Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. Geschäftsreise. Abendmahlzeit
Orientierungssatz
1. Bei einer Geschäftsreise ist ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis am Ort der auswärtigen Beschäftigung in der Regel eher anzunehmen als am Wohn- oder Betriebsort. So gehört ua der Weg zur Nahrungsaufnahme während einer Dienstreise zu den Verrichtungen, die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, die den Versicherten in die fremde Stadt geführt hat (vgl BSG 1977-06-23 2 RU 15/77 = SozR 2200 § 548 Nr 33).
2. Während einer Dienstreise entfällt der Versicherungsschutz auf dem Weg von der Einnahme einer Mahlzeit nicht allein deshalb, weil der Versicherte sich nach der Essenseinnahme noch länger als zwei Stunden in der Gaststätte aufgehalten hat. Der Aufenthaltsdauer in einer Gaststätte nach Einnahme einer Mahlzeit während einer Dienstreise kann nicht dieselbe grundsätzlich ausschlaggebende rechtliche Bedeutung beigemessen werden, wie es sich bei einer Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO rechtfertigt (vgl BSG 1980-04-29 2 RU 95/79 = BSGE 50, 100). Die den besonderen Umständen einer Dienstreise angepaßte Einnahme des Essens gestattet es nicht, hier schematisch eine bestimmte Zeitgrenze festzusetzen.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 07.09.1978; Aktenzeichen L 2 U 5/78) |
SG Bremen (Entscheidung vom 09.01.1978; Aktenzeichen S U 114/76) |
Tatbestand
Der Kläger erlitt bei einem Verkehrsunfall am 6. November 1974 Brüche des linken Schienbeinkopfes und im linken Handgelenk. Er wohnte in B und war als Bauleiter von der Firma "N" D H - GmbH, B, zur Betreuung von Baustellen dieses Unternehmens ua in S eingesetzt. Am 6. November 1974 suchte er gegen 20.30 Uhr in S ein China-Restaurant auf und traf dort die ihm bekannte Barfrau M (M). Kurz nach 23.00 Uhr verließ er das Restaurant mit einem der Firma "N" gehörenden Pkw. Der von Frau M gesteuerte Pkw geriet auf dieser Fahrt nach einer Linkskurve auf den rechten Gehweg, anschließend auf die linke Straßenseite und prallte gegen ein Haus; dabei wurde der Kläger verletzt. Bei Frau M wurde eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von ca 2,3 Promille festgestellt.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 13. Juli 1976 eine Entschädigung ab, da der Kläger keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Die Unfallstelle stehe nicht in örtlichem Zusammenhang mit der Wegstrecke zwischen China-Restaurant und Hotel Z; es könne deshalb dahinstehen, ob der ursächliche Zusammenhang nicht schon deshalb entfallen gewesen sei, weil der Kläger im Hinblick auf die lange Dauer des Gaststättenaufenthalts zur Feierabendgestaltung übergegangen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 9. Januar 1978 abgewiesen. Es hat angenommen, der Kläger habe durch den ca 3 Stunden dauernden Aufenthalt im China-Restaurant den Zusammenhang mit seiner betrieblichen Tätigkeit beendet. Es könne deshalb dahingestellt bleiben, ob auch andere Gründe dem Versicherungsschutz entgegenstünden, etwa eine von ihm selbst geschaffene Gefahr oder das Zurücklegen eines erheblichen Umweges.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 7. September 1978) und zur Begründung ua ausgeführt: Es könne offenbleiben, ob der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit etwa auch wegen des eingeschlagenen Weges oder der Trunkenheit der Fahrerin des Pkw zu verneinen sei. Denn jedenfalls habe sich der Kläger von seiner betrieblichen Tätigkeit dadurch gelöst, daß er bei seinem Aufenthalt im China-Restaurant von etwa 20.30 Uhr bis kurz nach 23.00 Uhr die für die Einnahme einer Mahlzeit erforderliche Zeit erheblich überschritten habe und daher bereits zur Feierabendgestaltung übergegangen sei.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision trägt der Kläger vor: Das LSG hätte nach weiterer notwendiger Amtsermittlung zu der Überzeugung kommen müssen, daß er wegen einer Magenverstimmung bestimmte Speisen bevorzuge und deshalb das China-Restaurant aufgesucht habe, daß ihm infolge betrieblicher Überanstrengung und unzulänglichen Essens übel geworden sei, daß er sich auf der Toilette des Restaurants habe übergeben müssen, deshalb länger als beabsichtigt im Lokal geblieben sei und Frau M das Steuer des Pkw habe überlassen müssen. Das LSG habe außerdem verkannt, daß die von ihm angeführte Rechtsprechung des BSG zur Unterbrechung eines Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) nicht ohne weiteres auf Betriebswege und betriebliche Reisen zu übertragen sei.
Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom
7. September 1978 und des Sozialgerichts Bremen
vom 9. Januar 1978 sowie den Bescheid der Beklagten
vom 13. Juli 1976 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls
vom 6. November 1974 Leistungen aus der gesetzlichen
Unfallversicherung zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, auf eine Magenverstimmung und ein Unwohlsein des Klägers während seines Aufenthalts in der Gaststätte komme es nach der zutreffenden Auffassung des LSG nicht an, weil allein durch die Dauer des Aufenthalts im China-Restaurant eine Lösung von der betrieblichen Tätigkeit eingetreten sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, den Rechtsstreit zu entscheiden.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls nicht schon unter Versicherungsschutz stand, weil er sich aufgrund seiner versicherten Tätigkeit als Bauleiter in einer fremden Stadt befand. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist auch bei Dienstreisen zu unterscheiden zwischen Betätigungen, die mit dem Beschäftigungsverhältnis rechtlich wesentlich zusammenhängen, und solchen Verrichtungen, die der privaten Sphäre des Reisenden angehören. Der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich rein persönlichen, von der Betriebstätigkeit nicht mehr beeinflußten Belangen widmet (vgl ua BSGE 8, 48, 49 ff; 39, 180, 181; 50, 100; BSG SozR 2200 § 548 Nrn 21 und 33; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S 481 t und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 65 - jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Allerdings ist, wie das BSG in seiner Rechtsprechung von Anfang an nicht verkannt hat, ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis am Ort der auswärtigen Beschäftigung in der Regel eher anzunehmen als am Wohn- oder Betriebsort. So gehört ua der Weg zur Nahrungsaufnahme während einer Dienstreise zu den Verrichtungen, die im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen, die den Versicherten in die fremde Stadt geführt hat (vgl BSGE 8, 48, 52/53; 50, 100/101; BSG SozR Nrn 17 und 57 zu § 542 RVO aF; BSG SozR 2200 § 548 Nr 33). Auf diesem Weg besteht Versicherungsschutz gemäß § 548 Abs 1 Satz 1 RVO. Dies entspricht außerhalb einer Dienstreise dem Versicherungsschutz gemäß § 550 Abs 1 RVO auf den Wegen zur Nahrungsaufnahme vom Ort der Tätigkeit und zurück (s BSGE 14, 197, 199; 50, 100/101; Brackmann aaO S 486 h I).
Zutreffend hat das LSG auch angenommen, daß der Versicherungsschutz des Klägers auf dem Wege zur und von der Einnahme einer Mahlzeit nicht entfallen wäre, weil er nicht im Hotel, sondern in einem anderen Restaurant gegessen habe (SozR 2200 § 548 Nr 33; BSGE 50, 100, 102).
Das LSG hat es jedoch als zweifelhaft angesehen, ob "auch im Falle des Klägers" die Zurücklegung des Weges zum und vom China-Restaurant "grundsätzlich" als versichert angesehen werden könne. Hierzu hat es (S 16 des Urteils) ausgeführt: "Denn da, wie ausgeführt, nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Kläger noch nach B fahren wollte, liegt es nicht auf der Hand, daß der Kläger zur Wiedererlangung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit unumgänglich das China-Restaurant aufsuchen mußte, zumal der Kläger vorher schon mit dem Zeugen Kurt S in der D-Schenke, einem Schnellimbiß, gewesen ist. Der Kläger bestreitet zwar, dort gegessen zu haben, weil ihm das Essen in derartigen Lokalen nicht bekomme, während der Zeuge nicht mehr weiß, ob sie dort etwas gegessen haben oder nicht. Doch wäre die Annahme lebensfremd, daß der Kläger und der Zeuge sich in der D-Schenke längere Zeit aufgehalten haben, ohne etwas zu bestellen. Näher liegt nach allem die Annahme, daß der Kläger das China-Restaurant aufgesucht hat, um den Abend allein oder in Gesellschaft mit Essen, Trinken und Gesprächen angenehm zu verbringen, wie man dies auch an seinem Wohnort nach Beendigung der Arbeit tut. In einem solchen Falle erscheint die ursächliche Verknüpfung der Wege zum und vom Restaurant mit der Betriebsreise rechtlich nicht als so wesentlich, daß ihr gegenüber die mit der privaten Gestaltung des Abend einschließlich der Einnahme der Mahlzeit verbundenen persönlichen und privaten Zwecke in den Hintergrund zu treten hätten. Doch läßt der Senat die Frage, ob nicht deshalb schon der Versicherungsschutz entfällt, offen". Aus der Gegenüberstellung der "lebensfremden Annahme", daß der Kläger vorher im Schnellimbiß nicht (zum Essen oder zum Trinken) bestellt habe und der "näherliegenden Annahme", daß er das China-Restaurant aufgesucht habe, um den Abend mit Essen, Trinken und Gesprächen angenehm zu verbringen, ist - auch im Zusammenhang mit weiteren Ausführungen im angefochtenen Urteil (im Tatbestand werden lediglich die Angaben des Klägers und Aussagen von Zeugen - ohne Wertung durch das LSG - wiedergegeben) - nicht eindeutig die tatsächliche Feststellung zu entnehmen, daß der Kläger im China-Restaurant eine Mahlzeit eingenommen hat.
