes über KVdR setzte voraus, daß der Rentneranteil mehr als ein Drittel betrug, und forderte außerdem, daß "dadurch", d. h. eben durch einen über der Drittelgrenze liegenden Rentneranteil, die Krankenkasse wirtschaftlich unangemessen belastet wurde. Im übrigen hätte eine Auslegung der Vorschrift, wie die Klägerin sie vertritt, im Ergebnis bedeutet, daß aus einer Übergangsvorschrift, die die Zeit bis zu einer "Normalisierung" der Rentnerverteilung überbrücken sollte, eine Ausgleichsregelung geworden wäre, die die erwartete Normalisierung für einen Teil der Krankenkassen unzulässigerweise vorweggenommen hätte.
Der Rentneranteil der klagenden Krankenkasse erreichte während der streitigen Zeit (1962) 37,7 v. H. der Gesamtmitgliederzahl, ihr Rentnerdefizit lag damals nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin bei etwa 7 v. H. Bei der Klägerin standen somit 1962 einem versicherten Rentner mit einem Ausgabendefizit von ca. 7 v. H. knapp zwei Nichtrentnermitglieder gegenüber, so daß auf jeden Nichtrentner weniger als 4 bis 5 v. H. des Defizits entfielen; die gesetzliche Belastungsgrenze wurde also nicht überschritten. Der angefochtene Bescheid des BVA, mit dem dieses für 1962 einen Wegfall der Grundlohnkürzung abgelehnt hat, ist hiernach im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen