Leitsatz (amtlich)
1. Auch ein Sozialhilfeträger, der nicht alsbald nach Eingang eines Unterstützungsantrags durch Rückfrage bei der KK des zu Unterstützenden feststellt, ob diese selbst Leistungen gewähren will, behält seinen Ersatzanspruch nach RVO § 1531 jedenfalls solange, als er keinen begründeten Anlaß zur Feststellung der Leistungsbereitschaft der KK hat.
2. Behandlungsbedürftigkeit liegt auch vor, wenn der Zustand des Kranken lediglich die ärztliche Anordnung und Überwachung von Pflegemaßnahmen (zB einer künstlichen Ernährung) erfordert und die Behandlung die Krankheit nicht bessern, sondern nur Beschwerden lindern oder das Leben des Kranken für begrenzte Zeit verlängern kann.
3. Krankenhauspflegebedürftigkeit besteht nur, wenn sich die ärztliche Behandlung nach Art der Krankheit mit einiger Aussicht auf Erfolg allein in einer Anstalt durchführen läßt, die neben einer apparativen Mindestausstattung die Möglichkeit der Betreuung durch einen jederzeit rufbereiten Arzt und durch geschultes Pflegepersonal bietet. Ob die Unterbringung in einem Heim (Säuglings- und Kleinkinderheim) den Merkmalen einer Krankenhauspflege "entspricht" (RVO § 1533), hängt von den örtlichen Verhältnissen ab.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Fassung: 1957-06-26, § 184 Fassung: 1911-07-19, § 1531 Fassung: 1931-06-05, § 1533 Fassung: 1931-06-05
Tenor
Auf die Revision des klagenden Landes wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. März 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Das klagende Land, das als überörtlicher Träger der Sozialhilfe ein Kind des bei der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) versicherten Beigeladenen unterstützt hat, verlangt dafür von der Beklagten Ersatz nach §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Das im März 1961 geborene Kind des Beigeladenen, das an einem Wasserkopf mit schwerem Gehirnschaden litt, wurde im Mai 1961 in ein B Krankenhaus eingewiesen und dort auf Kosten der beklagten Krankenkasse bis zum 6. Juli 1961 behandelt. Am gleichen Tage wurde es in das Säuglings- und Kleinkinderheim eines anderen B Krankenhauses verlegt und starb dort am 4. September 1961. Bis zum Tode mußte es mit einer Sonde künstlich ernährt werden.
Ein Antrag auf Gewährung von Anstaltsdauerpflege, den die Mutter des Kindes noch vor der Verlegung in das Kinderheim bei dem örtlichen Träger der Sozialhilfe (Landkreis G) gestellt hatte, wurde kurz nach der Verlegung an den Kläger weitergegeben; dem Antrag waren Äußerungen der Ärztin beigefügt, die das Kind im Krankenhaus behandelt und wegen seiner "Unterernährbarkeit" eine Heimunterbringung als dringend erforderlich bezeichnet hatte. Der Kläger hörte zunächst den Landesarzt für Körperbehinderte und ließ, nachdem dieser im Dezember 1961 dringende Behandlungsbedürftigkeit zur Erhaltung des Lebens des Kindes angenommen hatte, die beklagte Krankenkasse durch den Landkreis G zur Übernahme der seit dem 6. Juli 1961 entstandenen Pflegekosten auffordern. Ein entsprechender Antrag des Landkreises vom 17. Januar 1962 wurde von der Beklagten abgelehnt, weil das Kind als "Pflegefall" in das Heim verlegt worden sei und keiner ärztlichen Behandlung mehr bedurft habe; die Heimpflege sei auch keine Krankenhausbehandlung gewesen (Schreiben vom 1. März 1962). Daraufhin übernahm der Kläger im April 1962 die Kosten der Heimunterbringung in Höhe von 488 DM. Als Abgeltung der ambulanten Krankenpflege zahlte die Beklagte später für jeden Tag der Heimunterbringung 1 DM.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Unterbringungskosten von 488 DM abzüglich des gezahlten Abgeltungsbetrages zu ersetzen: Die Beklagte hätte wegen der Schwere des Krankheitsbildes stationäre Behandlung gewähren müssen, das Kinderheim habe hier auch die Funktion eines Krankenhauses erfüllt, die dort gewährte Pflege sei deshalb Krankenhausbehandlung gewesen (Urteil vom 29. August 1963).
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, Hilfsbedürftigkeit des Unterstützten - als Voraussetzung für den Ersatzanspruch nach § 1531 RVO - sei zu verneinen, wenn der Fürsorgeträger sich, wie hier, erst nach Beendigung der Unterbringung an die ihm von Anfang an als leistungspflichtig bekannte Krankenkasse wende und dieser damit die Möglichkeit nehme, selbst darüber zu entscheiden, ob sie Krankenhauspflege gewähren wolle. Der Kläger hätte unmittelbar nach Erhalt der ihm vom Landkreis Gifhorn übersandten Vorgänge und nicht erst vier Monate nach dem Tode des Kindes bei der Beklagten anfragen können und müssen, ob sie zur Gewährung von Leistungen bereit sei. Zu dieser Zeit hätte die Beklagte noch einen Vertrauensarzt hinzuziehen und das Kind untersuchen lassen können. Ein dringender Fall, der eine rechtzeitige Benachrichtigung der Beklagten erübrigt hätte, habe nicht vorgelegen (Urteil vom 9. März 1965).
