Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Verwirkung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherungsträger hat den Versicherten auch dann auf eine naheliegende und für ihn bedeutsame Gestaltungsmöglichkeit hinzuweisen, wenn unklar ist, ob der Versicherte genügend Mittel hat, die Möglichkeit zu nutzen.

2. Ein Ersuchen um Beratung durch den Versicherungsträger oder die Einholung von Rechtsrat bei Dritten kann von dem Versicherten erst erwartet werden, wenn er auf die für ihn in Betracht kommende, ihm bisher aber ersichtlich unbekannte Gestaltungsmöglichkeit hingewiesen worden ist.

 

Orientierungssatz

1. Die Verletzung von Nebenpflichten (hier Beratungs- und Hinweispflicht), die dem Versicherungsträger gegenüber den Versicherten aus dem Sozialversicherungsverhältnis obliegen, können für die Versicherten einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen.

2. Die - einen Anspruch vernichtende - Verwirkung unterscheidet sich von der - grundsätzlich nur eine Einrede begründenden - Verjährung dadurch, daß der bloße Zeitablauf als Tatbestand nicht genügt. Zu dem Zeitablauf müssen vielmehr noch besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben nicht vereinbar und deswegen dem Rechtspartner gegenüber als unzumutbar erscheinen lassen (vergleiche zuletzt BSG vom 1974-10-30 2 RU 42/73 = BSGE 38, 187, 194).

 

Normenkette

AnVNG Art 2 § 27 Fassung: 1969-07-28; ArVNG Art 2 § 28 Fassung: 1969-07-28; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; SGB 1 § 13 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 24.03.1982; Aktenzeichen L 13 An 187/80)

SG Augsburg (Entscheidung vom 27.08.1980; Aktenzeichen S 13 An 144/80)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin berechtigt ist, nach Art 2 § 27 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge für Zeiten nachzuentrichten, für die ihr im Jahre 1936 Beiträge aufgrund des § 47 des Angestelltenversicherungsgesetzes damaliger Fassung (AVG aF) erstattet worden sind.

Die 1906 geborene Klägerin, die von der Beklagten seit April 1971 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres auf der Grundlage einer Versicherungszeit vom 1. Januar 1955 bis 31. März 1971 bezieht, hatte bereits vor der Beantragung der Rente im Rahmen eines von der Beklagten veranlaßten Kontenklärungsverfahrens in dem ihr übersandten Fragebogen angegeben, daß sie von 1923 bis 1936 als Kontoristin und Stenotypistin versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und am 30. September 1936 "abgefunden" worden sei. Eine Erstattung der bis zu diesem Zeitpunkt entrichteten Beiträge war auch schon in einer von der Beklagten im Februar 1970 aufgestellten Beitragszusammenstellung vermerkt.

Im September 1979 beantragte die Klägerin, sie gemäß Art 2 § 27 AnVNG zur Nachentrichtung von 151 Beiträgen der Klasse 600 zuzulassen und die Rente ab Eintritt des Versicherungsfalles neu zu berechnen. Dies lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß das Nachentrichtungsrecht nach dieser Vorschrift nur "aktiven" Versicherten zustehe, die Klägerin aber im Zeitpunkt der Antragstellung eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht mehr ausgeübt habe (Bescheid vom 5. November 1979). In dem Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 1980 führte die Beklagte ergänzend an, daß sie auch eine als Nebenpflicht aus dem Versicherungsverhältnis bestehende Beratungspflicht nicht verletzt habe.

Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Augsburg vom 27. August 1980; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 24. März 1982). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte habe im Rentenverfahren durch die Unterlassung eines Hinweises auf die Nachentrichtungsmöglichkeit gemäß Art 2 § 27 AnVNG ihre Beratungspflicht nicht verletzt. Es handele sich allerdings um einen Grenzfall, denn Beitragserstattungen bei weiblichen Versicherten seien bei längeren Zeiträumen so gewichtige versicherungsrelevante Ereignisse, daß sie - wenn sie offenkundig seien - die besondere Beachtung des Versicherungsträgers verlangen könnten.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht die Klägerin geltend, daß die Beklagte auch schon vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches (SGB) eine Auskunfts- und Beratungspflicht ihr gegenüber gehabt und diese verletzt habe. Die Beklagte habe bereits bei der Kontenklärung erkannt, daß ihr anläßlich ihrer Heirat im Jahre 1936 die halben Beiträge für die Zeit von Januar 1923 bis September 1936 erstattet worden seien. Es sei auch klar zu erkennen gewesen, daß ihr Versicherungskonto erhebliche Defizite aufgewiesen habe und sie durch die Nachentrichtung von Beiträgen eine wesentlich höhere Rente hätte erreichen können. Auf diese naheliegende Gestaltungsmöglichkeit des Versicherungsverhältnisses hätte sie von der Beklagten hingewiesen werden müssen.

Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. November 1979 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Mai 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie zur Nachentrichtung von 151 Beiträgen der Klasse 600 gemäß Art 2 § 27 AnVNG zuzulassen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß sie ihre Pflicht zur Beratung und Belehrung der Versicherten nicht verletzt habe. Eine solche Pflicht bestehe nicht ohne konkreten Anlaß. Sie sei nicht verpflichtet gewesen, den Rentenantrag der Klägerin zum Anlaß zu nehmen, das gesamte Versicherungsverhältnis daraufhin zu überprüfen, ob eine Beitragsnachentrichtung ratsam sei oder nicht. Da ein Rentenanspruch schon aufgrund der nachgewiesenen Versicherungszeiten bestanden habe, sei die Frage der Zweckmäßigkeit einer Nachentrichtung nicht eindeutig beantwortbar gewesen. Die Beklagte habe auch die wirtschaftliche Lage der Klägerin nicht gekannt und deshalb deren finanzielle Möglichkeiten bezüglich einer Nachentrichtung von Beiträgen nicht beurteilen können. Die Klägerin habe im übrigen eine weitere Beratung durch die Beklagte trotz des Hinweises in dem am 4. November 1970 übersandten Antragsvordruck nicht in Anspruch genommen. Es wäre eine durch nichts gerechtfertigte Überschätzung der verwaltungstechnischen Möglichkeiten, wollte man die Beklagte verpflichten, bei der Stellung eines Rentenantrages das gesamte Versicherungsverhältnis des Antragstellers ohne erkennbaren konkreten Grund und "auf entsprechend hoher Funktionsebene" einer versicherungsrechtlichen Überprüfung daraufhin zu unterziehen, welche Gestaltungsmöglichkeiten für den Versicherten bestehen, auf die er hingewiesen werden könnte.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 27 AnVNG zu gestatten. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen kann dies die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verlangen. Danach muß sie so gestellt werden, wie sie bei sachgemäßer Beratung durch die Beklagte gestanden hätte. Da sie dann aber, wie nach den vorliegenden Feststellungen und der objektiven Interessenlage der Klägerin angenommen werden muß, die Nachentrichtung noch vor der Beendigung ihrer bis März 1971 ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung beantragt hätte, wären die Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt gewesen: Ihr waren nach § 47 AVG aF iVm § 1309a RVO aF (die dem § 83 AVG in der bis zum 31. Dezember 1967 geltenden Fassung entsprachen) Beiträge erstattet worden; nach der Beitragserstattung wurden für sie während mindestens 24 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung entrichtet; schließlich übte sie im Zeitpunkt des mutmaßlichen Nachentrichtungsantrages noch eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aus.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann die Verletzung von Nebenpflichten, die dem Versicherungsträger gegenüber den Versicherten aus dem Sozialversicherungsverhältnis obliegen, für die Versicherten einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen. Zu diesen Nebenpflichten gehören vor allem die Pflichten zu speziellen Dienstleistungen des Versicherungsträgers wie Auskunft, Belehrung und "verständnisvolle Förderung" der Versicherten (BSGE 46, 124, 126 mwN). Diese - letztlich auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhenden - Pflichten sind verletzt, wenn sie, obwohl ein konkreter Anlaß zu den genannten Dienstleistungen bestanden hat, nicht oder nur unzureichend erfüllt worden sind. Anlaß zu einer Auskunft oder Beratung ist dabei nicht erst dann gegeben, wenn der Versicherte darum nachsucht, sondern bereits dann, wenn sich in einem laufenden Verfahren klar zutage liegende Gestaltungsmöglichkeiten zeigen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, daß sie jeder verständige Versicherte mutmaßlich nutzen würde (BSGE 41, 126). In einem solchen Fall ist der Versicherungsträger von Amts wegen verpflichtet, den Versicherten auf diese Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen.

Im vorliegenden Fall bestand ein konkreter Anlaß, die Klägerin auf die Nachentrichtungsmöglichkeit des Art 2 § 27 AnVNG hinzuweisen, bereits während des im Februar 1970 zur Vorbereitung eines Altersruhegeldantrages eingeleiteten Kontenklärungsverfahrens. Ein solches Verfahren dient der versicherungsrechtlichen Prüfung des gesamten Versicherungslebens einschließlich der Wirksamkeit von entrichteten Beiträgen und der Feststellung von Ersatz- und Ausfallzeiten. Das Verfahren erfordert damit auf seiten des Sachbearbeiters des Versicherungsträgers umfassende Kenntnisse des Rentenversicherungsrechts, insbesondere auch Kenntnisse über die Bedeutung und Auswirkung von früheren Beitragserstattungen sowie deren mögliche Korrektur aufgrund von einschlägigen Nachentrichtungsvorschriften. Daß einem Sachbearbeiter mit einer derartigen Qualifikation eine durch eine Heiratserstattung verursachte Beitragslücke von über 12 Jahren (die die Beklagte hier bereits im Februar 1970 aktenkundig gemacht hatte) auffallen muß und es ihm auch klar sein muß, daß sich durch eine mögliche Auffüllung der Lücke die Höhe der zu erwartenden Rente erheblich steigern läßt, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Desgleichen war schon damals erkennbar, daß die Klägerin aufgrund ihrer ab 1955 zurückgelegten Pflichtversicherungszeiten und ihrer Ankündigung, voraussichtlich im Februar 1971 ihre versicherungspflichtige Beschäftigung zu beenden, zu dem nach Art 2 § 27 AnVNG berechtigten Personenkreis gehörte. Daß sie andererseits über die erst mit Wirkung vom 1. August 1969 eingeführte Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 27 AnVNG nicht informiert war, ergab sich ebenfalls aus den damals nur wenige Seiten umfassenden Akten, zumal die Klägerin in ihrem Schreiben vom 1. September 1970 auf die "Abfindung" im Jahre 1936 hingewiesen und gleichzeitig zum Ausdruck gebracht hatte, daß sie für diese Zeit "nichts beanspruchen" könne. Die der Klägerin offenstehende, von ihr aber nicht erkannte Möglichkeit, für 12 Jahre Beiträge nachzuentrichten und damit ihr Altersruhegeld erheblich zu steigern, mußte sich hiernach dem Sachbearbeiter der Beklagten geradezu aufdrängen und - im Sinne einer verständnisvollen Förderung der berechtigten Belange der Versicherten - als für die Klägerin so zweckmäßig erscheinen, daß es unerläßlich war, sie entsprechend zu belehren.