Nach der Auffassung des LSG unterlag der Kläger auf dem Weg vom Restaurant zum Hotel schon deshalb nicht einem Versicherungsschutz, weil er im China-Restaurant bereits zur Feierabendgestaltung übergegangen sei und sich dadurch von der einen etwaigen Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit endgültig gelöst habe. Dabei ist das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger nach Beendigung seiner Arbeit (20.15 Uhr) bis 20.30 Uhr das Restaurant erreicht und kurz nach 23.00 Uhr wieder verlassen hat. Es habe keinen vernünftigen, in der Tätigkeit des Klägers liegenden Grund gegeben, der die für die Einnahme einer Mahlzeit erforderliche Zeit erheblich übersteigende Dauer des Aufenthalts im Restaurant rechtfertigen könnte. Da der Kläger nicht nachweisen könne, daß er sich im Restaurant habe übergeben müssen, könne er nicht damit gehört werden, ihm sei beim Essen plötzlich übel geworden. Auch der Zeitpunkt des Restaurantaufenthalts am späten Abend und die Begleitung des Klägers durch Frau M, die schon kräftig dem Alkohol zugesprochen und weiter getrunken habe, machten einen Übergang des Klägers zur Feierabendgestaltung deutlich.
Den Erwägungen, mit denen das LSG aufgrund des festgestellten Sachverhalts einen Versicherungsschutz für das Zurücklegen des Weges vom China-Restaurant verneint hat, ist nicht zu folgen.
Der erkennende Senat hat in seinem - allerdings erst nach der Entscheidung des LSG ergangenen - Urteil vom 29. April 1980 (BSGE 50, 100, 102) näher dargelegt, daß während einer Dienstreise der Versicherungsschutz auf dem Weg von der Einnahme einer Mahlzeit nicht allein deshalb entfällt, weil der Versicherte sich nach der Essenseinnahme noch länger als zwei Stunden in der Gaststätte aufgehalten hat (in diesem Fall insgesamt mehr als drei Stunden). Der Aufenthaltsdauer in einer Gaststätte nach Einnahme einer Mahlzeit während einer Dienstreise kann danach nicht dieselbe grundsätzlich ausschlaggebende rechtliche Bedeutung beigemessen werden, wie es sich bei einer Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO rechtfertigt (s BSG aaO S 103). Aus Gründen der Rechtssicherheit hat der erkennende Senat eine Unterbrechung eines Weges iS des § 550 RVO bis zu zwei Stunden für versicherungsrechtlich unschädlich gehalten, auch wenn der Versicherte sich in diesem Zeitraum mit rein privaten Verrichtungen betätigt (SozR 2200 § 550 Nr 12). Der 8. Senat des BSG hat sich dieser Auffassung angeschlossen (SozR aaO Nr 27). Die den besonderen Umständen einer Dienstreise angepaßte Einnahme des Essens gestattet es nach der Auffassung des Senats aber nicht, hier gleichfalls schematisch eine bestimmte Zeitgrenze festzusetzen. Da der Kläger nach den Feststellungen des LSG bis 20.15 Uhr gearbeitet hatte, kann schon deshalb aus dem sich unmittelbar anschließenden "Zeitpunkt des Restaurantaufenthalts am späten Abend" nicht auf eine endgültige Lösung von der versicherten Tätigkeit geschlossen werden, sofern der Kläger im Lokal eine Abendmahlzeit eingenommen hat. Ein - zumal zufälliges - Zusammentreffen mit Frau M und die gemeinsame Gestaltung des Aufenthalts reichen hierfür nicht aus.
Das LSG hat ua offengelassen, ob der notwendige ursächliche Zusammenhang etwa auch wegen des eingeschlagenen Weges zu verneinen sei. Da der Kläger nach Einnahme einer Abendmahlzeit auf dem anschließenden Weg vom Restaurant zu einer Übernachtungsstätte nach den vorstehenden Ausführungen unter den angeführten Voraussetzungen dem Versicherungsschutz grundsätzlich unterstand, wird das LSG ggf zu prüfen und festzustellen haben, ob der Kläger zum Hotel Z oder einer anderen Übernachtungsstätte unterwegs war und die Unfallstelle an dem Weg dorthin liegt oder ein erheblicher, dem Kläger zurechenbarer und deshalb den Versicherungsschutz im Unfallzeitpunkt ausschließender Umweg eingeschlagen worden ist.
Da das BSG die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Fundstellen