Der Kläger rügt mit der zugelassenen Revision, das LSG habe ihn zu Unrecht für verpflichtet gehalten, sofort nach Eingang des ihm vom Landkreis G übersandten Antrags auf Anstaltsdauerpflege die Leistungsbereitschaft der Beklagten zu klären; die seinerzeit beantragte Anstaltsdauerpflege sei keine Kassenleistung. Auch das Krankenhaus, in dem das Kind bis Anfang Juli 1961 behandelt worden sei, habe wiederholt das Vorliegen eines reinen Pflegefalles ärztlich bestätigt. Erst nachdem der Landesarzt, der schon im Juli 1961 um seine Stellungnahme gebeten worden sei, sich im Dezember 1961 im Sinne einer dringenden Behandlungsbedürftigkeit des Kindes geäußert habe, sei genügend Anlaß gewesen, bei der Beklagten die Kostenübernahme zu beantragen. Dieser sei damit nicht die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung über die Weitergewährung von Krankenhauspflege genommen worden; denn ihr Vertrauensarzt habe das Kind schon vor der Verlegung untersucht, eine weitere Krankenhausbehandlung aber nicht mehr für erforderlich gehalten. Die Beklagte hätte daher auch bei sofortiger Rückfrage die Verlängerung der Krankenhauspflege nicht genehmigt. Im übrigen habe es sich um einen dringenden Fall gehandelt. Die eigentliche Streitfrage des Prozesses, ob nämlich die Heimpflege des Kindes Krankenhausbehandlung gewesen sei, habe das LSG nicht entschieden; das SG habe dies zutreffend bejaht.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 9. März 1965 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 29. August 1963 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen, hilfsweise: den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und macht vorsorglich geltend, die Pflege im Kinderheim sei keine Krankenhausbehandlung im Sinne des § 184 RVO gewesen; auch sei der regelwidrige Körperzustand des Kindes keiner ärztlichen und medikamentösen Versorgung mehr zugänglich gewesen, es sei daher nicht wegen einer Krankheit, sondern ausschließlich zum Zwecke der Pflege im Heim untergebracht worden.
Der Beigeladene hat sich in der Revisionsinstanz nicht geäußert.
II
Die Revision des klagenden Landes ist begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu, rechtfertigen insbesondere nicht die vom LSG ausgesprochene Abweisung der Klage.
§ 1531 RVO macht allerdings den Ersatzanspruch eines Sozialhilfeträgers, der einen bei einer gesetzlichen Krankenkasse Versicherten (oder mitversicherten Familienangehörigen) unterstützt, u. a. davon abhängig, daß die Unterstützung einem "Hilfsbedürftigen" gewährt wird. Richtig ist ferner, daß Hilfsbedürftigkeit nicht vorliegt, wenn die Krankenkasse selbst zur Gewährung der fraglichen Leistungen bereit ist, der Versicherte also der Sozialhilfe nicht bedarf (zum Begriff der Hilfsbedürftigkeit im Sinne des hier noch anzuwendenden alten Fürsorgerechts vgl. § 5 der Reichsgrundsätze i. d. F. vom 1. August 1931, RGBl I 441). Ob demnach ein Sozialhilfeträger, der weiß, daß der zu Unterstützende bei einer Krankenkasse (mit)versichert ist, eigene Leistungen - außer in dringenden Fällen - erst gewähren darf, nachdem er durch Rückfrage bei der Krankenkasse deren fehlende Leistungsbereitschaft festgestellt hat, und ob er sich seines Ersatzanspruchs "begibt", wenn er anders handelt, braucht der Senat nicht zu entscheiden (vgl. dazu die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamtes - RVA -, DOK 1936, 58 = Arbeiterversorgung 1936, 279; DOK 1937, 891; 1939, 36, 1940, 393; Baath/Kneip/Langlotz, Fürsorgepflicht, 13. Aufl., S. 404, 406, 409; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 970 d). Nicht folgen kann der Senat jedenfalls der (noch über die Rechtsprechung des RVA hinausgehenden) Auffassung des LSG, ein Ersatzanspruch nach § 1531 RVO scheide schon dann aus, wenn der Sozialhilfeträger seine Unterstützung zwar erst nach Ablehnung der Leistung durch die Krankenkasse gewährt, es jedoch unterlassen hat, die Leistungsbereitschaft der Krankenkasse alsbald, nachdem ihm der Unterstützungsantrag vorgelegt worden ist, zu klären. Der Sozialhilfeträger kann seinen Ersatzanspruch mindestens solange nicht verlieren, als er keinen begründeten Anlaß hat, Schritte zur Feststellung der Leistungsbereitschaft der Krankenkasse zu unternehmen, etwa weil er die Krankenkasse zunächst - nach den ihm bisher bekannten Tatsachen - ohne groben Rechtsirrtum für nicht leistungspflichtig hält. In ähnlichem Sinne hat der Senat für einen vergleichbaren Sachverhalt entschieden, daß ein Versicherter, der ein Krankenhaus ohne Zustimmung der Krankenkasse aufsucht, außer in dringenden Fällen auch dann von der Krankenkasse Ersatz der ihm entstandenen Kosten verlangen kann, wenn er aus entschuldbaren Gründen unterlassen hat, vor der Inanspruchnahme der Krankenhauspflege die Zustimmung der Krankenkasse zu beantragen (BSG 19, 21).