Dem kann von der Beklagten nicht entgegengehalten werden, sie habe die wirtschaftliche Lage der Klägerin nicht gekannt; es habe ihr auch nicht zugemutet werden können, diese vor Bescheidung des Rentenantrags erst noch zu klären. Einer solchen Klärung hätte es hier nicht bedurft. Zur Erfüllung ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht hätte die Beklagte die Klägerin nur auf die fragliche Gestaltungsmöglichkeit hinzuweisen brauchen; sie hätte ihr dann überlassen können, diese zu nutzen. Zu den Voraussetzungen für die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Versicherungsträgers gehört nicht die sichere Erwartung, daß der Versicherte eine bestimmte Gestaltungsmöglichkeit im Einzelfall auch tatsächlich nutzen kann und wird. Es genügt die Annahme, daß er dies mutmaßlich tun wird, wenn er dazu finanziell in der Lage ist.

Da die Klägerin somit durch das Verhalten der Beklagten abgehalten wurde, den - nur während einer noch bestehenden versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit zulässigen - Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 2 § 27 AnVNG zeitgerecht bis Ende März 1971 zu stellen, muß ihr dieses Recht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eingeräumt werden.

Diesen Anspruch hat die Klägerin trotz der erheblichen Zeitspanne zwischen ihrem Antrag auf Altersruhegeld im Jahre 1971 und dem Antrag auf Beitragsnachentrichtung im September 1979 nicht verwirkt. Die - einen Anspruch vernichtende - Verwirkung unterscheidet sich von der - grundsätzlich nur eine Einrede begründenden - Verjährung dadurch, daß der bloße Zeitablauf als Tatbestand nicht genügt. Zu dem Zeitablauf müssen vielmehr noch besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben nicht vereinbar und deswegen dem Rechtspartner gegenüber als unzumutbar erscheinen lassen (BSGE 34, 211, 214; 38, 187, 194; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 49. Nachtrag, S 732p mwN). Neben dem Zeitablauf sind im vorliegenden Fall jedoch keine Umstände ersichtlich, die der Klägerin als treuwidriges Verhalten vorgeworfen werden könnten. Sie durfte sich, gerade weil vor ihrem Rentenantrag ein eigenes Verfahren zur Überprüfung ihres gesamten Versicherungsverlaufes von der Beklagten durchgeführt worden war, im Gegenteil darauf verlassen, daß bei der Vorbereitung ihres Rentenantrages nichts versäumt worden war. Daß sie als rechtsunkundige Person damals nicht von sich aus auf den Gedanken kam, daß ihre früher wegen Heirat erstatteten Beiträge wieder einzahlbar sein könnten, kann ihr nicht zur Last gelegt werden. Das gleiche gilt für das von der Beklagten vorgebrachte Argument, die Klägerin habe es unterlassen, sich bei den in dem Schreiben vom 4. November 1970 angegebenen Stellen beraten zu lassen. Mangels Kenntnis der Nachentrichtungsmöglichkeit konnte sich die Klägerin hierzu nicht veranlaßt sehen. Ein Grund für ein Beratungsersuchen hätte vielmehr erst bestanden, wenn sie von der Beklagten über die Nachentrichtungsmöglichkeit aufgeklärt worden wäre.

Der Senat hat der Klägerin hiernach das von ihr beanspruchte Recht zur Beitragsnachentrichtung gemäß Art 2 § 27 AnVNG unter Aufhebung aller Vorentscheidungen zuerkannt. Dabei hat der Senat sich, um die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu verzögern, auf ein Grundurteil in entsprechender Anwendung des § 130 SGG beschränkt. Die Beklagte wird deshalb noch festzustellen haben, in welchen Beitragsklassen die Klägerin ihr Nachentrichtungsrecht für die einzelnen Zeiträume ausüben kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660907

Breith. 1984, 399

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