Im vorliegenden Fall scheint es so gewesen zu sein, daß der Kläger nach Erhalt des ihm vom Landkreis G übersandten Antrags auf "Anstaltsdauerpflege" und den beigefügten ärztlichen Stellungnahmen zunächst - bis zur Äußerung des Landesarztes im Dezember 1961 - annahm und annehmen durfte, daß für die beantragte Leistung allein seine Zuständigkeit und nicht die der beklagten Krankenkasse in Betracht kam. Nähere Feststellungen hat das LSG darüber indessen von seinem abweichenden rechtlichen Ausgangspunkt nicht getroffen. Da der Senat diese Feststellungen nicht nachholen kann, muß das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Zurückverweisung erübrigt sich auch nicht deswegen, weil die Klage schon aus anderen Gründen abweisungsreif wäre. Der Senat hat insoweit zunächst geprüft, ob der regelwidrige Körperzustand des Kindes auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus am 6. Juli 1961 noch ärztlicher Behandlung bedurfte. Daß ärztliche Behandlung auch in der Anordnung und Überwachung von Pflegemaßnahmen (wie z. B. einer künstlichen Ernährung) bestehen kann, hat schon das Reichsversicherungsamt mit zutreffender Begründung entschieden (GE Nr. 5115, AN 1937 IV 265, für eine Frühgeburt, die in den ersten Wochen nur mittels einer Magensonde ernährt werden konnte). Es ist auch nicht erforderlich, daß die ärztliche Behandlung die Heilung oder Besserung eines Leidens zum Ziel hat, sondern es genügt, daß sie sich - bei nicht mehr besserungsfähigen Leiden - auf die Linderung von Beschwerden beschränkt (BSG 26, 288, 289) oder lediglich bezweckt, das Leben für eine begrenzte Zeit zu verlängern. Sollte dies beim Kind des Beigeladenen der Fall gewesen sein, was den Umständen nach wahrscheinlich, bisher aber nicht festgestellt ist, hätte Behandlungsbedürftigkeit vorgelegen.
Zu prüfen bliebe dann jedoch weiterhin, ob der Zustand des Kindes auch nach dem 6. Juli 1961 noch eine stationäre ärztliche Behandlung erforderte. Das wäre nur dann zu bejahen, wenn die Behandlung sich nach Art der Krankheit mit einiger Aussicht auf Erreichung des angestrebten Erfolges (Linderung von Beschwerden oder Verlängerung des Lebens) allein in einem Krankenhaus, d. h. in einer Anstalt durchführen ließ, die neben einer apparativen Mindestausstattung die Möglichkeit der Betreuung durch einen jederzeit rufbereiten Arzt und durch geschultes Pflegepersonal bot.
Sollte hiernach beim Kind des Beigeladenen über den 6. Juli 1961 hinaus ein Bedürfnis nach Krankenhauspflege bestanden haben, wäre schließlich noch zu prüfen, ob die seit dem 6. Juli 1961 erfolgte Unterbringung in einem Säuglings- und Kleinkinderheim, deren Kosten der Kläger später übernommen hat, den gekennzeichneten Merkmalen einer Krankenhausbehandlung entsprach; denn nach § 1533 RVO hat die Krankenkasse Ersatz nur für solche Unterstützungen des Sozialhilfeträgers zu leisten, die ihren eigenen Versicherungsleistungen entsprechen. Das LSG wird deshalb, wenn das Kind des Beigeladenen bis zum Tod krankenhauspflegebedürftig blieb, noch klären müssen, ob die ihm tatsächlich gewährte Heimpflege als Krankenhausbehandlung anzusehen war. Insofern wird es wesentlich auf die örtlichen Verhältnisse ankommen, insbesondere darauf, ob das Heim auch auf die Betreuung kranker Kinder eingerichtet war und ihnen im Notfall sofortige ärztliche Hilfe gewähren konnte (vgl. zu den Merkmalen eines Krankenhauses auch SozR Nr. 19 zu § 184 RVO; die Entscheidung betrifft die Behandlung von Lungenkranken in einer Heilstätte).
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreit bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 707740 |
BSGE, 199 |